Griechischer Frühling - 3

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verscheuchen, stets vergeblich. Die Kleinen lassen uns vorüber, stehen
ein wenig, suchen uns aber gleich darauf wieder auf kürzeren Wegen,
rennend, springend, stürzend, einander stoßend, zuvor zu kommen, um mit
zäher Unermüdlichkeit uns wiederum anzubetteln.
Sie sind fast durchgängig brünett. Aber es ist auch ein blondes Mädchen
da, blauäugig und von zart weißer Haut: ein großer, vollkommen deutscher
Kopf, der als solcher auf einem Leiblschen Bilde stehen könnte. Bei
diesem Anblick beschleicht mich eine gewissermaßen irrationale
Traurigkeit, denn das Mädchen ist eigentlich die vergnügteste unter
ihren zahllosen dunklen Zufallsschwestern.
In Gruppen und von den Männern gesondert, stehen am Eingang und Ausgang
des kleinen Fleckens die Frauen von Pelleka. Sie machen in der stämmigen
Fülle des Körpers und der bunten Schönheit der griechischen Tracht den
Eindruck der Wohlhabenheit. Das reiche Haar, das ihre Köpfe in stolzer
Frisur umgibt, ist nicht nur ihr eigenes, sondern durch den Haarschatz
von Müttern, Großmüttern und Urgroßmüttern vermehrt, der als heilige
Erbschaft betrachtet wird.

Heut, soeben, begann ich den letzten Tag, der noch auf Korfu enden wird.
Zum Fenster hinausblickend, gewahre ich in der Nähe des Abfallhaufens
eine Versammlung von etwa zwanzig Männern: sie umstehen einen vom Regen
noch feuchten Platz, auf dem sich, wie kleine zerknüllte Lümpchen,
mehrere schmutzige Drachmenscheine befinden. Man schiebt sie mit
Stiefelspitzen von Ort zu Ort. Einer der Männer wirft vom Handrücken aus
zwei kupferne Münzen in die Luft, und je nachdem sie auf dem Kopfe der
Könige liegen, oder diesen nach oben kehren, entscheiden sie über
Verlust und Gewinn. Nachdem ein Wurf des Glücksspiels geschehen ist,
nimmt einer der Spieler, ein schäbiger Kerl, als Gewinner den ziemlich
erheblichen Einsatz vom Erdboden auf und steckt ihn ein.
Die Bevölkerung Korfus krankt an dieser Spielleidenschaft. Es werden
dabei von armen Leuten Gewinne und Verluste bestritten, die in keinem
Vergleich zu ihrem geringen Besitze stehen. Man sucht dieser Spielwut
entgegenzuwirken. Aber, trotzdem man das stumpfsinnige Laster, sofern es
in Kneipen oder irgendwie öffentlich auftritt, unter Strafe stellt, ist
es dennoch nicht auszurotten. Macht doch die ganze Bevölkerung
gemeinsame Sache gegen die Polizei! So sind zum Beispiel die
Droschkenkutscher auf der breiten Straße, in die unser Sackgäßchen
mündet, freiwillige Wachtposten, die den ziemlich sorglosen Übertretern
der Gesetzesbestimmungen soeben die Annäherung eines Polizeimannes durch
Winke verkündigen, worauf sich der Schwarm sofort zerstreut.

Ein griechischer Dampfer liegt am Ufer. Ein italienischer kommt eben
herein. Ihm folgt die »Tirol« vom Triester Lloyd. Menschen und Möwen
werden aufgeregt.
Die Einschiffung ist nicht angenehm. Wir sind hinter einem Berg von
Gepäck ins Boot gequetscht, und jeden Augenblick drohen die hohen Wogen
das überladene Fahrzeug umzuwerfen.
Selten ist der Aufenthalt an Deck eines Schiffes im Hafen angenehm. Das
Idyll, sofern nicht das Gegenteil eines Idylls im Schicksalsrate
beschlossen ist ... das Idyll beginnt immer erst nach der Abfahrt.
Eine schlanke, hohe, jugendschöne Engländerin mit den edlen Zügen
klassischer Frauenbildnisse ist an Bord. Seltsam, ich vermag mir das
homerische Frauenideal, vermag mir eine Penelope, eine Nausikaa, nur von
einer so gearteten Rasse zu denken.
