Griechischer Frühling - 8

Total number of words is 4158
Total number of unique words is 1755
32.4 of words are in the 2000 most common words
43.6 of words are in the 5000 most common words
49.8 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Hier noch wurde er aber von dem allmächtigen Vater mit rücksichtsloser
Strenge verfolgt, dann wieder mit leidenschaftlicher Vaterliebe; doch
weder Härte noch Zärtlichkeit vermochten den qualvollen Trotz der
vergifteten Liebe abzuschwächen.
Die Tat des Periander wurde mit dem Schicksale dieses Lykophron zum
Doppelmord: zum Morde der Gattin und des Sohnes. Und hierin liegt die
Eigenart der Tragik, die in der Brust Perianders wütete, daß er einen
geliebten und bewunderten Sohn, das köstlichste Gut seines späteren
Lebens, plötzlich und unerwartet durch den Fluch seiner häßlichen Tat
vernichtet fand. Damit war ihm vielleicht der einzige Zustrom seines
Gemütes abgeschnitten und das Herz des alternden Mannes ward von dem
Grauen der großen Leere, der großen Öde umschränkt.
Ich bin überzeugt, daß tiefe Zwiste unter nahen Verwandten unter die
grauenvollsten Phänomene der menschlichen Psyche zu rechnen sind. In
solchen Kämpfen kann es geschehen, daß glühende Zuneigung und glühender
Haß parallel laufen -- daß Liebe und Haß in jedem der Kämpfenden
gleichzeitig und von gleicher Stärke sind: das bedingt die ausgesuchten
Qualen und die Endlosigkeit solcher Gegensätze. Liebe verewigt sie, Haß
allein würde sie schnell zum Austrag bringen. Was könnte im übrigen
furchtbarer sein, als es die Fremdheit derer, die sich kennen, ist?
Periander sendete Boten an das Totenorakel am Acheron, um irgendeine
Frage, die ihn quälte, durch den Schatten Melissens beantwortet zu
sehen. Melissa dagegen beklagte sich, statt Antwort zu geben und
erklärte, sie friere, denn man habe bei der Bestattung ihre Kleider
nicht mit verbrannt.
Als die Boten heimkehrten, hierher nach Korinth, konnte Periander nicht
daran zweifeln, daß wirklich der Schatten Melissens zu ihnen geredet
hatte, denn sie brachten in rätselhaften Worten die Andeutung eines
Geheimnisses, dessen einziger Hüter Periander zu sein glaubte.
Durch dieses Geheimnis wurde ein perverses Verbrechen des Gatten
verdeckt, der seine Gattin nicht allein getötet, sondern noch im
Leichnam mißbraucht hatte: eine finstere Tat, die das schreckliche Wesen
des Tyrannen gleichsam mit einem höllischen Strahle der Liebe verklärt.
Er ließ nun in einem Anfall schwerer Gewissensangst die Weiber Korinths,
wie zum Fest in den Tempel der Hera berufen. Dort rissen seine
Landsknechte ihnen gewaltsam Zierat und Festkleider ab und diese wurden
zu Ehren Melissens, und um ihren Schatten zu versöhnen, in später
Totenfeier verbrannt.
Periander, Melissa, Lykophron. Es hat immer wieder, während beinahe
dreier Jahrzehnte, Tage gegeben, wo ich diese Namen lebendig in mir, ja
oft auf der Zunge trug. Sie waren es auch, die, Sehnsucht erweckend, vor
mir her schwebten, als ich das erstemal den Anker gehoben hatte, um
hierher zu ziehen. Auch während der kleinen Schiffsreise jüngst, durch
den Golf von Korinth, hat mein Mund zuweilen diese drei Namen lautlos
geformt, nicht minder oft auf der Fahrt nach Akrokorinth. Und hier, im
fröstelnden Schauder heftiger Windstöße, auf dem gespenstischen Gipfel
des Burgfelsens, habe ich im kraftlosen Licht einer bleichen Sonne, die
unterging, die fröstelnden Schatten Perianders, Melissens und Lykophrons
dicht um mich gespürt.

Unten, im Dämmer der Rückfahrt, während die Feldgeister über der in
Gerstenhalmen wogenden Gräberstätte des alten Korinth sich zu regen
beginnen, zuckt im Rädergeroll der nächtlichen Fahrt ein und das andere
Bild der lärmenden alten Stadt vor der Seele auf. Mitunter ist alles
plötzlich von einer so tosenden Gegenwart, daß ich Geschwätz und
Geschrei des Marktes um mich zu hören glaubte, und alles dieses mit dem
Anblick weiter abgelegener Felder verquickt, die sich rings um den
übermächtig hineingelagerten, finsteren Gewalttäterfelsen wie
Leichentücher weit umherbreiten.
