Griechischer Frühling - 6

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einem grunderhabenen düsteren Glanze gesättigt ist, immer eine fast
schmerzhafte Spannung, als ob ich mich einem redenden Brunnen, einem
Urbrunnen aller chthonischen Weisheit gleichsam annäherte, der, wiederum
einem Urmunde gleich, unmittelbar aus der Seele der Erde geöffnet sein
würde.
Niemals, außer in Träumen, habe ich Farben gesehen, so wie hier auf dem
Marktplatze von Chryso, in dessen Nähe das alte Krisa zu denken ist. In
diesem Bergstädtchen werden unsere Zugtiere getränkt. In Eimern holt man
das Wasser aus dem nahen städtischen Brunnen, der im vollen, magischen
Licht des Abends sich, aus dem Felsen rauschend, in sein steinernes
Becken stürzt. Hier drängen sich griechische Mädchen, Männer und
Maultiere, während im Schatten des Hauses gegenüber würdige Bauern und
Hirten beim Weine von den Lasten des Tages ausruhen. Alles dieses wirkt
feierlich schattenhaft. Es ist, als bestünde in dem Menschengedränge des
kleinen Platzes die geheiligte Übereinkunft, die innere Sammlung der
delphischen Pilger nicht durch laute Worte zu stören.
Unter den schweigsam Trinkenden, die uns mit Würde beobachten und ganz
ohne Zudringlichkeit, fällt manche edle Erscheinung auf. Von einem
Weißbart vermag ich mein Auge lange nicht abzuwenden. Er ist der
geborene Edelmann. Die Haltung des schlanken Greises, der seine eigene
Schönheit durchaus zu schätzen weiß, ist durchdrungen von einem Anstand,
der eingeboren ist. Aus seinem Antlitz sprechen Güte und Menschlichkeit:
ich sehe in ihm das Gegenbild aller Barbarei. An diesem Hirten legt jede
Wendung des Hauptes, jede gelassene Bewegung des Armes von edler
Herkunft Zeugnis ab: von einer Jahrtausende alten, verfeinerten
Hirtenwürde! denn wo wäre die Freiheit der Haltung, die stolze
Gewohnheit des Selbstgenügens, die Würde des Menschen vor dem Tier,
weniger gestört, als im Hirtenberuf.

Es ist, nachdem wir die Stadt verlassen haben und weiter die steilen
Kehren aufwärts dringen, als sänke sich von allen Seiten, dichter und
dichter, Finsternis über das Geheimnis, dem wir entgegenziehen,
schützend herein. Es ist wie eine Art Unschlüssigkeit in der Natur, als
deren bevorzugtes Kind sich der gläubige Grieche fühlen muß, die sich
mir aber dahin umdeutet, als sollte erst durch die volle Erkenntnis
einengender Finsternis der volle Durst zum Orakelbrunnen erzeugt werden.
Noch immer ist die stehende Wärme auch in der fast völligen Dunkelheit
verbreitet um mich. Der Himmel hat rötlich zuckende Sterne enthüllt,
aber der Blick ist von nun an beengt und eingeschlossen. Die große
Empfindung der Götternähe weicht einer gewissen heimlich schleichenden
Spukhaftigkeit, und so will ich nun auch eine Vorstellung dieser
spukhaften Art aus dem Erlebnis der unvergleichlichen Stunden
festhalten.
Mehrmals und immer wieder kam es mir vor, als stiege der Schatten eines
einzelnen Mannes mit uns nach dem gleichen Ziele hinan, und zwar auf
einem Fußsteige immer die Kehren der großen Straße abschneidend. Kamen
wir bis an die Kreuzungsstelle heran, so schien es, als sei er schon
vorüber, oder er war zurückgeblieben und stieg weit unten, schattenhaft
über die Böschung der tieferen Straßenschlinge herauf. Auch jetzt
unterliege ich wieder dem Zwang dieser Vorstellung.
Es ist unumgänglich, daß ein bis ins tiefste religiös erregter,
christlich erzogener Mensch, auch wenn er das innere Auge abwendet,
gleichsam mittels des peripherischen Sehens doch immer auf die Gestalt
des Heilands treffen muß: und dies war mir und ist mir noch jetzt jener
Schatten. Etwas wie Unruhe, etwas wie Hast und Besorgnis scheint ihn den
gleichen Weg zu treiben, und etwas, wie der gleiche, immer noch
ungestillte Durst.