Langsam gleitet Korfu, die Stadt, und Korfu, die Insel, an uns vorüber:
die alten Befestigungen, die Esplanade, die Strada marina am Golf von
Kastrades, auf der ich so oft nach dem königlichen Garten, nach dem
Garten der Kirke, gewandert bin. Der Garten der Kirke selbst gleitet
vorüber. Ich nehme mein Fernglas und bin noch einmal an dem lieblichen,
jetzt in Schatten gelegten Ort, wo die Trümmer des kleinen antiken
Tempelchens einsam zurückbleiben, und wo ich, seltsam genug bei meinen
Jahren, fast wunschlos glückliche Augenblicke genoß. Oft sah ich von
dort aus Schiffe vorübergleiten und bin nun selbst, der vorübergleitet
auf seinem Schiff. Über den dunklen Wipfelgebieten des Gartens steht die
Sonne hinter gigantischen Wolken im Niedergang und bricht über alles zu
uns und zum Himmel hervor in gewaltigen, limbusartigen Strahlungen, und
im Weitergleiten des Schiffes erfüllt mich nur noch der eine Gedanke: du
bist auf der Pilgerfahrt zur Stätte des goldelfenbeinernen Zeus.

Die ersten Stunden auf klassischem Boden, nachdem wir in Patras Morgens
gelandet sind, bieten lärmende unangenehme Eindrücke. Aber, trotzdem wir
nun in einem Bahncoupé, und zwar in einem ziemlich erbärmlichen, sitzen,
saugt sich das Auge an Felder und Hügel dieser an uns vorüberflutenden
Landschaft fest, als wäre sie nicht von dieser Erde. Vielleicht lieben
wir Träume mit stärkerer Liebe, als Wirklichkeit. Aber das innere Auge,
das sich selbst im Schlafe oft genug weit öffnet, legt sich mitunter in
den Wiesen, Hainen und Hügelländern zur Ruh, die sich einem äußeren
Sinne im Lichte des wachen Tages schlicht und gesund darbieten. Und
etwas, wie eines inneren Sinnes Entlastung spüre ich nun.
Also: um mich ist Griechenland. Das, was ich bisher so nannte, war alles
andere, nur nicht Land. Die Sehnsucht der Seele geht nach Land, der
Sehnsucht des Seefahrers darin ähnlich. Immer ist es zunächst nur
eingebildet, wonach man sich sehnt, und noch so genaue Nachricht, noch
so getreue Schilderung kann aus der schwebenden Insel der Phantasie kein
wirklich am Grunde des Meeres verwurzeltes Eiland machen. Das vermag nur
der Augenblick, wo man es wirklich betritt.
Was nun so lange durchaus nur ein bloßer Traum der Seele gewesen ist,
das will eben diese Seele, vom Staunen der äußeren Sinne berührt, die,
von dem Ereignis betroffen, rastlos verzückt, fast überwältigt
umherforschen ... das will eben diese Seele nicht gleich für wahr
halten. Auch deshalb nicht, weil damit in einem anderen Sinne etwas, zum
mindesten der Teil eines Traumbesitzes, in sich versinkt. Dies gilt aber
nur für Augenblicke. Es gibt in einem gesund gearteten Geiste keine
Todfeindschaft mit der Wirklichkeit: und was sie etwa in einem solchen
Geiste zerstört, das hilft sie kräftiger wiederum aufrichten.
Die Landschaft von Elis, durch die wir reisen, berührt mich heimisch.
Wir haben zur Rechten das Meer, hinter roter Erde, in unglaublicher
Farbenglut. Wie bläulicher Duft liegen Inseln darin: erst wird uns
Ithaka, dann Cephalonia, später Zakynthos deutlich. Wir werden an Hügeln
vorübergetragen, niedrigen Bergzügen, vor denen Fluren sich ausbreiten,
die mit Rebenkulturen bestanden sind. Die Berge zur Linken weichen
zurück hinter eine weite Talebene, die sie mit ihren Schneehäuptern
begleiten. Einfache, grüne Weideflächen erfreuen den Blick. Und
plötzlich erscheinen Bäume, einzelstehend, knorrig, weitverzweigt, die
für das zu erklären, was sie wirklich sind, ich kaum getraue. Aber es
sind und bleiben doch Eichen, deutsche Eichen, so alt und mächtig
entwickelt, wie in der Heimat sie gesehen zu haben ich mich nicht
erinnern kann.