Und ohne daß dieser tote Dämmer, dieses ewig teilnahmlose Gegenwartsbild
verändert wird, sehe ich die Lohe der Totenfeier Melissens nächtlich
hervorbrechen und fühle das Fieber, das die leidenschaftliche Kraft des
großen Periander auf die Bewohner der geknechteten Stadt überträgt. Der
Heratempel ist vom Geschrei der Weiber erfüllt, denen die Bravi die
Kleider vom Leibe reißen, die Gassen vom Geschrei jener anderen, die
nackt und beraubt entkommen sind. Nicht weit vom Tempel, den Blick in
den rötlichen Schein der Feuersbrunst mit einem starren Lächeln
gerichtet, steht Lykophron: durch Schmerz und die Wollust der
Selbstkasteiung fast irrsinnig, das Antlitz durch Hunger und innere Wut
verzerrt, aber in diesem Augenblick nicht nur vom Wiederscheine des
Feuers, sondern von einem bösen Triumphe verklärt. Rings lärmen und
brüllen die Leute um ihn: es ist durch Verordnung Perianders aufs
strengste verboten, ihn anzureden.
Als aber am folgenden Tage Periander selbst dies zu tun unternimmt,
erhält er von seinem Sohne nur diese Antwort: man wird dich in Strafe
nehmen, weil du mit Lykophron gesprochen hast.

Gegen zwölf Uhr mittags, nachdem wir am Morgen Korinth verlassen haben,
befinde ich mich in einer Herberge, von der aus man die argivische Ebene
übersieht. Sie ist begrenzt von gewaltigen peloponnesischen Bergzügen
und augenblicklich durchbraust von einem heißen Wind, der in der
blendenden Helle des Mittags die Saatfelder wogen macht.
Der Raum, in dem die Kuriere das Frühstück auftragen, hat den
gestampften Boden einer Lehmtenne. Er ist zugleich Kaufladen und
Weinausschank. Es riecht nach Kattun. Blaue Kattune sind in den
Wandregalen aufgestapelt. Dank den Kurieren, die in Athen eine
Korporation bilden, herrscht in den Herbergen, die sie bevorzugen, eine
gewisse Sauberkeit.
Ich bin vor die Tür des kleinen Wirtshauses getreten. Die von den Bergen
Arkadiens eingeschlossene Ebene ist noch immer durchbraust von Sturm und
steht noch immer in weißer Glut. In weißlich blendendem Dunst liegt der
Himmel über uns. Die Burg von Argos, Larissa, ist in der Talferne
sichtbar, der Boden des Tals ist in weite Gewände abgegrenzt, die teils
von wogender Gerste bedeckt, teils unbestellt und die trockene rote
Scholle zeigend, daliegen.
Diese Landschaft erscheint auf den ersten Blick ein wenig kahl, ein
wenig nüchtern in ihrer Weiträumigkeit. Ich bin nicht geneigt, sie als
Heimat jener blutigen Schatten anzusprechen, die unter den Namen
Agamemnon, Klytämnestra, Tyest und Orestes ruhelos durch die
Jahrtausende wandern. Ihre Heimat war im Haupte des Äschylos und des
Sophokles.
Die Gestalten der großen Tragödiendichter der Alten sind von einem
Element des Grauens getragen und in ihm zu körperlosen Schatten
aufgelöst. Es ist in ihnen etwas von den Qualen abgeschiedener Seelen
enthalten, die durch die unwiderstehliche Macht einer Totenbeschwörung,
zu einer verhaßten Existenz im Lichte gezwungen sind. Auf diese Weise
wecken sie die Empfindung in uns, als stünden sie unter einem Fluch, der
ihnen aber, so lange sie noch als Menschen unter Menschen ihr Leben
lebten, nicht anhaftete. Der schlichte Eindruck einer realen
landschaftlichen Natur bei Tageslicht widerlegt jeden Fluch und zwingt
der bis zum Zerreißen überspannten Seele den Segen natürlicher Maße auf.