Und ist nicht auch er wiederum ein Hirt? Sah er sich selbst nicht am
liebsten unter dem Bilde des Hirten? Sehen ihn nicht die Völker als
Hirten? Und verehren ihn nicht die prunkhaften Hohenpriester von heut,
mit dem Symbole des Hirtenstabes in der Hand, als göttlichen Hirten, als
Hirtengott?

Heut, am frühen Morgen aus meiner Herberge tretend, befinde ich mich auf
der sonnigen Dorfstraße eines alpinen Dörfchens. Wenn ich die Straße
nach rechts entlang blicke, wo sie, nach mäßiger Steigung, in einiger
Ferne abbricht oder in den weißlichen, heißen und wolkenlosen Himmel
auszulaufen scheint, so bemerke ich die Spitze eines entfernteren
Schneeberges, der sie überragt.
Die Straße läuft meist dicht am Abhang hin. Von ihrem Rande ermesse ich
die gewaltige Tiefe eines schluchtartigen Tales, mit steilen Felswänden
gegenüber. Die grauen Steinmassen sind durch Thymiansträucher dunkel
gefleckt.
Der Grund der Schlucht scheint ein Bachbett zu sein, und wie sich Wasser
von seiner hochgelegenen Quelle herniederwindet, bis es am Ende der
verbreiterten Schlucht in den weiten See eines größeren Tales tritt,
ergießen sich hier, gleichsam wie Wogen aus dunklem Silber,
Olivenwaldungen in die Tiefe, wo sie die Fülle des ölreichen Tales von
Krisa aufnimmt.
Es ist eine durchaus nur schlichte und ganz gesunde alpine Wonne, die
mich erfüllt, jener Zustand des bergluftseligen Müßigganges, in dem man
so gern das Morgenidyll dörflichen Lebens beobachtet.
Hähne und Tauben machen das übliche Morgenkonzert. Es wird in der Nähe
ein Pferd gestriegelt. Beladene Maultiere trappen vorüber. Alles ist von
jener erfrischenden Nüchternheit, die wiederum die gesunde Poesie des
Morgens ist.
Kastri heißt das Dorf, in dem wir sind und genächtigt haben. Einige
Schritte auf der mit grellstem Lichte blendenden Landstraße um einen
Felsenvorsprung herum, und der heilige Tempelbezirk von Delphi soll sich
enthüllen.
In diesem Felsenvorsprung, den wir nun erreichen, sind die offenen
Höhlen ehemaliger Felsgräber. Nahe dabei haben Wäscherinnen ihren Kessel
über ein aromatisches Thymianfeuer gestellt, das uns mit Schwaden
erquickenden Weihrauchs umquillt. Schwalben schrillen an uns vorüber,
Fliegen summen, irgendwoher dringt das Hungergeschrei junger Nestvögel,
und die Sonne scheint, triumphierend gleichsam, bis in die letzten
Winkel der leeren Gräber hinein.
Eine zahlreiche Herde schöner Schafe begegnet uns, und minutenlang
umgibt uns das freudige Älplergeräusch ihrer Glocken. Ich beobachte eine
dicke Glockenform mit tiefem Klang, von der man sagt, daß sie antikem
Vorbild entspreche. Inmitten der Herde bewegt sich der dienende Hirt und
ein herrenhaft-heiter wandelnder Mann in der knappen, vorwiegend blauen
Tracht der Landleute.
Dieser Mann erscheint zugleich jung und alt: insofern jung, als er
schlank und elastisch ist, insofern alt, als ein breiter, vollkommen
weißer Bart sein Gesicht umrahmt. Doch es ist die Jugend, die in diesem
Manne triumphiert: das beweist sein schalkhaft blitzendes Auge, beweist
der freie, übermütige Anstand der ganzen Persönlichkeit, eine Art
behaglich fröhlichen Stolzes, der weiß, daß er unwiderstehlich
fasziniert.
Als Staub und Geläut uns am stärksten umgeben, bemerken wir, wie dieser
schöne und glückliche Mann, der übrigens seine Jagdbüchse über der
Schulter trägt, den langen Stab aus der Hand seines Hirten nimmt. Gleich
darauf tritt er uns entgegen und bietet uns, wirklich aus heiterem
Himmel, eben denselben Stab als Gastgeschenk.

