Christian Garve's Vertraute Briefe an eine Freundin - 5

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die einige Jahre darauf den Halbbruder ihrer Stiefmutter heyrathete.
Die Frau ***, so heißt diese würdige Frau, hatte von der Natur nicht so
viel vorzügliche Gaben, aber dafür eine gewisse Sanftmuth und Stille
in ihrem Charakter, eine tiefe und mehr durchdringende als lebhafte
Empfindlichkeit, und ein so kindliches, gutes, freundschaftliches Herz
bekommen, daß sie die vertrauteste Freundin und die ehrerbietigste
Tochter ihrer Eltern zugleich war. Ihre Seele war der Seele ihrer
neuen Mutter, oder vielmehr ihrer Schwester (denn so liebten sie sich,
und so ist ihr Betragen gegen einander noch bis auf den heutigen Tag)
nicht ähnlich, aber sie war dazu gemacht, dieselbe auszufüllen, und
mit ihr ein Ganzes auszumachen. Ihr Gemahl, der Frau P**** Bruder,
den sie schon vor drey Jahren durch eine grausame Krankheit verlor,
hatte vielleicht unter allen die wenigsten Talente, aber er besaß
ein so durchaus gutes Herz, er liebte seine Frau und seine Schwester
so innigst, und er räumte ihre Vorzüge über ihn so gern ein, daß man
ihm bloß um seiner Ehrlichkeit willen gut wurde. Und so wie er war,
wurde er auch wieder von seiner Frau, die sonst vielleicht zu einem
scheinbarern Glück Hoffnung gehabt hätte, so geliebt, als wenn er der
vollkommenste aller Männer gewesen wäre. Von diesem ihrem Manne hatte
sie zwey Kinder, einen Sohn und eine Tochter, deren Geburt nun erst
alle Hoffnungen des Großvaters und alle Wünsche der gesammten Familie
erfüllte.
Beyde Familien wohnten in Einem Hause, aßen an demselben Tische,
liebten sich alle unter einander mit einer Zärtlichkeit ohne Beyspiel,
und machten das Bild einer einträchtigen und glücklichen Familie aus.
Wenn die Geschäfte des Tages sie von einander entfernt hatten, so
kamen sie doch gewiß am Abend alle zusammen, ihre lieben Kleinen mit;
und dann genossen sie in einer beneidenswerthen Ruhe alle Freuden des
häuslichen Lebens, die einzige Glückseligkeit des Menschen, wenn anders
Menschen glücklich seyn können. Ihre äußern Umstände störten diesen
Genuß eben so wenig. Ihr Vermögen war weit mehr als hinlänglich, ihrer
Freunde waren viel; -- und wenn es, um ein Gut zu genießen, nothwendig
ist, daß andre wissen, daß wir es haben; so war die allgemeine
Hochachtung für sie eine Bestätigung ihrer Glückseligkeit und ihrer
Verdienste.
Und diese ganze Familie, dieser ganze kleine Kreis von tugendhaften
und glücklichen Freunden, liebe Freundin, ist jetzo nur noch
fähig, Mitleiden zu erregen; -- das ganze Gebäude ihrer häuslichen
Glückseligkeit ist durch eine Reihe auf einander folgender
Unglücksfälle zerstört; jede Wurzel des Vergnügens ausgerottet, und
fast hat selbst die Zukunft für sie nichts mehr als Schrecken. Der
Tod des Herrn B***, der vor drey Jahren zu eben der Zeit erfolgte,
als ich hier meine Mutter besuchte, war der Anfang und gleichsam
die Ankündigung davon. Dieser Tod war so schmerzhaft, und mit so
traurigen Umständen begleitet, daß er auf das Gemüth aller einen sehr
tiefen Eindruck machte -- auf das Gemüth seiner Gattin aber einen
immerwährenden. Diese schon von Natur furchtsame und schüchterne Frau
wurde durch den Verlust ihres Mannes beynahe zu Boden gedrückt. Nur die
Gesellschaft und die Zärtlichkeit ihrer Mutter, der Frau P****, und die
Sorgfalt für die Erziehung der beyden liebenswürdigen Kinder, in denen
sie die Liebe der Mutter und der Gattin vereinigte, nur diese hatten
sie bisher erhalten, und ihr nach und nach den Muth und die Freudigkeit
wiedergegeben, ohne die das Leben eine Last ist.