Den Tragikern bleibt in dieser Beziehung Homer vollkommen gesondert
gegenübergestellt. Seine Dichtungen sind keine Totenbeschwörungen. Über
seinen Gedichten ist nirgend das Haupt der Medusa aufgehängt. Gleicht
das Gedicht des Tragikers einem Klagegesang -- seines gleicht überall
einem Lobgesang, und wenn das Kunstwerk des Tragikers von dem Element
der Klage, wie von seinem Lebensblute durchdrungen ist, so ist das
Gedicht Homers eine einzige Vibration der Lobpreisung. Die dichtende
Klage und heimliche Anklage und das dichtende Lob, wer kann mir sagen,
welches von beiden göttlicher ist?
Die Tragödie ist immer eine Art Höllenzwang. Die Schatten werden mit
Hilfe von Blut gelockt, gewaltsam eingefangen und brutal, als ob sie
nicht Schatten wären, durch Schauspieler ins reale Leben gestellt: da
müssen sie nun nichts anderes als ihre Verbrechen, ihre Niederlagen,
ihre Schande und ihre Bestrafungen öffentlich darstellen. Hierin
verfährt man mit ihnen erbarmungslos.
Seit Beginn meiner Reise liegt mir eine wundervolle Stelle der Odyssee
im Sinn. Der Sonnengott, dem man seine geliebte Rinderherde getötet hat,
klagt die Frevler, die es getan haben, die Genossen des Odysseus, im
Kreise der Götter an und droht, er werde, sofern man ihn nicht an den
Tätern räche, fortan nicht mehr den Lebenden, sondern den Toten
leuchten:
»Büßen die Frevler mir nicht vollgütige Buße des Raubes;
Steig' ich hinab in Aïdes Reich, und leuchte den Toten!«
Wer wollte diese erhabenste und zugleich herrlichste Drohung in ihren
überwältigenden Aspekten nicht empfinden. Es ist nicht mehr und nicht
weniger als der ganze Inhalt eines künftigen Welt-Epos, dessen Dante
geboren werden wird. Aber wenn nicht mit der ganzen apollinischen
Lichtgewalt, so doch mit einem Strahle davon erscheinen die Gestalten
Homers beglückt und sind damit aus dem Abgrund der Toten zu neuem Leben
geweckt worden und es ist nicht einzusehen, warum der Gott nicht auch
dem dramatischen Dichter einen von seinen Strahlen leihen sollte. Ist
doch das Dramatische und das Epische niemals rein getrennt, ebensowenig
wie die Tendenzen der Zeit und des Ortes. Und wer wüßte nicht, wie das
Epos Homers zugleich auch das gewaltigste Drama und Mutter zahlloser
späterer Dramen ist.
Wenn wir einen Durchbruch des apollinischen Glanzes in die Bereiche des
Hades als möglich erachteten, so möchte ich die Tragödie, cum grano
salis, mit einem Durchbruch der unterirdischen Mächte, oder mit einem
Vorstoß dieser Mächte ins Licht vergleichen. Ich meine damit die
Tragödie seit Äschylos, von dem es heißt, daß er es gewesen ist, der den
Erinnyen Schlangen ins Haar geflochten hat.
Nehmen wir an, die Tragödie habe dem gleichen Instinkt gedient, wie das
Menschenopfer. Dann trat allerdings an Stelle der blutigen Handlung der
unblutige Schein. Trotzdem in Wahrheit aber Menschenblut nicht vergossen
wurde, hatte die bange und schreckliche Wirkung an Macht gewonnen und
sich vertieft: derart, daß erst jetzt eine chthonische Wolke gewaltsam
lastend und verdüsternd in den olympischen Äther stieg, deren
grauenerregende Formen mit den homerischen Lichtgewölken olympischen
Ursprungs rangen, und schließlich den ganzen Olymp der Griechen
verdüsterten.

Wir brechen auf, um die Trümmer von Mykene und die unterirdischen Bauten
zu sehen, die man Schatzhäuser nennt. Ich bin durchaus homerisch
gestimmt, wie denn mein ganzes Wesen dem Homerischen huldigt, auch wenn
ich nicht des wundervollen Schatzes gedenken müßte, der im Museum zu
Athen geborgen liegt und der aus den Gräbern von Mykene gehoben ist. Wo
ist das Blutlicht, mit dem Äschylos und Sophokles durch die Jahrhunderte
rückwärts diese Stätte beleuchteten? Es ist von der Sonne Homers
getilgt. Und ich sehe in diesem Augenblick die Greueltaten der
Klytämnestra, des Agist und des Orest höchstens mit den Augen des
Menelaos in Sparta an, als er dem jugendlichen Telemach, der gekommen
ist, nach Odysseus, seinem Vater, zu forschen, davon erzählt.
»Aber indessen erschlug mir meinen Bruder ein Anderer
Heimlich mit Meuchelmord durch die List des heillosen Weibes ...