Die Wendung des Weges ist erreicht. Die Straße zieht sich in einem
weiten Bogen eng unter mächtigen roten Felswänden hin, und der erste
Blick in dieses schluchtartige, delphische Tal sucht vergeblich nach
einer geeigneten Stätte für menschliche Ansiedelung. Von den roten,
senkrecht starrenden Riesenmauern der Phädriaden ist ein Böschungsgebiet
abgebröckelt, das steil und scheinbar unzugänglich über uns liegt.
Überall in den Alpen trifft man ähnliche Schutt- und Geröllhalden, auf
denen man, ebenso wie hier, höchstens weidende Ziegen klettern sieht.
Selten bemerkt man dort, etwa in Gestalt einer besonders ärmlichen
Hütte, Spuren menschlicher Ansiedelung, während hier der
unwahrscheinliche Baugrund für ein Gewirr von Tempeln, tempelartigen
Schatzhäusern, von Priesterwohnungen, von Theater und Stadion, sowie von
zahllosen Bildern aus Stein und Erz zu denken ist.
Wir schreiten die weiße Straße langsam fort. Wir scheuchen eine
anderthalb Fuß lange, grüne Eidechse, die den Weg, ein Wölkchen Staub
vor uns aufregend, überquert. Ein Esel, klein, mit einem Berge von
Ginster bepackt, begegnet uns: es heißt, daß die Bauern aus Ginster
Körbe zur Aufbewahrung für Käse flechten. Ein Maultier schleppt eine
Last von bunten Decken gegen Kastri heran, begleitet von einer
Handelsfrau, die während des Gehens nicht unterläßt, von dem Wocken aus
Ziegenhaar fleißig denselben Faden zu spinnen, aus dem jene Decken
gewoben sind.
Immer die steile Böschung des delphischen Tempelbezirks vor Augen,
drängt sich mir der Gedanke auf, daß alle die einstigen Priester des
Apoll sowohl als die des Dionysos, alle diese Tempel, Theater und
Schatzhäuser von ehemals, alle diese zahllosen Säulen und Statuen den
Ziegen und einer gewissen Ziegenhirtin gefolgt und nachgeklettert sind.
Das Hirtenleben ist in den meisten Fällen ein Leben der Einsamkeit. Es
begünstigt also alle Kräfte visionärer Träumerei. Ruhe der äußeren Sinne
und Müßiggang erzeugen die Welt der Einbildung, und es würde auch heut
nicht schwer halten, etwa in den Irrenhäusern der Schweiz ländliche
Mädchen zu finden, die, befangen in einem religiösen Wahn, von ähnlichen
Dingen überzeugt sind, von ähnlichen Dingen »mit rasendem Munde«
sprechen, als die erste Seherin, die Sibylle oder ihre Nachfolgerin zu
Delphi, tat. Diese hielten sich etwa für die angetraute Gattin Apolls,
oder für seine Schwester, oder erklärten sich für Töchter von ihm.
Wir klettern die steile Straße innerhalb des Tempelbezirkes empor.
Überall zwischen den Fundamenten ehemaliger Tempel, Schatzhäuser, Altäre
und Statuen blüht die Kamille in großen Büschen, ebenso wie in Eleusis
und auf der Akropolis. Die Steine der alten und steilen Straße sind
glatt, und mit Mühe nur dringen wir, ohne rückwärts zu gleiten, hinan.
Nicht weit von dem Felsenvorsprung, den man den Stein der Sibylle nennt,
ruhe ich aus. In heiß duftenden Büscheln der Kamille, zwischen die ich
mich niedergelassen habe, tönt ununterbrochen Bienengesumm. Wer möchte
an dieser Stelle mit Fug behaupten wollen, daß ihm die ungeheure
Vergangenheit dieser steilen Felslehne in allem Besonderen gegenwärtig
sei. Der chthonische Quell, jene, verwirrende Dämpfe ausströmende
Felsspalte, die Corethas entdeckte, quillt, wie es heißt, nicht mehr,
und schon zur Zeit des großen Periegeten hatten die Dämonen das Orakel
verlassen. Werden sie jemals wiederkehren? Und wird, wie es heißt, wenn
sie wiederkehren, das Orakel gleich einem lange ungenutzten Instrument
göttlichen Ausdrucks aufs neue erschallen?