Eine andere glückliche Begebenheit schien die Freude wieder in dieses
Haus zurückführen zu wollen. Eine Tochter der Frau P****, von einer
erstern Ehe, ihrer Mutter bey weitem nicht gleich, aber doch auch ihrer
nicht ganz unwürdig, heyrathete den Hrn. Z****, der lange Zeit im Felde
Dienste geleistet hatte, ein Liebling der Vornehmsten der Armee und
selbst des Königs gewesen war, und die glücklichsten Aussichten vor
sich hatte. Ein Mann von vielem Verstande, von einer wahrhaft guten
Lebensart, und der, wenn er noch nicht die richtigsten Grundsätze
hatte, doch fähig war, sie anzunehmen. Er war damals ***, und wurde
bald darauf ****, welches eines der ansehnlichsten Aemter in unserm
Lande ist, und unmittelbar auf den geheimen Rath folgt. Dieser Mann
liebte seine Frau, ob sie gleich weder ihm an Gaben gleich, noch seinen
Erwartungen und Wünschen gemäß war. Aber vielleicht liebte er sie noch
mehr um ihrer Mutter als um ihrer selbst willen; und beynahe glaube
ich, daß noch bis auf diese Stunde die Hochachtung, die er für seine
Schwiegermutter hat, die Liebe gegen seine Frau erhält.
Diese Verbindung, die ihrer Familie ein neues so würdiges Glied gab,
wurde kurz darauf die Quelle mehr als eines Jahres voll Kummer
und Angst. Z**** empfand, nachdem er zur Ruhe kam, die Folgen der
Ermüdungen des Krieges. Er fiel in dem ersten Jahre seines Ehestandes
in eine gefährliche Gliederkrankheit, die ihn zuerst mit den
grausamsten Schmerzen angriff, und alle Augenblicke seinen Tod drohte,
bald darauf ihn des völligen Gebrauchs aller seiner Glieder beraubte,
und ihn ganz hülflos der unaufhörlichen Pflege und Wartung seiner
Freunde selbst in seinen kleinsten Bedürfnissen benöthigt machte.
Diese Krankheit ist endlich, nachdem sie sechs Vierteljahre das ganze
Haus in einer beständigen Abwechselung von Furcht und von Betrübniß
erhalten hat, durch eine sehr beschwerliche Kur, und durch den Gebrauch
mannigfaltiger Bäder gehoben worden. Sie wissen, daß er nur erst
neulich mit meinem Onkel im Bade gewesen ist. --
Aber dieses war noch nicht der einzige Kummer. -- Die unglücklichen
Umstände unsers Landes haben die Handlung des Herrn P*** sehr
geschwächt; -- aber noch würden sie ihnen wenig Schaden gethan
haben, wenn sie nicht auch zugleich den Kopf dieses würdigen Alten
geschwächt hätten. Dieser sonst so lebhafte und geschäftige Mann, der
die Thätigkeit selbst war, sich immer herzhaft entschloß und klug
ausführte, dieser versinkt in seinem Alter, von Kummer und Sorgen
niedergedrückt, in eine völlige Unempfindlichkeit. Seine Gemüthskräfte
erlöschen; seine Seele, die durch so viele und starke Eindrücke zu
heftig erschüttert worden, nimmt jetzo gar keine mehr an, oder alle
verlöschen augenblicklich auf dem Grunde, der schon völlig von den
vergangenen Ideen eingenommen ist. So ist er für seine Familie und
seine Freunde schon todt, ob er gleich sich noch unter ihnen bewegt;
und seine Gattin, die sonst von ihm Ansehn und Ehre erhielt, ist jetzo
kaum mit aller ihrer Klugheit und der zärtlichsten Sorgfalt vermögend,
ihn vor der Verachtung der Fremden, und selbst vor der Geringschätzung
seiner Freunde zu schützen. Denken Sie sich nun seine Tochter, die noch
immer dieselbe kindliche, ehrerbietige Zärtlichkeit für ihn hat, und
denken Sie, was es einem Herzen, wie das ihrige, kosten muß, ihn alle
seine schätzbaren Eigenschaften verlieren zu sehn. --
Noch war ein einziger Trost für dieses Haus übrig, aber ein sehr
großer, und der vielen Leiden das Gegengewicht halten konnte; -- der
Trost, zwey hoffnungsvolle und liebenswürdige Kinder in ihrem Schooße
aufwachsen zu sehen, die die Verdienste, und, wenn es möglich wäre, die
ehemalige Glückseligkeit ihrer Eltern erneuerten. -- Und nun liegt das
jüngste davon, ein Knabe von ungefähr acht Jahren, die unschuldigste,
sanftmüthigste, geduldigste Seele, das Bild und der Liebling seiner
Mutter -- und ringt mit dem Tode.