Dennoch, wie sehr ich auch trauere, bewein' ich alle nicht so sehr
Als den einen ...«
womit er Odysseus -- nicht einmal Agamemnon! -- meint, den lange
Vermißten.
Wer, der die kerngesunde Königsidylle jenes Besuches liest, den Telemach
in Sparta abstattet, könnte dagegen des Glaubens sein, daß der erprobte
Held, Mann und Bruder sich sophokleischen Blutträumen überlassen hätte?
Zumal, wenn er sagt:
»Laßt uns also des Grams und unserer Tränen vergessen«
oder wenn Helena bei ihm ruhte, noch immer »Die Schönste unter den
Weibern.«

Das Löwentor, der mykenaische Schutthügel und die Hügel ringsum sind von
Sonne durchglüht und von Sturm umbraust. Überall füllt Duft von Thymian
und Myrrhen die Luft. Ganz Griechenland duftet jetzt von Thymian und
Majoran. In den Kalksteintrümmern der alten Stadt schreien Eulen
einander zu, wach und lebhaft, trotz hellblendender Sonne. Weiß wie
Schlacke liegt Trümmerstück an Trümmerstück.
Die Burg hat eine raubnestartige Anlage: in Hügeln versteckt und von
höheren felsigen Bergen gedeckt, übersah sie das ganze rossenährende
Argos. Zur Seite hatte sie eine wilde Kluft, die jeden Zugang
verhinderte.
Es ist von eigentümlichem Reiz, sich nach den mykenaischen Gräberfunden
in dieser Umgebung ein Leben in Üppigkeit und Luxus vorzustellen: Männer
und Frauen, die sich schnürten, und besonders Frauen, deren Toiletten an
Glanz und Raffinement der Toilette einer spanischen Tänzerin, die in
einem pariser Theater tanzt, gleichgekommen sind. Aber schließlich ist
es wieder Homer, der überall den Sinn für Komfort und Luxus entwickelt
und nie vergißt, Bäder, duftende Betten, reinliches Linnen, hohe und
hallende Säle, Schmuck und Schönheit der Weiber, ja sogar den
Wohlgeschmack des Getränks und der Speisen gebührend zu würdigen.

Die unterirdischen Kuppelbauten, die Pausanias Schatzhäuser nennt, sind
ihrer eigentlichen Bestimmung nach noch heute ein Rätsel. Sie waren
bekannt, wie es scheint, durch das ganze griechische Altertum und
wahrscheinlich, so weit sie frei lagen, wie noch heute, erfüllt von
Bienengesumm. Das »Schatzhaus des Atreus«, ist vollkommen freigelegt.
Die weiche, sausende Chormusik der kleinen honigmachenden Priesterinnen
der Demeter, die den unterirdischen Bau erfüllt, verbreitet mystische
Feierlichkeit. Sie scheinen im Halblicht der hohen Kuppel
umherzutaumeln. Sie fliegen, an den unbestrittenen Besitz dieser Räume
gewöhnt, gegen die Köpfe der Eintretenden. Ihr sonorer Flug bewegt sich
mit Gehen und Kommen in eine niedrige Nebenkammer, die sehr wohl eine
Grabkammer sein könnte. Aber die Menge der Schatzhäuser würde durch eine
Bestimmung als unterirdische Tempelgräber, für Totenopfer und Totenkult,
nicht erklärt. Ich stelle mir aber gern inmitten dieses sogenannten
Artreusschatzhauses einen Altar vor und das Feuer darauf, das den Raum
erleuchtet und lärmend belebt und dessen Rauch durch die kleine runde
Öffnung der Kuppel abzieht und oben scheinbar aus der Erde selber
hervordringt.

Drei Schimmel ziehen unsern Wagen im Galopp durch die Vorstädte von
Tripolitza in die arkadische Landschaft hinaus. Der wolkenlose Himmel
ist über weite Ackerflächen gespannt, auf denen Reihen bunter,
griechischer Landleute arbeiten. Der Tag wird heiß. Die Luft ist erfüllt
von Froschgequak.
Nun, nach einer längeren Fahrt durch kleine Ortschaften, verlassen wir
die Ebene von Thegea. Die schöne Landstraße steigt bergan, und statt der
Felder haben wir rötlich-graue Massen kahlen Gesteins zur Rechten und
Linken, die spärlich mit Thymiansträuchern bewachsen sind. Es beginnt
damit ein Arkadien, das mehr einer Wüstenei, als dem Paradiese ähnlich
sieht. Nach einiger Zeit ist in der Höhe ein Dorf zu sehen, mit einigen
langen, dünn belaubten Pappeln, die das Auge hungrig begrüßt. Nur wenig
lösen sich die Häuser der Ortschaft von ihrem steinigten Hintergrund,
der mit schmalen Gartenstreifen rötlicher Erde durchsetzt ist.