Stundenweit dehnen sich nun diese Eichenbestände. Doch sind die jetzt
noch fast kahlen Kronen so weit voneinander entfernt, daß ihre Zweige,
so breit sie umherreichen, sich nicht berühren. In den einsamen
Weideländern darunter zeigen sich hie und da Hirten mit Herden.
Es kommt mir vor, als ob ich unter den vielen, die mit uns reisen, einem
großartigen Festtumulte zustrebte. Und durchaus ungewollt drängt sich
mir nach und nach die Vision eines olympischen Tages auf: der Kopf und
nackte Arm eines jungen Griechen, ein Schrei, eine Bitte, ein
Pferdegewieher, Beifallstoben, ein Fluch des Besiegten. Ein Ringer, der
sich den Schweiß abwischt. Ein Antlitz, im Kampfe angespannt, fast
gequält in übermenschlicher Anstrengung. Donnernder Hufschlag,
Rädergekreisch: alles vereinzelt, blitzartig, fragmentarisch.

Wir sind in Olympia.
Auf diesem verlassenen Festplatz ist kaum etwas anderes, als das sanfte
und weiche Rauschen der Aleppokiefer vernehmlich, die den niedrigen
Kronoshügel bedeckt und hie und da in den Ruinen des alten Tempelbezirks
ihre niedrigen Wipfel ausbreitet.
Dieses freundliche Tal des Alpheios ist dermaßen unscheinbar, daß man,
den ungeheuren Klang seines Ruhmes im Herzen, bei seinem Anblick in
eigentümlicher Weise ergriffen ist. Aber es ist auch von einer
bestrickenden Lieblichkeit. Es ist ein Versteck, durch einen niedrigen
Höhenzug jenseits des Flusses -- und diesseits durch niedrige Berge
getrennt von der Welt. Und jemand, der sich von dieser Welt ohne Haß zu
verschließen gedächte, könnte nirgend geborgener sein.
Ein kleines, idyllisches Tal für Hirten -- eine schlichte, beschränkte
Wirklichkeit! -- mit einem versandeten Flußlauf, Kiefern und kärglichem
Weideland, und doch: es mag hier gewesen sein, es weigert nichts in dem
Pilger, für wahr hinzunehmen, daß hier der Kronide, der Ägiserschütterer
Zeus, mit Kronos um die Herrschaft der Welt gerungen hat. -- Das ist das
Wunderbare und Seltsame.

Die Abhänge jenseit des Alpheios färben sich braun. Die Sonne eines
warmen und reinen Frühlingstages dringt nicht mehr mit ihren Strahlen
bis an die Ruinen, zu mir. Zwei Elstern fliegen von Baum zu Baum, von
Säulentrommel zu Säulentrommel. Sie gebärden sich hier wie in einem
unbestrittnen Bereich. Ein Kuckuck ruft fortwährend aus den Wipfeln des
Kronoshügels herab. -- Ich werde diesen olympischen Kuckuck vom zwölften
April des Jahres Neunzehnhundertundsieben nicht vergessen.
Die Dunkelheit und die Kühle bricht herein. Noch immer ist das Rauschen
des sanften Windes in den Wipfeln die leise und tiefe Musik der Stille.
Es ist ein ewiges, flüsterndes Aufatmen, traumhaftes Aufrauschen,
gleichsam Aufwachen, von etwas, das zugleich in einem schweren,
unerwecklichen Schlaf gebunden ist. Das Leben von einst scheint ins
Innere dieses Schlafes gesunken. Wer nie diesen Boden betreten hat, dem
ist es schwer begreiflich zu machen, bis zu welchem Grade Rauschen und
Rauschen verschieden ist.
Es ist ganz dunkel geworden. Ich unterliege mehr und mehr wieder inneren
Eindrücken gespenstischer Wettspiele. Es ist mir, als fielen da und
dorther Schreie von Läufern und Ringern aus der nächtlichen Luft. Ich
empfinde Getümmel und wilde Bewegungen; und diese hastig fliehenden
Dinge begleiten mich wie irgendein Rhythmus, eine Melodie, dergleichen
sich manchmal einnistet und nicht zu tilgen ist.
Plötzlich wird, von irgendeinem Hirtenjungen gespielt, der kunstlose
Klang einer Rohrflöte laut: er begleitet mich auf dem Heimwege.