Bey seinem Bette fand ich meine Mutter. Ich bin niemals von einem
Anblicke so gerührt, so durchdrungen worden. Die Krankheit des Kindes
ist die allerschmerzhafteste und grausamste, glaube ich, die ich jemals
gesehn habe: die allerentsetzlichsten Kopfschmerzen, die, wie der Arzt
muthmaßt, aus einer Beschädigung des Gehirns entstehen, und schon vier
Tage und Nächte ohne den geringsten Nachlaß fortdauern. Sie pressen
dem armen liebenswürdigen Knaben, der alles, alles sonst mit der
größesten Gelassenheit erträgt, und selbst jetzo die schmerzhaftesten
Operationen ohne Murren mit sich vornehmen läßt, ein Geschrey aus, das
mir bis in das Innerste der Seele geht. -- O Gott, wer muß der Unmensch
seyn, der die Stimme des Schmerzes ertragen kann, wenn er selbst der
Urheber davon ist! -- Mein Herz wird davon zerrissen! -- Und dann in
dem Augenblicke einer kleinen Linderung ihn mit einer ängstlichen
Zärtlichkeit nach seiner Mutter rufen zu hören, diese vor seinem
Bette knien zu sehen, und dann ihn, wie er seine kleinen Arme um sie
herumschlingt, sie fest an sich drückt, und dann mit einer gewissen
dringenden Heftigkeit sie seiner Liebe versichert, -- dann mitten unter
diesen Liebkosungen, von dem Schmerz überwunden, auf einmal in das
kläglichste Geschrey ausbricht, und das zu ganzen Nächten fortsetzt
-- Gott, kaum kann ich den Gedanken davon ertragen. -- Heute ist der
Schmerz schon Herr über sein Bewußtseyn, und er kennt nicht mehr seine
Mutter. --
Liebste Freundin, werden Sie mir es wohl vergeben, daß ich Sie mit so
traurigen Gegenständen unterhalte? Aber mir wird meine Noth leichter,
wenn ich denke, Sie wissen sie und nehmen daran Theil.
N. S. Zu gleicher Zeit mit dem Ihrigen erhielt ich auch einen sehr
freundschaftlichen Brief von Herrn Weise. Eine kleine Anekdote, die er
mir von Meinhardten erzählt, kann ich Ihnen unmöglich verschweigen.
Bey seiner Abreise von Leipzig fragte ihn der Post-Commissar Gellert:
Ob er nicht einige günstige Aussichten hätte? O ja, sagte er, die
glücklichste Aussicht von der Welt -- die Aussicht auf mein Grab.


Siebenzehnter Brief.

Den 16. September.
Der Kleine, dessen Leiden ich Ihnen schilderte, hat sich gebessert. Er
ist keines menschlichen Leidens mehr fähig. -- Für den tugendhaften
Mann und für den Christen ist der Tod wenig; aber für den Menschen ist
der Schmerz immer etwas sehr Großes. Neulich war mein ganzes Mitleid
für das Kind selbst, jetzo ist es nur noch für seine Mutter. Ich will
Ihnen nicht ihren Schmerz beschreiben, um nicht den Ihrigen rege zu
machen. Sie wissen, was es heißt, Mutter seyn. -- Aber einen andern
Verlust muß ich Ihnen erzählen, der nicht so schmerzhaft, -- aber
doch für uns empfindlich ist; noch dazu einen Verlust, der die ganze
Begierde, zu Ihnen zu kommen, bey mir wieder rege macht, da er mir die
vortrefflichste Gelegenheit dazu verschafft hätte. Denken Sie nur,
ich hätte in Gesellschaft eines Tralles zu Ihnen kommen können, ich
hätte Sie gesehn, Sie hätten einen unsrer besten Freunde gesehn, die
Hochachtung, die ich für meine Freundin habe, hätte sich noch eines
rechtschaffenen Herzens bemeistert, und -- Aber hören Sie erst die
Geschichte.