Die Spitzen des Parnon werden zur Linken sichtbar, auf denen der Schnee
zu schwinden beginnt. Ein kühler Wind setzt ein und erquickt inmitten
dieser arkadischen Wüste.
Ich hatte hier einen womöglich noch größeren Reichtum an Herden zu sehen
gehofft, als zwischen Parnaß und Helikon: aber auf weitgedehnten,
endlosen Trümmerhalden und auf der Landstraße begegnet nur selten Herde
und Hirt. Die Gegend ist arm und ausgestorben, die ehemals das
waldreiche Paradies der Jäger und Hirten gewesen ist.
Die Straße wendet sich auf einer freien Paßhöhe rechts und tritt in das
Gebiet von Lakonika. Der Taygetos liegt nun breit und mächtig mit weißen
Gipfeln vor uns da.
Aus einer ärmlichen Schenke ertönt Gesang. Und zwar ist es eine Musik,
die an das Kommersbuchtreiben deutscher Studentenkneipen erinnert. Die
Stimmen gehören Gymnasiallehrern aus Sparta an, die, noch im
Osterferien-Rausch, fröhlich dorthin zurückreisen.
Es erscheinen jetzt Äcker, Gartenflächen, Wiesen und Bäume oasenartig.
Die Erde zwischen Felsen und Bäumen ist rot, und hier und da stehen
rötliche Wasserlachen.
Der Parnon verschwindet und taucht wieder auf. Die Gegend gewinnt,
nachdem wir die Paßhöhe überschritten haben, an Großartigkeit. Einige
der vielen steinigten Hochtäler, die man übersieht, zeigen Baumwuchs
inselartig in ihrer Tiefe. Es ist mir, so lange mein Auge durch diese
uferlosen, kochenden Wüsteneien schweift, als ob ich das traurig-nackte,
ausgetrocknete Griechenland mit einem Mantel grüner Nadelwälder bedecken
müßte, und meine Träumereien führen Armeen tätiger Menschen hierher,
die, vom sorglich gepflegten Saatkamp aus, in geduldiger Arbeit Arkadien
aufforsten. Mit tiefem Respekt gedenke ich der zähen Kraft und
Tüchtigkeit jener Männer und Frauen meiner engeren Heimat, auch derer
mit krummgezogenem Rücken, die den Forst ernähren, mehr wie sie der
Forst ernährt, und mit Staunen vergegenwärtige ich die Schöpferkraft,
die in der harten Faust der Arbeit liegt.

Wir halten Rast. Die Herberge ist an eine Krümmung der Bergstraße
gestellt. Unter uns liegt ein weites Tal, das der Taygetos mit einer
Kette von Schneegipfeln mächtig beherrscht. Der Himmel glüht in einer
fast weißen Glut. Hügelige Abhänge in der Nähe, von Olivenhainen
bestanden, erscheinen ausgebrannt.
Unsere Herberge hat etwas Japanisches. Das Schilfdach über der
schwankenden Veranda, auf der wir stehen, ist durch dünne Stangen
gestützt. Unten klingeln die müden Pferde mit ihren Halsglöckchen. Die
trinkfrohen Lehrer aus Sparta haben uns eingeholt und sitzen lärmend
unten im Gastzimmer. Wir werden in ein oberes Zimmer geführt, dessen
Dielen dünn wie Oblaten sind. Durch fingerbreite Fugen zwischen den
Brettern können wir zu den Lehrern hinabblicken. Der Kurier trägt ein
Frühstück auf. Indessen schwelgen die Augen und ruhen zugleich im jungen
Blättergrün eines Pappelbaums, der, vom heißen Winde bewegt, jenseits
der Straße schwankt und rauscht.
Nachdem wir gegessen haben, ruhen wir auf der Veranda aus. Bei jedem
Schritt, den wir etwa tun, schaukelt die ganze Herberge. Zwei Schwalben
sitzen nahe bei mir unter dem Schilfdach auf der Geländerstange. Überall
um uns ist lebhaftes Fliegengesumm.