Der Morgen duftet nach frischen Saaten und allerlei Feldblumen.
Sperlinge lärmen um unsere Herberge. Ich stehe auf dem Vorplatz des
hübschen, luftigen Hauses und überblicke von hier aus das enge,
freundliche Tal, das die olympischen Trümmer birgt. Hähne krähen in den
Höfen verschiedener kleiner Anwesen in der Nähe, von denen jedoch hier
nur eines, ein Hüttchen, am Fuße des Kronoshügels, sichtbar ist.
Man müßte ein Tälchen von ähnlichem Reiz, ähnlicher Intimität vielleicht
in Thüringen suchen. Wenn man es aber so eng, so niedlich und voller
idyllischer Anmut gefunden hätte, so würde man doch nicht, wie hier, so
tiefe und göttliche Atemzüge tun.
Mich durchdringt eine staunende Heiterkeit. Der harzige Kiefernadelduft,
die heimisch-ländliche Morgenmusik beleben mich. Wie so ganz nah und
natürlich berührt nun auf einmal das Griechentum, das durchaus nicht nur
im Sinne Homers oder gar im Sinne der Tragiker zu begreifen ist. Viel
näher in diesem Augenblick ist mir die Seele des Aristophanes, dessen
»Frösche« ich von den Alpheiossümpfen herüber quaken höre. So laut und
energisch quakt der griechische Frosch -- ich konnte das während der
gestrigen Fahrt wiederholt bemerken! -- daß er literarisch durchaus
nicht zu übersehen, noch weniger zu überhören war.
Überall schlängeln sich schmale Pfade über die Hügel und zwischen den
Hügeln hindurch. Sie sind wie Bänder durch einen Flußlauf gelegt, der
zum Alpheios fließt. Kleine Karawanen, Trupps von Eseln und Mauleseln
tauchen auf und verschwinden wieder. Man hört ihre Glöckchen, bevor man
die Tiere sieht, und nachdem sie den Gesichtskreis verlassen haben. Am
Himmel zeigen sich streifige Windwolken. In der braunen Niederung des
Alpheios weiden Schafherden.
Man wird an ein großartiges Idyll zu denken haben, das in diesem Tälchen
geblüht hat. Es lebte hier eine Priestergemeinschaft nahe den Göttern;
aber diese, Götter und Halbgötter, waren die eigentlichen Bewohner des
Ortes. Wie wurde doch gerade dieses anspruchslose Stückchen Natur so von
ihnen begnadet, daß es gleich einem entfernten Fixstern -- einer vor
tausend Jahren erloschenen Sonne gleich -- noch mit seinem vollen,
ruhmstrahlenden Lichte in uns ist?
Diese bescheidenen Wiesen und Anhöhen lockten ein Gedränge von Göttern
an, dazu Scharen glanzbegieriger Menschen, die von hier einen Platz
unter den Sternen suchten. Nicht alle fanden ihn, aber es lag doch in
der Macht des olympischen Zweiges, von einem schlichten Ölbaum dieser
Flur gebrochen, Auserwählten Unsterblichkeit zu gewähren.

Ich ersteige den Kronoshügel. Es riecht nach Kiefernharz. Einige Vögel
singen in den Zweigen schön und anhaltend. Im Schatten der Nadelwipfel
gedeiht eine zarte Ilexart. Die gewundenen Stämme der Kiefern mit tief
eingerissener Borke haben etwas Wildkräftiges. Ich pflücke eine
blutrote, anemonenartige Blume, überschreite das Band einer Wanderraupe,
fünfzehn bis zwanzig Fuß lang. Die Windungen des Alpheios erscheinen:
des Gottes, der gen Orthygia hinstrebt, jenseits des Meeres, wo
Arethusa, die Nymphe, wohnt, die Geliebte.
Die Fundamente und Trümmer des Tempelbezirks liegen unter mir. Dort, wo
der goldelfenbeinerne Zeus gestanden hat, auf den Platten der Cella des
Zeustempels, spielt ein Knabe. Es ist mein Sohn. Etwas vollkommen
Ahnungsloses, mit leichten, glücklichen Füßen die Stelle umhüpfend, die
das Bildnis des Gottes trug, jenes Weltwunder der Kunst, von dem unter
den Alten die Rede ging, daß, wer es gesehen habe, ganz unglücklich
niemals werden könne.