Tralles als einen Arzt kennen Sie, glaube ich. Aber das müssen Sie
noch wissen, daß er beynahe der würdigste Gelehrte und der beste
Gesellschafter in B**** ist. Diese Titel werden Sie, denke ich, noch
nicht so aufmerksam machen, (welche Eigenliebe!) als wenn ich Ihnen
sage, daß er der älteste Freund unsers Hauses, daß er fast der einzige
recht vertraute Freund meines Onkels ist, -- daß seine erste Frau die
beste und die einzige Freundin war, die meiner Mutter ihr ganzes Herz
besessen hat. Dieser Mann, der neulich nach Warschau als Leibarzt
kommen sollte, und es aus Liebe zu seinen Freunden ausschlug, hat jetzt
einen andern Antrag, der just in einer so unglücklichen Epoque kommen
muß, da sich B**** bey ihm durch einen ansehnlichen Verlust, den er
durch die Betrügerey eines Freundes leidet, verhaßt gemacht hat, daß
er fast geneigt ist, ihn anzunehmen. Die Fürstin von Gotha verlangt
ihn zu ihrem Beystande bey ihrer jetzigen schwachen Gesundheit, --
und wünscht ihn als Leibarzt zu behalten. Er kam eben von einer Reise
wieder, als er einen Brief von dem Gothaischen Hofe fand, wo man ihn
unter den schmeichelhaftesten Hoffnungen, die man einem Menschen geben
kann, einladet, noch diesen Herbst nach Gotha zu kommen, seine Familie
mitzubringen, -- und den Winter dort zu bleiben. Es sollte alsdann von
seiner Wahl und von dem Grade von Zufriedenheit abhängen, den er mit
dem dasigen Aufenthalte, und der Art von Aufnahme, die er erhalten
hätte, haben würde, ob er nach Breßlau zurückkehren oder bey ihnen
sein Leben beschließen würde. Denn er ist schon sechszig Jahr. -- Er
ist nun entschlossen, die Reise zu thun, ob er gleich ihren Erfolg
noch nicht vorhersieht. Seine jetzige Frau wird ihn mit ihrem kleinen
Sohne begleiten. Von zwey Töchtern aus der ersten Ehe ist die eine
verheyrathet, und kann also ihrem Vater nicht folgen, die andre will
zum Beystand ihrer Schwester zurückbleiben.
Dieser D. Tralles nun reist auf den Sonnabend ab, -- und reist
über Leipzig. -- Was würde ich nicht darum gegeben haben, so einen
Gesellschafter zu finden; und wie sehr gütig war nicht seine
Anerbietung. -- Wenn ich mitführe, sagte er, so wollte er wechselsweise
auf dem Kutschersitze fahren, wenn er keinen andern Platz hätte.
Demungeachtet bleibe ich hier, -- verliere einen Freund, den ich noch
hatte, und komme zu denen nicht, die ich entbehrte. --
Ich sinne schon die ganze Zeit, seitdem ich diese Reise weiß, auf
Mittel, den D. Tralles Ihnen oder Ihrem lieben Gatten vorzustellen.
Ich schmeichle mir, Sie würden einen Mann nicht ungern sehen, der
erst vor wenig Tagen aus unserm Hause kommt, der uns alle kennt, der
unser Freund ist, -- und der es verdient, auch der Ihrige zu seyn.
Aber ich gestehe es, ich begreife noch nicht, wie die Sache zu machen
ist. Er bleibt nur einen halben Tag und über Nacht in Leipzig. -- Er
will Gellerten besuchen, an den ich heute schreibe, und bey dem ich
ihn anmelde. -- Er ist ein Anverwandter von ***. Man erwartet ihn in
diesem Hause, und man wird ihn ohne Zweifel dahin ziehn. -- Wo mir
recht ist, so ist diese ***sche Familie nicht eben im Besitz einer sehr
großen Achtung. Ich kenne sie nur vom Parterre aus; aber von da sah
mir die Tochter sehr einfältig und eitel -- ihre Mutter stolz und ein
bischen verbuhlt aus. -- Zum Glück hat Tralles eine Gabe, die uns allen
beyden fehlt, -- sich die Narren ganz gut gefallen zu lassen. Er wird
aus der Gesellschaft der vernünftigsten Leute in die Versammlung der
Thoren übergehn, ohne von seiner guten Laune etwas einzubüßen.