Wir haben vor etwa einer Stunde das Kahni verlassen, wo uns die Lehrer
aus Sparta eingeholt hatten. Ihr Einspännerwägelchen stand, als wir
abfuhren, vor der Tür und wartete auf die indessen lustig zechenden
Gäste. Sonderbar, wie in diesem heißen, stillen und menschenleeren Lande
die brave Turnerfidelitas anmutete, die immer wieder in einem gewaltigen
Rundgesang gipfelte!
Die Straße beginnt sich stärker zu senken. Wir fahren weite Schlingen
und Bogen an tiefen Abstürzen hin, die aber jetzt den Blick in eine
immer reicher ausgestaltete Tiefe ziehen. Wir nähern uns der Gegend von
Sparta, dem schönen Tal des Eurotas an.
Es ist eine wundervolle Fahrt, durch immer reicher mit Wein,
Feigenbäumen und Orangenhainen bestandene Abhänge. Ziegen klettern zur
Linken über uns und zur Rechten unter uns. Lieblich gelegene
Ansiedelungen mit weißem Gemäuer mehren sich, bis wir endlich das flache
Aderngeflecht des Eurotas und zugleich die weite Talsohle überblicken
können.
Fast wie Vögel senken wir uns aus gewaltiger Höhe auf das moderne Sparta
herab, das, mit weißen Häusern, aus Olivenhainen, Orangengärten und
Laubbäumen, weiß heraufleuchtet. Es ist mir dabei, als beginne das
strenge und gleichsam erzene Wort Sparta, sich in eine entzückende,
ungeahnte südliche Vision aufzulösen. Eine augenblendende Vision von
Glanz und Duft.
Ich kann nicht glauben, daß irgendein Land an landschaftlichen Reizen
und in der Harmonie solcher Reize mit dem griechischen wetteifern
könnte. Es zeigt den überraschendsten Wechsel an Formen und überall eine
bestrickende Wohnlichkeit. Man begreift sogleich, daß auch dieses Tal
von Sparta eine festgeschlossene Heimat ist, mit der die Bewohner,
ähnlich wie mit einem Zimmer, einem Hause verwachsen mußten.
Ich möchte behaupten, daß der Reichtum der griechischen Seele zum Teil
eine Folge des eigenartigen Reichtums der griechischen Muttererde ist.
Wobei ich von dem landschaftlichen Sinn der Alten den allerhöchsten
Begriff habe. Natürlich nicht einem landschaftlichen Sinn in der Weise
moderner Malerei, sondern als einer Art Empfindsamkeit, die eine Seele
immer wieder zum unbewußten Reflex der Landschaft macht.
Zweifellos war die Phantasie im Geiste des Menschen die erste und lange
Zeit alleinige Herrscherin, aber das im Wechsel der Tages- und
Jahreszeiten feste Relief des Heimatsbodens blieb in einem gewissen
Sinne ihr Tummelplatz. Was an bewegten Gestalten von ihr mit diesem
Boden verbunden wurde, das hatte dieser Boden auch miterzeugt.
Das unbewußte Wirken des Geistes, im Kinde so wie im Greise, ist immer
wesentlich künstlerisch, und Bildnertrieb ist eine allgemein verbreitete
Eigenschaft, auch wo er sich nie dem äußeren Auge sichtbar kundgibt.
Auch der Naivste unter den Menschen wohnt in einer Welt, an deren
Entstehung er den hauptsächlichsten Anteil hat und die zu ergründen
ebenso reizvoll sein würde, als es die Bereisung irgendeines
unentdeckten Gebietes von Tibet ist. Unter diesen Naivsten aber ist
wiederum keiner, der nicht das Beste, was er geschaffen hat, mit Hilfe
des kleinen Stückchens Heimat geschaffen hätte, dahinein er geboren ist.

Ich befinde mich im Garten eines kleinen Privathauses zu Sparta. Vor
etwa einer Stunde sind wir hier angelangt. Ich habe mich beeilt, aus dem
dürftigen Zimmerchen, das man uns angewiesen hat, wieder ins Freie zu
gelangen. Es war eine sogenannte gute Stube, und es fehlte darin nicht
einmal das Makartbukett.
Irgendwie, ich weiß zunächst nicht wodurch, bin ich in diesem
Grasegarten an längst vergangene Tage erinnert. Eindrücke meines frühen
Jünglingsalters steigen auf. Ich vergesse minutenlang, daß die
verwilderte Rasenfläche unter meinen Füßen der Boden von Sparta ist.
Dann kommt es mir vor, als wandle ich in jenem kleinen Obstgarten, der
an das Gutshaus meines Onkels stieß, und etwas vom Tanze der nackten
Mädchen Spartas und erster Liebe ginge mir durch den Kopf.
