Griechischer Frühling - 5

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Traumes, den ich zuweilen in meiner Jugend gehabt habe, und der mir
jedesmal eine Schwermut in der Seele ließ, da er mir etwas, wie eine
unwiederbringliche, arkadische Wonne, schattenhaft vorgaukelte. Ich sah
dann stets einen sonnigen, von alten Buchen bestandenen Hang, auf dem
ich mit anderen kleinen Kindern bläuliche Leberblümchen abpflückte, die
sich durch trockenes, goldbraunes Laub zum Lichte hervorgedrängt hatten.
Mehr war es nicht. Ich nehme an, daß dieser Traum nichts weiter, als die
Erinnerung eines besonders schönen, wirklich durchlebten
Frühlingsmorgens war, aber es scheint, daß ein erstes Genießen der
goldenen Lust, zu der sich die Sinne des Kindes erschlossen, das
unvergeßliche Glück dieser kurzen Stunde gewesen ist.
Ich liege auf olympischer Erde ausgestreckt. Ich bin, wie ich fühle, zum
Ursprung meines Kindestraumes zurückgekehrt. Ja, es ward mir noch
Höheres vorbehalten! Mit reifem Geist, mit bewußten, viel umfassenden
Sinnen, im vollen Besitz aller schönen Kräfte einer entwickelten Seele,
ward ich auf dieses feste Erdreich so vieler ahnungsvoll-grundloser
Träume gestellt, in eine Erfüllung ohnegleichen hinein.
Und ich strecke die Arme weit von mir aus und drücke mein Gesicht
antäos-zärtlich zwischen die Blumen in diese geliebte Erde hinein. Um
mich beben die zarten Grashalme. Über mir atmen die niedrigen Wipfel der
Kiefern weich und geheimnisvoll. Ich habe in mancher Wiese bei
Sonnenschein auf dem Gesicht oder Rücken gelegen, aber niemals ging von
dem Grunde eine ähnliche Kraft, ein ähnlicher Zauber aus, noch drang aus
hartem Geröll, das meine Glieder kantig zu spüren hatten, wie hier ein
so heißes Glück in mich auf.
Ich bin auf der Rückfahrt von Eleusis nach Athen wieder in diese
lieblichen Berge gelangt. Die heilige Straße liegt unter mir, die Athen
mit Eleusis verbindet. Herden von Schafen und Ziegen, die in dem grauen
Gestein der Talabhänge umhersteigen, grüßen von da und dort mit ihrem
Geläut, das, melodisch glucksend, an die Geräusche eines plaudernden
Bächleins erinnert.
In der Nähe beginnt ein Kuckuck zu rufen, zunächst allein: und heiter
gefragt, schenkt er mir drei Jahrzehnte als Antwort. Es ist mir genug!
Nun tönt aus den Kiefernhainen von jenseit des heiligen Weges ein
zweiter Prophet: und beide Propheten beginnen und fahren lange Minuten
unermüdet fort, sich trotzig und wild, über die ganze Weite des
Bergpasses hin, wahrscheinlich widersprechende Prophezeiungen zuzurufen.
Und wieder spüre ich um mich das Hallende. Die Rufe der streitenden
Vögel wecken einen gespenstisch verborgenen Schwarm ihresgleichen zu
einem Durcheinander von kämpfenden Stimmen auf und mit einer nur
geringen Kraft der Einbildung höre ich den Lärm des heiligen
Fackelzuges, von Athen gen Eleusis, aus den Bergen zurückschlagen.

Emporgestiegen zu den Gipfeln habe ich rings umher graues Geröll eines
Bergrückens, Krüppelkiefern und Thymian, Mittagshitze und Mittagslicht.
Unter mir liegen eingeschlossene Steintäler, verlassen und großartig
pastoral. Hohe peloponnesische Schneeberge, Hymettos, Likabethos und
Pentelikon schließen rings den Gesichtskreis ein. Der saronische Golf
und die eleusinische Bucht leuchten herauf mit blauen Gluten. In heißen,
zitternden Wolken, zieht überall würzig-bitterer Kräuterduft. Überall
summen die Bienen der Demeter.