Im Vorbeygehen, -- Sie hätten meine Fehler nicht besser treffen können;
-- fast eben dieselben, die mir meine Mutter so oft vorwirft. Sie
gesteht mir, daß sie noch so ziemlich mit mir zufrieden ist, wenn ich
bey ihr oder bey gewissen Personen bin (und das sind noch dazu sehr
wenig), die mir gefallen; aber daß ich der unerträglichste Mensch
wäre unter einer Gesellschaft, die mir mißfiele. In der That verliere
ich unter Leuten von einer gewissen Art nicht bloß meine Lustigkeit,
sondern auch meinen gesunden Verstand; ich denke nicht mehr, ich
vegetire nur. -- Aber wieder zu unserm Tralles zurück!
Nach dem Plane seiner Reise, den er erst gestern Abend in einer
Gesellschaft entwarf, bey der ich gegenwärtig war, wird er erst auf den
Sonnabend über acht Tage in Leipzig ankommen. Seine Frau und sein Kind
nöthigen ihn, langsamer zu gehen. Bis dahin kann ich Ihnen also noch
einmal schreiben. -- Aber nun meine eigne Rückreise zu Ihnen! --
Meine Mutter mag es Ihnen sagen, ob es mir leicht wird, diese
aufzuschieben. In der That sehne ich mich zuweilen nach einer
einzigen Viertelstunde, die ich mit Ihnen zubringen könnte, -- mit
einer solchen Ungeduld, die im Stande wäre, mich zu Ihnen zu führen,
wenn unsre Begierden uns Kräfte gäben. -- Aber meine Mutter wünscht
meine Gegenwart; sie hält sie zu ihrer Gesundheit auf diesen Winter
für nothwendig; sie thut alles, was sie kann, und sie würde noch
mehr thun, um den Winter hindurch von einer andern Seite meinem
Studiren gewisse Beförderungen zu verschaffen, die ich von der einen
verliere. -- Mein Freund hat seine Gedanken recht aus meiner Seele
herausgenommen, -- eben dieselben Vorstellungen, fast mit eben den
Worten, mit welchen ich sie schon manchmal meiner Mutter gemacht habe.
Bücher, Muße, Lehrer, das würde ich hier vielleicht alles haben, --
aber Freunde, die mich aufmuntern, die mich in einer beständigen
Bewegung erhalten, deren Seele, mit der meinigen gleich gestimmt, jeder
von ihren Gedanken entspräche, und ihnen gleichsam zur Geburt hülfe --
die fehlen mir durchaus.
Meine Mutter sehnt sich bald so sehr nach Ihnen, als ich selbst.
Ihr Brief hatte sie ganz aufgeheitert. O Freundschaft und kindliche
Liebe, deinen geheiligten Banden sey meine ganze Seele gewidmet! -- --
Aber was wäre die Freundschaft ohne Tugend, und was die Tugend ohne
Aufopferungen? u. s. w.


Achtzehnter Brief.

Den 23. September.
Ich werde heute einen langen Brief schreiben, das sehe ich voraus.
Ich habe wenig Zeit dazu, ich werde ihn also geschwind und schlecht
schreiben. Sie werden ihn also nicht lesen können, und ich werde ihn
umsonst geschrieben haben. Aber das schadet nichts. Für die Mühe, die
es mich kostet, einen Brief an Sie zu schreiben, bin ich schon belohnt,
wenn er geschrieben ist. Meine Seele, die sich jeden Tag mit Ihnen,
-- und mit Niemanden lieber beschäftigt, -- heftet sich doch niemals
so ganz, so lange, so ununterbrochen auf meine Freundin, als während
dem ich an sie schreibe. Allen fremden Gedanken, jedem unwillkommenen
Besuche ist in dieser Zeit der Zutritt versagt -- und ich bin so völlig
mit meiner ganzen Seele bey Ihnen, als ich es war, wenn ich des Abends
an Ihrem Fenster (wenn der Mond und die Nachtigall Ihres Nachbars die
ruhige Heiterkeit und die harmonischen, aber simpeln Bewegungen unsrer
Seele abbildeten) der Freundschaft genoß, -- und einen Augenblick
lang, in dem ich die Sorge für die Zukunft und selbst den Wunsch nach
derselben vergaß, sagen konnte: +Nun bin ich glücklich!+
Wenn es Ihnen ganz gleichgültig wäre, daß ich nicht nach Leipzig komme,
-- so wüßte ich nicht, was mir schwerer seyn würde, als der Winter hier
in Breßlau. Die Freundschaft ist, wie ich sehe, auch grausam. Sie will
das Recht, den Freund vergnügt und glücklich zu machen, so ganz allein,
so ausschließungsweise haben, daß er beynahe darüber murrt, wenn er es
ohne sie seyn könnte. Ich habe es immer den Dichtern übel genommen,
wenn sie ihre Verliebten so eigennützig machen, daß sie ihre Geliebte
mit weniger Schmerz sterben, als in den Armen eines Andern leben und
glücklich seyn sehen. -- Aber ich merke nun schon, daß unsre edelsten
Neigungen immer so eigennützig seyn müssen. Die Liebe ist eine
Leidenschaft. Die Freundschaft ist nur eine Gesinnung. Ihre Wirkungen
sind nur in den Graden unterschieden, -- in ihrer Natur eben dieselben.