Es ist aber wirklich ein Garten in Sparta und nicht das Gehöft meiner
guten Verwandten, wo ich jetzt bin. In der nahen Gartenzisterne quakt
ein spartanischer Frosch, ich schreite an einer spartanischen
Weißdornhecke hin und spartanische Sperlinge lärmen.
Auf der Konsole des Nußbaumspiegels, dessen sich das Quartier meiner
Gastfreunde rühmen kann, fand ich unter anderen Photographien auch ein
Bild, -- das Bild eines hübschen, ländlichen Mädchens! -- das mir
sogleich ins Auge fiel. Sie mag wohl längst gestorben sein oder ist etwa
vor dreißig Jahren jung gewesen, um jene Zeit, als auch das Mädchen, an
das ich mich jetzt erinnern muß, siebzehnjährig durch Garten, Hof und
Haus meiner schlesischen Anverwandten schritt.
Die Bergwand des Taygetos ist zum Greifen nahe. Die Sonne versinkt
soeben hinter die hohe Kammlinie und beinahe das ganze Tal des Eurotas
ist in Schatten gelegt. Die Landschaft ringsum ist zu dieser Stunde
zugleich heroisch und anheimelnd.
Plötzlich finde ich mich mit lebhaftem Griechisch angeredet. Ein Mann
hat mich zwischen Stachelbeer- und Johannisbeersträuchern entdeckt, ist
herzugetreten und setzt voraus, daß ich Griechisch verstehe. Kurze Zeit
bin ich hilflos gegen seine neuspartanische Zudringlichkeit, dann aber
wird im Giebel unseres Häuschens -- das übrigens, windschief, wie es
ist, von außen betrachtet unbewohnbar scheint -- ein Fenster geöffnet,
und das schöne Mädchen, die schöne Spartanerin, noch ganz so jung, wie
das Bild sie zeigte, lehnt sich heraus.
Der Mann von der Straße wird nun durch eine tiefe, sonore Frauenstimme
zurecht-, das heißt aus dem Garten gewiesen, und ich habe, mit
gebundener Zunge, Antlitz und Blick der hübschen Spartanerin über mir.
»Gott grüß euch schönes Jungfräulein
Wo bind ich mein Rößlein hin? --
Nimm du dein Rößlein beim Zügel, beim Zaum,
Binds an den Feigenbaum.«

Der irrationale Wunsch und Zwang, eine Stätte wie die des alten Sparta
zu sehen, erklärt sich zwar nicht durch den Namen Lykurg, aber doch ist
es vor allem der Genius dieses Namens, der Genius, dessen Wirken eine so
unvergleichliche Folge hatte, den man in dieser Landschaft sucht. Man
konnte nicht hoffen oder erwarten wollen, hier irgendein Jugendidyll,
auch nur in Erinnerung, sich erneuern zu sehen: dennoch nimmt mich,
statt jeder historischen Träumerei, eine solche Erinnerung jetzt in
Besitz.
Nicht zweimal schwimmst du durch die gleiche Welle, sagt Heraklit, und
es ist nicht dieselbe, die um mich und durch mich flutet, als jene
Frühlingswoge, durch die ich vor Jahren geschwommen bin: aber es ist
doch auch wieder etwas von ewiger Wiederkehr in ihr.
Ich sage mir, daß Lykurg wiederum nichts weiter, als ein großer Hirte,
ein großer Schäfer gewesen ist, der den Nachwuchs seines Volkes in
»Herde« teilte. Daß seine Gedanken in der Hauptsache sehr entschlossene
Züchtergedanken gewesen sind, wie sie aus den Erfahrungen eines
Hirtenlebens sich ergeben und zwar mit Notwendigkeit. Lykurg, der
trotzdem mit Delphi Verbindung hatte, war überwiegend ein Mann der
kalten Vernunft, gesteh ich mir, und wußte, wie keiner außer ihm, das
zeitliche Leben vom ewigen und ihre Zwecke rein zu sondern. Allein durch
alle diese Erwägungen vermag ich meine Seele nicht von dem spartanischen
Ebenbilde meiner ländlichen Jugendliebe abzuwenden.
Jungens, nicht anders wie Jungens sind, gucken über den Zaun, der hier
allerdings von dem krebsscherenartig, stachlig-grünen Gerank der Agave
gebildet ist. Sie sind neugierig, werfen Steine in blühende Obstbäume,
suchen etwas für ihre Tatkraft, stören mich. Der gleiche Fall veranlaßte
mich vor Jahren, an einem denkwürdigen Tage, aus begreiflichen Gründen
zu vergeblicher Heftigkeit, dagegen gelang es dem deutschen Urbilde der
Spartanerin, das damals neben mir durch den Grasegarten schritt, die
Knaben mit wenigen gütigen Worten zu bewegen, von ihren Störungen
abzulassen.