Die Kiefern rauschen leise und traumhaft über mir. Herdenglocken, wie in
den Hochalpen oder auf den Hochflächen des Riesengebirges, klingen von
überall her. Dazu kommt das Rauschen des gelben Stroms, der in seinem
breiten, versandeten Bette ein Rinnsal bildet, und das Quaken der
Frösche in den Tümpeln stehender Wässer seiner Ufer.
Immer noch hüpft der Knabe um den Standort des Götterbildes, das,
hervorgegangen aus den Händen des Phidias, den Wolkenversammler, den
Vater der Götter und Menschen darstellte; und ich denke daran, wie, der
Sage nach, der Gott mit seinem Blitz in die Cella schlug und auf diese
Art dem Meister seine Zufriedenheit ausdrückte. Was war das für ein
Meister und ein Geschlecht, das Blitzschlag für Zustimmung nahm! Und was
war das für eine Kunst, die Götter zu Kritikern hatte!
Die Hügel jenseits des Alpheios bilden eine Art Halbkreis, und ich
empfinde sie fast, unwillkürlich forschend hinüberblickend, als einen
amphitheatralischen Rundbau für göttliche Zuschauer. Rangen doch auf dem
schlichten Festplatz unter mir Götter und Menschen um den Preis.
Meinen Sinn zu den Himmlischen wendend, steige ich langsam wieder in das
Vergessenheit und Verlassenheit atmende Wiesental: das Tal des Zeus, das
Tal des Dionysos und der Chariten, das Tal des idäischen Herakles, das
Tal der sechzehn Frauen der Hera, wo auf dem Altar des Pan Tag und Nacht
Opfer brannten, das Tal der Sieger, das Tal des Ehrgeizes, des Ruhmes,
der Anbetung und Verherrlichung, das Tal der Wettkämpfe, wo es dem
Herakles nicht erspart blieb, mit den Fliegen zu kämpfen, die er aber
nur mit Hilfe des Zeus besiegte und dort hinüber, hinter das jenseitige
Ufer des Alpheios, trieb.
Und wieder schreite ich zwischen den grauen Trümmern hin, die eine
schöne Wiese bedecken. Überall saftiges Grün und gelbe Maiblumen. Das
Elsternpaar von gestern fliegt vor mir her. Die Säulen des Zeustempels
liegen, wie sie gefallen sind: die riesigen Porostrommeln schräg
voneinander gerutscht. Überall duftet es nach Blumen und Thymian um die
Steinmassen, die sich im wohltätigen Scheine der Morgensonne warm
anfühlen. Von einem jungen Ölbäumchen, nahe dem Zeustempel, breche ich
mir, in unüberwindlicher Lüsternheit, seltsamerweise zugleich fast scheu
wie ein Dieb, den geheiligten Zweig.

Abschiednehmend trete ich heut das zweitemal vor die Giebelfiguren des
Zeustempels, in dem kleinen Museum zu Olympia, und dann vor den Hermes
des Praxiteles. Ich lasse dahingestellt, was offenkundig diese Bildwerke
unterscheidet, und sehe in Hermes weniger das Werk des Künstlers, als
den Gott. Es ist hier möglich, den Gott zu sehen, in der Stille des
kleinen Raums, an den die Äcker und Wiesen dicht herantreten. Und so
gewiß man in den Museen der großen Städte Kunstwerke sehen kann, vermag
man hier in die lebendige Seele des Marmors besser zu dringen und fühlt
heraus, was an solchen Gebilden mehr, als Kunstwerk ist. Die
griechischen Götter sind nicht von Ewigkeit. Sie sind gezeugt und
geboren worden.
Dieser Gott ist besonders bedauernswert in seiner Verstümmelung, da ihm
eine überaus zärtliche Schönheit, ein weicher und lieblicher Adel eigen
ist. Ambrosische Sohlen sind immer zwischen ihm und der Erde gewesen.
Man hat ein Bedauern mit seiner Vereinsamung, weil die unverletzliche,
unverletzte, olympisch-weltferne Ruhe und Heiterkeit noch auf seinem
Antlitz zu lesen ist, während draußen Altäre und Tempel, fast dem
Erdboden gleichgemacht, in Trümmern liegen.