-- Wenn es einen Menschen gäbe, der Ihnen meine Stelle so vollkommen
ersetzte (verzeihen Sie mir einen Stolz, den Sie mich gelehrt haben),
daß Sie, ohne Wunsch nach meiner Zurückkunft, mich an jedem Orte der
Welt gleich gern sähen: diesem Menschen würde ich nicht gut seyn
können. -- Ich vermehre nun in meinen Gedanken diese Empfindung bis zu
der Stärke, die der Leidenschaft der Liebe proportionirt ist, und ich
sehe es ein, daß der Dichter das menschliche Herz besser versteht, als
der Philosoph; -- und daß, so göttlich Plato auch seyn mag, Shakspeare
doch mehr von der Liebe weiß, als er. Sie haben doch wohl Romeo und
Juillet gesehn? Nun wohl! Glauben Sie nicht, daß Juillet ihren Romeo
lieber vernichtet, als untreu sehen würde? -- Aber davon genug, und
vielleicht schon zu viel, wenn ich es mit dem vergleiche, was ich noch
zu sagen habe.
Tralles, unser guter Tralles, ist mit seiner Frau und seinem Kinde am
Sonnabend fort. -- Aber er hat keinen Brief an Sie mit. Zuerst, weil es
hier sogar gefährlich ist, einem Reisenden andre als offne Briefe, oder
solche, die er öffnen kann, mitzugeben. Ein neues Edikt setzt auf diese
Vervortheilung der Posten mehr als 100 Rthlr. Strafe. Zum zweyten, weil
ich meine Absicht, Sie und den D. Tralles zusammen zu bringen, doch
nicht würde erreicht haben. Er hätte Ihnen den Brief zugeschickt, oder
seine Frau hätte Ihnen Visite gemacht, -- oder Ihr lieber Gatte wäre zu
dem D. Tralles gegangen. -- Kurz, ich sehe nicht, wie Sie eigentlich
mit ihm in Bekanntschaft gekommen wären. Endlich will er nur über Nacht
in Leipzig bleiben. Ich glaube, es wird nichts daraus werden, dem
ungeachtet wollte er doch, -- und nach diesem Entschlusse nahm er hier
seine Maßregeln. Nun hat er Verwandte in Leipzig, wie Sie schon wissen.
Gellert, dem er von vielen Seiten empfohlen ist, wird ihn aufhalten. --
Ludwig ist sein alter Schulfreund und sein Korrespondent. Die Zeit wird
also selbst für seine alten Bekanntschaften zu kurz seyn. -- Und doch
wollte ich -- ich weiß nicht wie viel dafür geben, wenn Sie ihn sähen,
oder Ihr lieber Mann, -- oder wenn er Sie sähe. -- Er wird im blauen
Engel wohnen. -- Schon dachte ich, ob Sie ihn vielleicht über eine
wirkliche oder erdichtete Krankheit von sich oder Ihrem Kinde zu Rathe
ziehen wollten; dieses würde immer für ihn schmeichelhaft, aber doch
ein bischen seltsam seyn. Dann dachte ich wieder, ob Ihr Mann nicht den
Tag zu Gellerten gehn könnte. -- Alles das dachte ich, und doch bin ich
noch nicht auf das gekommen, was mir gefällt und genug thut. -- Der
einzige Trost ist, -- er will auf dem Rückwege (denn zurückkommen wird
er gewiß) länger in Leipzig verweilen, -- und alsdenn bin ich entweder
schon bey Ihnen, oder ich schreibe durch Sie an Tralles. --
Von Kaufleuten, die nach Leipzig gingen (Kaufleute meine ich, nicht
Krämer), weiß ich keinen, als Herrn ****, und der geht noch dazu mit
seiner Frau. Sie sind beyde -- eben nicht Freunde -- aber Bekannte von
uns. Und die Frau ist noch dazu, -- oder war wenigstens als Jungfer
-- eines unsrer schönsten Gesichter. Der Mann ist wohlhabend, und hat
den besten Garten um B***. Für die Meisten ist dies Verdienst genug,
seine Bekanntschaft sehr angelegentlich zu suchen. Für Sie und mich ist
es wenig. Ueberdieß geht er schon morgen ab. Mein Brief also, den ich
heute abschicke, kommt eher an, als er, -- und was brauche ich erst
auf Gelegenheiten zu warten, an Sie zu schreiben, so lange die Posten
richtig gehen?