Die architektonischen Trümmer umher erregen mir einstweilen nur geringe
Aufmerksamkeit. Die Kunst inmitten dieser gewaltigen Felsmassen hatte
wohl immer, nur im Vergleich mit ihnen, Pygmäencharakter. Durchaus
überragend in wilder, unbeirrbarer Majestät bleibt hier die Natur, und
wenn sie auch mit Langmut oder auf Göttergebot die Siedelungen der
menschlichen Ameise duldet, die sich, nicht ohne Verwegenheit, hier
einnistete, so bleibt die Gewalt ihrer Ruhe, die Gewalt ihrer Sprache,
die überragende Macht ihres Daseins, das unter allem, hinter allem, über
und in allem Gegenwärtige.
Man denkt an Apoll, man denkt an Dionysos, aber an ihre Bilder aus Stein
und Erz denkt man in dieser Umgebung nicht: eher wiederum an gewisse
Idole, die uralten Holzbilder, deren keines leider auf uns gekommen ist.
Man sieht die Götter da und dort, leuchtend, unmaterialisch, visionär,
hauptsächlich aber empfindet man sie in der Kraft ihrer Wirkungen. Hier
bleiben die Götter das, was unsichtbar gegenwärtig ist: und so bevölkern
sie, bevölkern unsichtbare Dämonen die Natur.
Ist wirklich der chthonische Quell versiegt? Haben die Dämonen wirklich
die Orakel verlassen? Sind gar die meisten von ihnen tot, wie es heißt,
daß der große Pan gestorben ist? Und ist wirklich der große Pan
gestorben?
Ich glaube, daß eher jeder andere Quell des vorchristlichen Lebensalters
verschüttet ist als der pythische und glaube, daß der große Pan nicht
gestorben ist: nicht aus Schwäche des Alters und ebensowenig unter den
jahrtausendelangen Verfluchungen einer christlichen Klerisei. Und hier,
zwischen diesen sonnebeschienenen Trümmern, ist mir das ganze
totgeglaubte Mysterium, sind mir Dämonen und Götter samt dem totgesagten
Pan gegenwärtig.
Noch heut sind unter den »vielen Strömen, die unsere Erde nach oben
sendet«, viele, die in den Seelen der Menschen eine Verwirrung und
Begeisterung hervorrufen, wie in dem Hirten Corethas jener, der in
Delphi zutage trat, auch wenn wir dieser Begeisterung wenig achten und
die tiefen Weihen nicht mehr allgemein machen wollen, die mit dem
heiligen Rausch verbunden sind.
Dieser Parnaß und diese seine roten Schluchten sind Quellgebiet:
Quellgebiet natürlicher Wasserströme und Quellgebiet jenes
unversiegbaren, silbernen Stromes der Griechenseele, wie er durch die
Jahrtausende fließt. Es ist ein anderer Reiz und Geist, der die Quellen,
ein anderer, der den Lasten und Wimpel tragenden Strom umgibt. Seltsam,
wie der Ursprung des Stromes und seine Wiege dem urewig Alten am
nächsten ist: das ewig Alte der ewigen Jugend. Man kann solche
Quellgebiete nicht einmal mit Fug allein griechisch nennen, denn sie
sind meist, im Gegensatz zu den Strömen, die sie nähren, namenlos.
Gegenüber, jenseit des Taleinschnitts, tönen von der Felswand, dem Ruf
des Hornes von Uri nicht unähnlich, gewaltige Laute eines Dudelsacks,
hervorgerufen von Hirten, die unerkennbar mit ihren Ziegen in den Felsen
umhersteigen. Diese gesegneten Quellgebiete waren und sind noch heute
von Hirten umwohnt. Platon nennt die Seele einen Baum, dessen Wurzeln im
Haupte des Menschen sind und der von dort aus mit Stamm, Ästen und
Blättern sich in das Bereich des Himmels ausdehnt. Ich betrachte die
Welt der Sinne als einen Teil der Seele und zugleich ihr Wurzelgebiet,
und verlege in das menschliche Hirn einen metaphysischen Keim, aus dem
dann der Baum des Himmels mit Stamm, Ästen, Blättern, Blüten und
Früchten empordringt.