Seltsam ist die hingebende Liebe und Schwärmerei, die dem Bildner den
Meißel geführt hat, als er den Rinderdieb, den Schalk, den Täuscher, den
schlauen Lügner, den lustigen Meineidigen, den Maultier-Gott und
Götterboten darstellte, der allerdings auch die Leier erfand.

Wie schwärmende Bienen am Ast eines Baumes, so hängen die Menschen am
Zuge, während wir langsam in Patras einfahren. Lärm, Schmutz, Staub
überall. Auch noch in das Hotelzimmer dringt der Lärm ohrenbetäubend.
Geräusche, als ob Raketen platzten oder Bomben geworfen würden,
unterbrechen das Gebrüll der Ausrufer. Patras ist, nächst dem Piräus,
der wichtigste Hafenplatz des modernen Griechenland. Wir sehnen uns in
das Unmoderne.

Endlich, nachdem wir eine Nacht hier haben zubringen müssen, sitzen wir,
zur Abfahrt fertig, wieder im Bahncoupé. Vor den Türen der Waggons
spielt sich ein tumultuarisches Leben mit allerlei bettelhaften Humoren
ab. Ein junger, griechischer Bonvivant schenkt einem zerlumpten,
lümmelhaft aussehenden Menschen Geld, zeigt flüchtig auf einen der
jugendlichen Händler, die allerlei Waren feilbieten, und sofort stürzt
sich der bezahlte, tierische Halbidiot auf eben den Händler und walkt
ihn durch. Noch niemals habe ich überhaupt binnen kurzer Zeit so viele,
wütende Balgereien gesehen. An zwei, drei Stellen des Volksgewimmels
klatschen fast gleichzeitig die Maulschellen. Man verfolgt, bringt zu
Fall, bearbeitet gegenseitig die Gesichter mit den Fäusten: alles, wie
wenn es so sein müßte, in großer Harmlosigkeit.

Zu den schönsten Bahnlinien der Welt gehört diejenige, die von Patras,
am Südufer des korinthischen Golfes entlang, über den Isthmus nach Athen
führt. Der Golf und seine Umgebung erinnern an die Gegenden des
Gardasees. Paradiesische Farbe, Glanz, Reichtum und Fülle in einer
beglückten Natur. Der Isthmus zeigt einen anderen Charakter:
Weideflächen, vereinzelte Hirten und Niederlassungen. Am Nordrand durch
Hügel begrenzt, die, bedeckt von den Wipfeln der Aleppo-Kiefer, zum
Wandern anlocken. Alles ist hier von einer erfrischenden, beinahe
nordischen Einfachheit.
Die grünen Flächen der Landenge liegen in beträchtlicher Höhe über dem
Meere. Nach den großartigen und prunkhaften Wirkungen des
peloponnesischen Nordufers überrascht diese schlichte und herbe
Landschaft und berührt wohltätig. Eine Empfindung kommt über mich, als
sähe ich diese Fluren nicht zum ersten Mal. Das Vertraute daran ist, was
überrascht. Ich kann nicht sagen, daß mich etwa je auf der italienischen
Halbinsel eine Empfindung des Heimischen, so wie hier, beschlichen
hätte. Dort blieb immer der Reiz: das schöne Fremdartige. Ich spüre
schon jetzt: ich liebe dies Land. Schon jetzt, im Anfang, erfaßt die
Erkenntnis mich, wie ein Rausch, daß eben nur dieser Grund die wahre
Heimat der Griechen sein konnte.
Ich spreche den Namen Theseus aus. Und nun hat sich in mir ein
psychischer Vorgang vollzogen, der mich, angesichts des isthmischen,
ernsten Landgebiets, der griechischen Art, sich Halbgötter vorzustellen,
näher bringt. Ich empfinde und sehe in Theseus den Mann von Fleisch und
Blut, der wirklich gelebt und dessen Fuß diese Landenge überschritten
hat; der, zum Heros gesteigert, noch immer so viel vom Menschen besaß,
als vom Gott und auch so noch mit der Stätte seines Wanderns und Wirkens
verbunden blieb.