Sie verlangen von mir mein Tagebuch? -- Nichts in der Welt wünschte ich
mehr, als daß Sie alle meine Handlungen wüßten, meine ganze Aufführung
unter jeden Umständen, bey jeglicher Veranlassung sähen, -- daß Sie die
Aufseherin meines Herzens seyn könnten, und durch Ihren gütigen Beyfall
das Wahre und das Gute bestätigten, -- und durch Ihren liebreichen
Tadel meine Vorurtheile und meine Schwachheiten besiegen hülfen. --
Aber wie kann eine kurze, unvollständige, trockne, oft Ihnen vielleicht
langweilige Erzählung diese Absichten erreichen? -- Dem ungeachtet
sollen Sie so viel wissen, als ich zu sagen vermag. Keinen treuern
Geschichtschreiber sollten Sie je gesehen haben, als ich es von mir
selbst seyn wollte. Nur vergeßlicher, mangelhafter....
Ich weiß nun selbst nicht mehr, was ich mir noch alles für Schimpfnamen
geben wollte. Man rufte mich ab, -- und nun, in den zwey Minuten, die
mir noch übrig sind, habe ich was bessers zu thun, als auf mich zu
schelten.
Meine Lebensart also zuerst, -- wäre noch so ziemlich, wenn ich weniger
faul, weniger zu einer anhaltenden Arbeit ungeschickt, weniger unruhig,
und wegen meiner künftigen Aussichten ein bischen scharfsichtiger
wäre. Ich stehe spät auf, -- ob ich mir es gleich am Abende alle
Mal vornehme, früh aufzustehn. -- Die Theestunde bleibt immer noch
die goldne Stunde des Tages. Ich, meine Mutter und meine Muhme,
ein jedes durch den Schlaf erfrischt, und durch keine Arbeit noch
entkräftet, bringt seine erste noch nicht vernutzte Munterkeit in die
Gesellschaft. Während des Thees lese ich vor. Neulich hatten wir den
Hausvater und den natürlichen Sohn, -- jetzo ist es der Hypochondrist.
Der Schriftsteller wird bewundert, -- und der Vorleser bekommt auch
etwas von dem Dank, oder nimmt sich wenigstens selbst seinen Theil
davon, ohne erst daran erinnert zu werden.