Nun scheint es mir, daß die Sinne des Jägers, die Sinne des Hirten, die
Sinne des Jägerhirten, sagen wir, die feinsten und edelsten Wurzeln sind
und daß ein Hirten- und Jägerleben auf Berghöhen der reichste Boden für
solche Wurzeln, und also die beste Ernährung für den metaphysischen Keim
im Menschen ist.

Zwischen den Trümmern des steilen Tempelbezirks von Delphi
umherzusteigen, erfordert einige Mühe und Anstrengung. Am höchsten von
allen Baulichkeiten lag wohl das Stadion; ein wenig tiefer, doch mit
seinen obersten Sitzen an die unzugängliche Felswand stoßend, ist das
Theater dem Felsgrunde abgetrotzt.
Der Eindruck der natürlichen Szenerie, die es umgibt, ist drohend und
großartig. Ich empfinde eine Art beengender Bangigkeit in dieser
übergewaltigen Nähe der Natur, dieser geharnischten, roten
Felsbastionen, die den furchtbarsten Ernst blutiger Schauspiele von den
Menschen zu fordern scheinen.
In das Innere dieser Felsmassen scheint übrigens ein dämonisches Leben
hineingebannt. Sie wiederholen, in die tiefe Stille über den rötlichen
Sitzreihen, die Stimmen unsichtbarer Kinder weit unten im Tal, sie
lassen gespenstige Herdenglocken, wie in einem hallenden Saale, durch
sich hin läuten und geben die klangvolle Stimme des fernen Hirten aus
der Nähe und geläutert zurück. Aus ihrem Inneren dringt Hundegebell, und
ein fernes und schwaches Dröhnen, aus dem Tale von Krisa her, erregt in
ihr einen klangvoll breiten, feierlich musikalischen Widerhall.
Das ununterbrochene, mitten im heißen Lichte des Mittags gleichsam
nächtliche Rauschen der kastalischen Wasser dringt aus der Schlucht der
Phädriaden herauf.
Die Götter waren grausame Zuschauer. Unter den Schauspielen, die man zu
ihrer Ehre darstellte -- man spielte für Götter und vor Göttern, und die
griechischen Zuschauer auf den Sitzreihen trieben, mit schaudernder
Seele gegenwärtig, Gottesdienst! -- unter den Schauspielen, sage ich,
waren die, die von Blute trieften, den Göttern vor allen anderen heilig
und angenehm. Wenn zu Beginn der großen Opferhandlung, die das
Schauspiel der Griechen ist, das schwarze Blut des Bocks in die
Opfergefäße schoß, so wurde dadurch das spätere höhere, wenn auch nur
scheinbare Menschenopfer nur vorbereitet: das Menschenopfer, das die
blutige Wurzel der Tragödie ist.
Blutdunst stieg von der Bühne, von der Orchestra in den brausenden
Krater der schaudernden Menge und über sie in die olympischen Reihen
blutlüsterner Götterschemen hinauf.
Anders wie im Theater von Athen, tiefer und grausamer und mit größerer
Macht, offenbart sich hier, in der felsigten Pytho, unter der Glut des
Tagesgestirns, das Tragische, und zwar als die schaudernde Anerkennung
unabirrbarer Blutbeschlüsse der Schicksalsmächte: keine wahre Tragödie
ohne den Mord, der zugleich wieder jene Schuld des Lebens ist, ohne die
sich das Leben nicht fortsetzt, ja, der zugleich immer Schuld und Sühne
ist.
Gleich einem zweiten Corethas brechen mir überall in dem großen
parnassischen Seelengebiet -- und so auch in der Tiefe des roten
Steinkraters, darin ich mich eben befinde! -- neue chthonische Quellen
auf. Es sind jene Urbrunnen, deren Zuflüsse unerschöpflich sind und die
noch heute die Seelen der Menschen mit Leben speisen: derjenige aber
unter ihnen, der dem inneren Auge der Seele und gleicherweise dem
leiblichen Auge vor allen anderen sichtbar und mystisch ist, bleibt
immer der springende Brunnen des Bluts.