Warum scheuen wir uns und erachten für trivial, unsere heimischen
Gegenden, Berge, Flüsse, Täler zu besingen, ja, ihre Namen nur zu
erwähnen in Gebilden der Poesie? Weil alle diese Dinge, die als Natur
jahrtausendelang für teuflisch erklärt, nie wahrhaft wieder geheiligt
worden sind. Hier aber haben Götter und Halbgötter, mit jedem weißen
Berggipfel, jedem Tal und Tälchen, jedem Baum und Bäumchen, jedem Fluß
und Quell vermählt, alles geheiligt. Geheiligt war das, was über der
Erde, auf ihr und in ihr ist. Und rings um sie her, das Meer, war
geheiligt. Und so vollkommen war diese Heiligung, daß der Spätgeborene,
um Jahrtausende Verspätete, daß der Barbar noch heut -- und sogar in
einem Bahncoupé -- von ihr im tiefsten Wesen durchdrungen wird.
Man muß die Bäume dort suchen, wo sie wachsen, die Götter nicht in einem
gottlosen Lande, auf einem gottlosen Boden. Hier aber sind Götter und
Helden Landesprodukte. Sie sind dem Landmann gewachsen, wie seine
Frucht. Des Landbauers Seele war stark und naiv. Stark und naiv waren
seine Götter.
Theseus, um es noch einmal zu sagen, ist also für mich kein
riesenmäßiger, leerer Schemen mehr, ich empfinde ihn einerseits nah,
schlicht und materialisch, als Kind der Landschaft, die mich umgibt.
Andererseits erkenne ich ihn als das, wozu ihn die Seele des Griechen
erhoben hat, die aber doch Gott, wie Landeskind, an die Heimat bannte.
Die Landschaft behält, von einer Strecke dicht über dem Meere abgesehen,
fortan den ernsten Ausdruck. Der Abend beginnt zu dämmern, ja,
verdüstert sich zu einer großartigen Schwermut, von einem Zauber, der
eher nordisch, als südlich ist. Es fällt lauer Regen. Das graue Megara,
das einen Hügel überzieht, wirkt wie eine geplünderte Stadt. Zwischen
Schutthaufen, in ärmlichen Winkeln halb eingestürzter Häuser, scheinen
die Menschen zu leben. Man glaubt eine Stadt zu sehen, über die ein
Eroberer mit Raub, Brand und Mord seinen Weg genommen hat.
Kurz hinter Eleusis steigt der Zug nochmals bergan, durch die Vorhöhen
des Parnes. Bei tieferer Dunkelheit, zunehmendem Regen und kalter Luft
kommt mir die steinigte Einöde, in die ich hineinstarre, fast norwegisch
vor. Ich bin sehr glücklich über den Wetterumschlag, der mir die
ungesunde Vorstellung eines ewiglachenden Himmels nimmt. Die Gegend ist
menschenleer. Nur selten begegnet die dunkle Gestalt eines Hirten,
aufrecht stehend, dicht in den wolligen Mantel gehüllt. Und während der
kalte und feuchte Wind meine Stirne kühlt, Regentropfen mir ins Gesicht
wirft, und ich die starke, kalte Regen- und Bergluft in mich einsauge,
hat sich ein neues Band geknüpft zwischen meinem Herzen und diesem
Lande.
Was Wunder, wenn durch die Erregung der langen Fahrt, in Dunkelheit, in
Wind und Wetter, einer höchsten Erfüllung nah, die Seele in einen
luziden Zustand gerät, wo es ihr möglich wird, von allem Störenden
abzusehen und deutliche Bilder längst vergangenen Lebens in die
phantastische, sogenannte Wirklichkeit hineinzutragen. Fast erlebe ich
so den tapferen Bergmarsch eines Trupps atheniensischer Jünglinge, etwa
zur Zeit des Perikles, und freue mich, wie sie, gesund und wetterhart,
der Unbill von Regen und Wind, wie wir selbst es gewohnt sind, wenig
achten. Ich lerne die ersten Griechen kennen. Ich freunde mich an mit
diesem Schwarm, ich höre die jungen Leute lachen, schwatzen, rufen und
atmen. Ich frage mich, ob nicht vielleicht am Ende Alcibiades unter
ihnen ist? Es ist mir, als ob ich auch ihn erkannt hätte! Und dies
Erleben wird so durchaus eine Realität, daß irgend etwas so Genanntes
für mich mehr Realität nicht sein könnte.
Wir rollen hinab in die attische Ebene. Die Lichter einer Stadt, die
Lichter Athens, tauchen ferne auf. Das Herz will mir stocken ...