Der übrige Morgen wäre nun dazu, etwas zu arbeiten, -- wenn ich jetzt
oft zum Arbeiten aufgelegt wäre. Wenn ich es bin, so arbeite ich
jetzo für Herrn Weisen, in seiner Bibliothek. Essen und Kaffee ist
wieder die gesellschaftliche Stunde. Ich spiele auf dem Klaviere,
ich liege im Fenster, ich schwatze, ich höre, ich lese vor, eins ums
andre, manchmal alles zugleich, zuweilen nichts von allem. Zwey oder
drey Stunden sind auf die Art leicht hinweg geschwärmt. Sonntags sind
öfter Freunde bey uns, als andre Tage. Den vergangenen machte ich
eine neue Bekanntschaft. Der junge Herr v. **** besuchte mich mit
seinem Schwager, dem H*** ***. Der erste war von seiner Familie zum
Kaufmann bestimmt, von seinen Neigungen zum Studiren; und seine Talente
sind wenigstens nicht wider diese Neigung. Er hat großes Geld, --
schafft sich also eine prächtige Bibliothek, liest viel, hat prächtige
Instrumente und Musikalien, spielt gut auf dem Flügel, und macht seine
Person, die von Natur nicht sonderlich einnehmend ist, durch seine Mühe
und durch seinen Fleiß wenigstens hochachtungswürdig. --
Ordentlicher Weise gehe ich des Abends von fünf Uhr an spatzieren. --
Ganz allein; und welche Gesellschaft könnte mir auch angenehmer seyn,
als die, die ich mir alsdann aus allen vier Gegenden der Welt zusammen
hole? Shakspeare sagt: Die Welt ist nur eine Werkeltagswelt, wo alle
Sachen, gar nicht so, wie wir wünschen, und wie wir es einrichten
würden, sondern ihren gewöhnlichen alltäglichen Lauf kommen, sie mögen
nun dadurch unsern Wünschen in die Queere kommen, oder nicht. -- Um
also diesem Mangel abzuhelfen, schaffe ich mir alsdann auf meine Hand
eine andre, eine Feyertagswelt. In dieser Welt ist Ihr Mann kein
Advokat mehr, seine Arbeiten unterhalten ihn nur, aber sie nehmen ihn
nicht ganz ein, -- er lebt für den Staat nützlich, aber doch immer für
seine Gattin mehr, als für seine Klienten, -- in dieser Welt sind Ihre
Stunden alle heiter, alle voll Hoffnung, daß die künftige Stunde die
gegenwärtige an Glückseligkeit noch übertreffen werde. In dieser Welt
schreibt mein guter Reiz keine Register mehr; endlich in dieser bin ich
bey Ihnen, -- ich bin Ihr Bruder; meine Mutter ist Ihre Mutter, wir
machen alle nur eine Familie aus.
Aber nun muß ich Sie nur schon wieder sicher zu unsrer Welt
zurückbringen. -- Denken Sie nur, ein ganz neuer Auftritt. Heute früh,
eben in dem Augenblicke, da ich Ihren Brief schreiben will, schreibt
der Kriegsrath von Klöber, der ehemalige Hofmeister des ersten Sohns
vom Minister ****, mir einen französischen Brief. -- Der jüngste Sohn
des Ministers soll jetzo nach Halle gehn. -- Er schlägt mir vor,
ich sollte die Stelle als Hofmeister bey ihm annehmen. Zweyhundert
Thaler Gehalt; ein Engagement auf zwey Jahre; Hoffnung zu Reisen,
und die Versicherung befördert zu werden. -- Was meinen Sie, daß ich
gethan habe? Ich mußte noch denselben Morgen antworten. Die Sache war
dringend. Ich schicke Ihnen meine Antwort mit. Leben Sie wohl u. s. w.


Neunzehnter Brief.

Den 30. September.
Nach Ihrem Briefe zu urtheilen, hatten Sie meinen Brief noch nicht
empfangen oder noch nicht gelesen, als Sie den Ihrigen schrieben. In
der That habe ich es mir schon vorgeworfen, daß meine Briefe immer so
lang und so übel geschrieben sind. Ich würde es Ihnen für übel halten,
wenn Sie sich die Mühe nehmen wollten, sie bis ans Ende zu entziffern.
Um es Ihnen also etwas leichter zu machen, und Ihnen doch dabey nicht
ganz unbekannt zu werden, werde ich Ihnen von nun an nichts als
Geschichte schreiben. Bringt der Himmel uns wieder zusammen, so werden
wir Zeit genug haben, Betrachtungen anzustellen. --
Wenn Sie also nun jetzo meinen vorigen Brief gelesen hätten, so wüßten
Sie, daß es noch nicht so ganz gewiß ist, ob ich in Breßlau diesen
Winter bleibe. Herr v. Klöber, bey dem ich gestern wieder gewesen
bin, schreibt heute noch ein Mal an den Minister; und die Antwort,
die wir künftigen Sonntag, erwarten, wird die Sache entscheiden.
-- Klöber hatte, wie er mir sagte, nicht sowohl zur Absicht, mir
selbst diese Hofmeisterstelle vorzuschlagen, als durch mich Jemanden
kennen zu lernen, der dazu tüchtig wäre. -- Er vermuthete, daß ich
schon andre gewissere Aussichten hätte, und daß ich das Reisen zu
einer nothwendigen Bedingung machen würde, das doch bey dem Sohne
des Ministers noch ungewiß wäre. -- Ich sagte ihm, daß der Entschluß
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