Ich fühle sehr wohl, welche Gefahren auf den Pilger in solchen
parnassischen Brunnengebieten lauern, und vergesse nicht, daß die Dünste
aller chthonischen Quellen von einem furchtbaren Wahnsinn schwanger
sind. Oft treten sie über dünnen Schichten mürben Grundes ans
Tageslicht, unter denen glühende Abgründe lauern. Der Tanz der Musen auf
den parnassischen Gipfeln geschah, da sie Göttinnen waren, mit leichten,
die Erde nicht belastenden Füßen: das ihnen Verbürgte nimmt uns die
Schwere des Körpers, die Schwere des Menschenschicksals nicht.
Auch aus der Tiefe des Blutbrunnens unter mir stieg dumpfer, betäubender
Wahnsinn auf. Indem man die grausame Forderung des sonst wohltätigen
Gottes im Bocksopfer sinnbildlich darstellte, und im darauffolgenden,
höheren Sinnbild gotterfüllter dramatischer Kunst, gaben die Felsen den
furchtbaren Schrei des Menschenopfers unter der Hand des Rächers, den
dumpfen Fall der rächenden Axt, die Chorklänge der Angst, der Drohung,
der schrecklichen Bangigkeit, der wilden Verzweiflung und des jubelnden
Bluttriumphes zurück.
Es kann nicht geleugnet werden, Tragödie heißt: Feindschaft, Verfolgung,
Haß und Liebe als Lebenswut! Tragödie heißt: Angst, Not, Gefahr, Pein,
Qual, Marter, heißt Tücke, Verbrechen, Niedertracht, heißt Mord,
Blutgier, Blutschande, Schlächterei -- wobei die Blutschande nur
gewaltsam in das Bereich des Grausens gesteigert ist. Eine wahre
Tragödie sehen hieß, beinahe zu Stein erstarrt, das Angesicht der Medusa
erblicken, es hieß das Entsetzen vorwegnehmen, wie es das Leben heimlich
immer, selbst für den Günstling des Glücks, in Bereitschaft hat. Der
Schrecken herrschte in diesem offenen Theaterraum, und wenn ich bedenke,
wie Musik das Wesen einfacher Worte, irgend eines Liedes, erregend
erschließt, so fühle ich bei dem Gedanken an die begleitenden Tänze und
Klänge der Chöre zu dieser Mordhandlung eisige Schauder im Gebein. Ich
stelle mir vor, daß aus dem vieltausendköpfigen Griechengewimmel dieses
Halbtrichters zuweilen ein einziger, furchtbarer Hilfeschrei der Furcht,
der Angst, des Entsetzens, gräßlich betäubend zum Himmel der Götter
aufsteigen mußte, damit der grausamste Druck, die grausamste Spannung
sich nicht in unrettbaren Wahnsinn überschlug.

Man muß es sich eingestehen, das ganze Bereich eines Tempelbezirks, und
so auch diese delphische Böschung, ist blutgetränkt. An vielen Altären
vollzog sich vor dem versammelten Volk die heilige Schlächterei. Die
Priester waren vollkommene Schlächter, und das Röcheln sterbender
Opfertiere war ihnen die gewöhnlichste und ganz vertraute Musik. Die
Jammertöne der Schlachtopfer machten die Luft erzittern und weckten das
Echo zwischen den Tempeln und um die Statuen her: sie drangen bis ins
Innere der Schatzhäuser und in die Gespräche der Philosophen hinein.
Der Qualm der Altäre, auf denen die Ziege, das Schaf mit der Wolle
verbrannt wurde, wirbelte quellend an den roten Felsen hinauf, und ich
stelle mir vor, daß dieser Qualm, sich zerteilend, das Tal überdeckte
und so die Sonne verfinsterte. Der Opferpriester, mit Blut besudelt, der
einem Zyklopen gleich das geschlachtete Tier zerstückte und ihm das Herz
aus dem Leibe riß, war dem Volk ein gewöhnlicher Anblick. Er umgoß den
ganzen Altar mit Blut. Diese ganze Schlachthausromantik in solchen
heiligen Bezirken ist schrecklich und widerlich, und doch ist es immer
vor allem der süßliche Dampf des Bluts, der die Fliegen, die Götter des
Himmels, die Menge der Menschen, ja sogar die Schatten des Hades
anzieht.