Nun ist das schöne Mädchen im Garten erschienen. Ich grüße sie und werde
dann magisch in die gleiche Richtung gezogen, die sie eingeschlagen hat,
und durch dasselbe Pförtchen im Heckenzaun, durch das sie verschwunden
ist.
Ich stehe auf einer kleinen begrasten Halbinsel hinter dem Garten, um
die der starke Bergbach eilig sein klares und rauschendes Wasser trägt.
Es kommt, eisfrisch, vom Taygetus. Kaum fünf Schritt von mir entfernt
haben Zigeuner ihr Zelt aufgeschlagen. Der Vater steht in guterhaltener
kretensischer Tracht, mit ruhiger Würde, pfeiferauchend, am Bachesrand.
Die Mutter, von zwei Kindern umspielt, hockt an der Erde und schnitzelt
Gemüse für die Abendsuppe zurecht, die allbereits über einem
bescheidenen Feuerchen brodelt. Zwischen den braunen, halbnackten
Kindern springt ein zähnefletschendes Äffchen umher: Dies alles,
besonders das kleine Äffchen, wird mit kindlicher Freude bewundert von
meiner Dorfschönen.
Ich sehe nun, sie ist kräftig gebaut und jünger, als ich nach dem Bilde,
nach der Erscheinung am Fenster und nach den Lauten ihrer Stimme
geurteilt hatte, wahrscheinlich nicht über fünfzehn Jahre alt. Sie
erinnert mich an den derben Schlag der Deutsch-Schweizerin. Die
Zigeunermutter hat, sobald sie meiner ansichtig wurde, ihrem singenden,
springenden Lausetöchterchen das Tamburin zugeworfen, womit es sich
augenblicklich klirrend vor mir im Tanze zu drehen beginnt. In der
Freude darüber trifft sich mein Blick mit dem der jungen Spartanerin.
Inzwischen ist alles um uns her mehr und mehr in abendliche Schatten
gesunken. Die Glocke einer nahen Kirche wird angeschlagen. Gebrüll von
Rindern dringt von den dämmrigen Weideflächen am Fuß des Taygetus. Das
ganze Gebirge ist nur noch eine einzige, ungeheure, blauschwarze
Schattenwand, die, scheinbar ganz nahe, den Bach zu meinen Füßen zu
speisen scheint, dessen Wasser blauschwarz und rauschend, wie flüssiger
Schatten heranwandelt.
You have read 1 text from German literature.
Next - Griechischer Frühling - 9
  • Parts
  • Griechischer Frühling - 1
    Total number of words is 4085
    Total number of unique words is 1758
    33.7 of words are in the 2000 most common words
    45.6 of words are in the 5000 most common words
    52.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Griechischer Frühling - 2
    Total number of words is 4183
    Total number of unique words is 1810
    31.6 of words are in the 2000 most common words
    42.6 of words are in the 5000 most common words
    48.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Griechischer Frühling - 3
    Total number of words is 4221
    Total number of unique words is 1752
    32.4 of words are in the 2000 most common words
    45.1 of words are in the 5000 most common words
    50.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Griechischer Frühling - 4
    Total number of words is 4172
    Total number of unique words is 1704
    32.9 of words are in the 2000 most common words
    43.6 of words are in the 5000 most common words
    49.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Griechischer Frühling - 5
    Total number of words is 4166
    Total number of unique words is 1752
    33.7 of words are in the 2000 most common words
    44.6 of words are in the 5000 most common words
    50.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Griechischer Frühling - 6
    Total number of words is 4159
    Total number of unique words is 1681
    31.5 of words are in the 2000 most common words
    43.4 of words are in the 5000 most common words
    49.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Griechischer Frühling - 7
    Total number of words is 4096
    Total number of unique words is 1785
    30.3 of words are in the 2000 most common words
    41.4 of words are in the 5000 most common words
    46.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Griechischer Frühling - 8
    Total number of words is 4158
    Total number of unique words is 1755
    32.4 of words are in the 2000 most common words
    43.6 of words are in the 5000 most common words
    49.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Griechischer Frühling - 9
    Total number of words is 3129
    Total number of unique words is 1466
    34.5 of words are in the 2000 most common words
    45.7 of words are in the 5000 most common words
    52.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.