Ein grenzenloses Geschrei, ein Gebrüll, das jeder Beschreibung spottet,
empfängt uns am Bahnhof von Athen. Mehrere hundert Kehlen von Kutschern,
Gepäckträgern und Hotelbediensteten überbieten sich. Ich habe einen
solchen Schlachttumult bis diesen Augenblick, der meinen Fuß auf
athenischen Boden stellt, nicht gehört. Die Nacht ist dunkel, es gießt
in Strömen.

Eine Stadt, wie das moderne Athen, das sich mit viel Geräusch zwischen
Akropolis und Lykabethos einschiebt, muß erst in einem gewissen Sinn
überwunden werden, bevor der Geist sich der ersehnten Vergangenheit
ungestört hingeben kann. Zum dritten Mal bin ich nun im Theater des
Dionysos, dessen sonniger Reiz mich immer aufs neue anlockt. Es hält
schwer, sich an dieser Stelle in die furchtbare Welt der Tragödie zu
versetzen, hier, wo sie ihre höchste Vollendung gefunden hat. Das, was
ihr vor allem zu eignen scheint, das Nachtgeborene, ist von den Sitzen,
aus der Orchestra und von der Bühne durch das offene Licht der Sonne
verdrängt. Weißer und blendender Dunst bedeckt den Himmel, der Wind weht
schwül, und der Lärm einer großen Stadt mit Dampfpfeifen, Wagengerassel,
Handwerksgeräuschen und dem Geschrei der Ausrufer überschwemmt und
erstickt, von allen Seiten herandringend, jedweden Versuch zur
Feierlichkeit.
Was aber auch hier sogleich in meiner Seele sich regt und festnistet,
fast jeder andren Empfindung zuvorkommend, ist die Liebe. Sie gründet
sich auf den schlichten und phrasenlosen Ausdruck, den hier die Kunst
eines Volkes gewonnen hat. Alles berührt hier gesund und natürlich, und
nichts in dieser Anlage erweckt den Eindruck zweckwidriger Üppigkeit
oder Prahlerei. Irgendwie gewinnt man, lediglich aus diesen
architektonischen Resten, die Empfindung von etwas Hellem,
Klar-Geistigem, das mit der Göttin im Einklang steht, deren
kolossalisches Standbild auf dem hinter mir liegenden Felsen der
Akropolis errichtet war, und deren heilig gesprochenen Vogel, die Eule,
man aus den Löchern der Felswand, und zwar in den lichten Tag und bis in
die Sitzreihen des Theaters hinein, rufen hört.
Ich wüßte nicht, wozu der wahrhaft europäische Geist eine stärkere Liebe
fühlen sollte, als zum Attischen. Bei Diodor, den ich leider nur in
Übersetzung zu lesen verstehe, wird gesagt: die alten Ägypter hätten der
Luft den Namen Athene gegeben, und Glaukopis beziehe sich auf das
himmlische Blau der Luft. Der Geist, der hier herrschte, blieb leicht
und rein und durchsichtig, wie die attische Luft, auch nachdem das
Gewitter der Tragödie sie vorübergehend verfinstert, der Strahl des Zeus
sie zerrissen hatte.
Als höchste menschliche Lebensform erscheint mir die Heiterkeit: die
Heiterkeit eines Kindes, die im gealterten Mann oder Volk entweder
erlischt, oder sich zur Kraft der Komödie steigert. Tragödie und Komödie
haben das gleiche Stoffgebiet: eine Behauptung, deren verwegenste
Folgerungen zu ziehen, der Dichter noch kommen muß. Der attische Geist
erzeugt, wie die Luft eines reinen Herbsttages, in der Brust jenen
wonnigen Kitzel, der zu einem beinahe nur innen spürbaren Lachen reizt.
Und dieses Lachen, durch den Blick in die Weite der klaren Luft genährt,
kann sich wiederum bis zu jenem steigern, das im Tempel des Zeus gehört
wurde, zu Olympia, als die Sendboten des Caligula Hand anlegten, um das
Bild des Gottes nach Rom zu schleppen.
Man soll nicht vergessen, daß Tragödie und Komödie volkstümlich waren.
Es sollen das diejenigen nicht vergessen, die heute in toten Winkeln
sitzen. Beide, Tragödie, wie Komödie, haben nichts mit schwachen,
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