In alledem verrät sich mir wiederum der Hirtenursprung der Götter, ihrer
Priester und ihres Gottesdienstes, denn das Blutmysterium mußte sich den
Jägerhirten zuerst aufschließen und dem Hirten mehr als dem Jäger in
ihm, wenn er, friedlich, friedlich von ihm gehütete, zahme Tiere
abschlachtete, zuerst das Grausen und hernach den festlichen Schmaus
genoß.

Wir sind den steilen Abhang des delphischen Tempelbezirks bis an den
obersten Rand emporgeklommen. Ich bin erstaunt, hier, wo aus dem
scheinbar Unzugänglichen die rote unzugängliche Felswand sich erhebt,
auf eine schöne, eingeschlossene Fläche zu stoßen, hier oben, gleichsam
in der Gegend der Adlernester, zwischen Felsenklippen, auf ein Stadion.
Es ist still. Es ist vollkommen still und einsam hier. Das schöne Oblong
der Rennbahn, eingeschlossen von den roten Steinen der Sitzreihen, ist
mit zarten Gräsern bedeckt. Inmitten dieser verlassenen Wiese hat sich
eine Regenlache gebildet, darin man die roten Umfassungsmauern des
Felsendomes, mit vielen gelben Blumenbüscheln widergespiegelt sieht.
Ist nicht das Stadion dann am schönsten, wenn der Lärm der Ringer und
Renner, wenn die Menge der Zuschauer es verlassen hat? Ich glaube, daß
der göttliche Priester Apolls, Plutarch, oft, wie ich jetzt, im leeren
Stadion der einzige Zuschauer war und den Gesichten und Stimmen der
Stille lauschte.
Es sind Gesichte von Jugend und Glanz, Gesichte der Kraft, Kühnheit und
Ehrbegier, es sind Stimmen gottbegeisterter Sänger, die unter sich
wetteifernd den Sieger oder den Gott preisen. Es ist der herrlichste
Teil der griechischen Phantasmagorie, die hier für den nicht erloschen
ist, der gekommen ist, Gesichte zu sehen und Stimmen zu hören.
Die schrecklichen Dünste des Blutbrunnens drangen nicht bis in dieses
Bereich, ebensowenig das Todesröcheln der Menschen- und Tieropfer. Hier
herrschte das Lachen, hier herrschte die freie, von Erdenschwere
befreite, kraftvolle Heiterkeit.
Nur im Stadion, und ganz besonders in dem zu Delphi, das über allen
Tempeln und allen Altären des Götterbezirks erhaben ist, atmet man jene
leichte, reine und himmlische Luft, die unseren Heroen die Brust mit
Begeisterung füllte. Der Schrei und Ruf, der von hier aus über die Welt
erscholl, war weder der Ruf des Hirten, der seine Herde lockt, noch war
es der wilde Jagdruf des Jägers: es war weder ein Racheschrei noch ein
Todesschrei, sondern es war der wild glückselige Schrei und
Begeisterungsruf des Lebens.
Mit diesem göttlichen Siegesruf der lebendigen Menschenbrust begrüßte
der Grieche den Griechen über die Fjorde und Fjelle seines herrlichen
Berglands hinweg, dieses Jauchzen erscholl von Spielplatz zu Spielplatz:
von Delphi hinüber nach Korinth, von Korinth nach Argos, von Argos bis
Sparta, von Sparta hinüber nach Olympia, von dort gen Athen und
umgekehrt.
Ich glaube, nur vom Stadion aus erschließt sich die Griechenseele in
alledem, was ihr edelster Ruhm und Reichtum ist; von hier aus gesehen,
entwickelt sie ihre reinsten Tugenden. Was wäre die Welt des Griechen
ohne friedlichen Wettkampf und Stadion? Was ohne olympischen Ölzweig und
Siegerbinde? eben das gleiche erdgebundene Chaos brütender, ringender
und quellender Mächte, wie es auch andere Völker darstellen.
Es wird mir nicht leicht, diesen schwebenden und versteckten Spielplatz
zwischen parnassischen Klippen zu verlassen, der so wundervoll einsam
und wie für Meditationen geschaffen ist. Hier findet sich der sinnende
Geist gleichsam in einen nährenden Glanz versenkt, und der Reichtum
dessen, was in ihn strömt, kann in seiner Überfülle kaum bewahrt und
behalten sein.
Man müßte vom Spiel reden. Man müßte das eigene Denken der Kinder- und
Jünglingsjahre heraufrufen und jener Wegeswendung sich erinnern, wo man
in eine mißmutige und freudlose Welt einzubiegen gezwungen war, die das
Spiel, die höchste Gabe der Götter, verpönt. Man könnte hervorheben, daß
bei uns mehr Kinder gemordet werden, als jemals in irgendeinem Bethlehem
von irgendeinem Herodes gemordet worden sind: denn man läßt nie das Kind
bei uns groß werden, man tötet das Kind im Kinde schon, geschweige, daß
man es im Jüngling und Manne leben ließe.
Nackt wurde der Sieger, der Athlet oder Läufer dargestellt, und ehe
Praxiteles, ehe Skopas seine Statuen bildete, entstanden ihre Urbilder
hier im Stadion. Hier ist für die Schönheit und den Adel der
griechischen Seele, für Schönheit und Adel des Körpers der Muttergrund.
Hier wurde das schon Geschaffene umgeschaffen, das Umgeschaffene zum
ewigen Beispiel und auch als Ansporn für höhere Artung in Erz oder
Marmor dargestellt. Hier hatte die Bildung ihre Bildstätte, wenn anders
Bildung das Werk eines Bildners ist.
Wer je sein Ohr an die Wände jener Werkstatt gelegt hat, deren Meister
den Namen Goethe trug, der wird erkennen, daß nicht nur Wagner, der
Famulus, den Menschen mit Göttersinn und Menschenhand zu bilden und
hervorzurufen versuchte: alles Sinnen, Grübeln, Wirken, Dichten und
Trachten des Meisters war eben demselben Endzweck rastlos untertan. Und
wer nicht in jedweder Bildung seines Geistes und seiner Hände das
glühende Ringen nach Inkarnation des neuen und höheren Menschen spürt,
der hat den Magier nicht verstanden.
Es ist bekannt, wie gewissen griechischen Weisen, und so dem Lykurg!
Bildung ein Bilden im lebendigen Fleische, nicht animalisch unbewußt,
sondern bewußt »mit Göttersinn und Menschenhand« bedeutete. Was wäre ein
Arzt, der seine Kranken bekleidet sieht, und was ein Erzieher, dem jener
Leib samt dem Geiste, dem er höhere Bildung zu geben beabsichtigt, nicht
nackt vor der Seele stünde? Aus dem Grunde der Stadien sproßten, nackt,
die athletischen Stämme einer göttlichen Saat des Geistes hervor. Und
hier, auf dem Boden des delphischen Stadions, gebrauche ich nun zum
ersten Male in diesen Aufzeichnungen das Wort Kultur: nämlich als eine
fleischliche Bildung zu kraftvoll gefestigter, heiterer, heldenhaft
freier Menschlichkeit.

Zwei Vögel, unsern Zeisigen ähnlich, stürzen sich plötzlich aus irgend
einem Schlupfloch der Felsen quirlend herab und löschen den Durst aus
dem Spiegel der Lache vor mir im Stadion. Ihr piepsendes Spiel weckt
Widerhall, und das winzige Leben, der sorglose, dünne Lärm der kleinen
Geschöpfe, die niemand stört, offenbaren erst gleichsam das Schicksal
dieser Stätte in seiner ganzen Verwunschenheit.
Während ich auf die grüne Erde hinstarre und der Füße jener zahllosen
Läufer und Kämpfer gedenke, aller jener göttergleichen, jugendlich
kraftvoll schönen Hellenen, die sie erdröhnen machten, vernehme ich
wiederum aus den Felsen den gewaltigen Widerhall von Geräuschen, die mir
verborgen sind. Aus irgend einem Grunde erhebe ich mich, rufe laut und
erhalte ein sechsfaches mächtiges Echo: sechsfach schallt der Name des
delphischen Gottes, des Python-Besiegers, aus dem Inneren der Berge
zurück.
Ich bin allein. Die dämonische Antwort der alten parnassischen Wände hat
bewirkt, daß mich die Kraft der Vergangenheit mit ihren triumphierenden
Gegenwarts-Schauern durchdringt und erfaßt und daß ich etwas wie ein Bad
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