Wir betreten heute, gegen zehn Uhr abends, im Lichte des Vollmonds die
Akropolis. Meine Erwartung, nun gleichsam alle Gespenster der Burg
lebendig zu sehen, erfüllt sich nicht: Es müßte denn sein, daß sie alle
in dem heiligen Äther aufgelöst seien, der den ganzen Tempelbezirk
entmaterialisiert.
Mehr wie am Tage empfinde ich heut, und schon auf den Stufen der
Propyläen, das Heiligtum, das Bereich der Götter. Ich zögere, weiter zu
schreiten. Ich lasse mich im tiefen Schlagschatten einer Säule nieder
und blicke über die Stufen zurück, die ich mir in die magisch-klare
Tiefe fortgesetzt denke. Zum erstenmal verbindet sich mir das Ganze mit
dem höheren Geistesleben, besonders des Perikleischen Zeitalters, dem
der Burgfelsen seine letzte und höchste Weihe verdankt. Das Wirkliche
wird im Lichte des Mondes schemenhaft unwirklich, und diesem
Unwirklich-Wirklichen können sich historische Träume leichter
angleichen.
Als vermöchte der Mond Wärme auszuströmen, so warm ist die Luft und dazu
klar und still: das Zwitschern der Fledermäuse kommt aus dem Licht-Äther
unter uns. Man fühlt, wie in solchem göttlichen Äther atmend und
heimisch in diesem heiligen Bezirk, erlauchte Menschen mit Göttern
gelebt haben. Hier, über den magischen Abgrund hinausgehoben, in einen
unsäglich zarten, farbigen Glanz, war der Denker, der Staatsmann, der
Priester, der Dichter, in Nächten wie diese, mit den Göttern auf
gleichen Fuß gestellt und atmete, in naher Vertraulichkeit, mit ihnen
die gleiche elysische Luft.
Man müßte von einem nächtlichen Blühen dieses am Tage so schroffen und
harten, arg mitgenommenen Olympes reden, von einem Blühen, das
unerwartet und außerirdisch die alte vergessene Götterglorie um seine
Felskanten wiederherstellt.
Der Parthenon, von der Hymettosseite gesehen, ist in dieser Nacht nicht
mehr das Gebilde menschlicher Bauleute. Diese scheinen vielmehr nur
einem göttlichen Plane dienstbar gewesen zu sein, das Irdische gewollt,
das Himmlische aber vollbracht zu haben. In diesem Tempel ist jetzt
nichts Drohendes, nichts Düsteres, nichts Gigantisches mehr, und seine
Steinmasse, seine irdische Schwere scheint verflüchtigt. Er ist nur ein
Gebilde der Luft, von den Göttern selbst in einen göttlichen Äther
hineingedacht und hervorgerufen. Er ist nicht aus totem Marmor
zusammengefügt, er lebt! von innen heraus warm und farbig leuchtend,
führt er das selige Dasein der Götter. Alles an ihm wird getragen,
nichts trägt. Oder aber, es kommt ein Gefühl über dich, daß, wenn du,
mit deinem profanen Finger, eine der Säulen zu berühren nicht
unterlassen könntest, diese sogleich zu Staub zerspringen würde vor
Sprödigkeit.
In dieser Stunde kommt uns die Ahnung von jenem Sein, das die Götter in
ihrer Verklärung führen, von irdischen Obliegenheiten befreit. Auch
Götter hatten Erdengeschäfte. Wir ahnen, von welchem Boden Platon zu
seiner Erkenntnis der reinen Idee sich aufschwang. Welche Bereiche
erschlossen sich in solchen schönheitstrunkenen Nächten, die warm und
kristallklar zu ein und demselben Element mit den Seelen wurden ...
welche Bereiche erschlossen sich den Künstlern und Philosophen hier, als
den Gästen und nahen Freunden der Himmlischen!
Und damals, wie heute, drang, wie aus den Zelten eines Lustlagers,
Gesang und Geschrei herauf aus der Stadt. Man braucht die Augen nicht zu
schließen, um zu vergessen, daß jenes dumpfe Gebrause aus der Tiefe der
Lärm des Athens von heute ist: vielmehr hat man Mühe das festzuhalten.
In dieser Stunde, im Glanze des unendlichen Zaubers der Gottesburg,
pocht und bebt und rauscht für den echten Pilger in allem der alte Puls.
Und seltsam eindringlich wird es mir, wie das Griechentum zwar begraben,
doch nicht gestorben ist. Es ist sehr tief, aber nur in den Seelen
lebendiger Menschen begraben und wenn man erst alle die Schichten von
Mergel und Schlacke, unter denen die Griechenseele begraben liegt,
kennen wird, wie man die Schichten kennt, über den mykenäischen,
trojanischen oder olympischen Fundstellen alter Kulturreste, aus Stein
und Erz, so kommt auch vielleicht für das lebendige Griechenerbe die
große Stunde der Ausgrabung.

Wir stehen auf dem hohen Achterdeck eines griechischen Dampfers und
harren der Abfahrt. Der Lärm des Piräus ist um uns und unter uns. Wir
wollen gen Delphi, zum Heiligtum des Apoll und Dionysos.
Mehr gegen den Ausgang des Hafens liegt ein weiß angestrichenes Schiff,
ein Amerikafahrer, rings um ihn her auf der Wasserfläche, über die er
emporragt, steht, wie auf Dielen, nämlich in kleinen Booten, eng
gedrängt, eine Menschenmenge. Es sind griechische Auswanderer, Leute,
die das verwunschene Land der Griechenseele nicht ernähren mag.
Dem Hafengebiet entronnen, genießen wir den frischen Luftzug der Fahrt.
Unsere Herzen beleben sich. Wir passieren das kahle Inselchen, hinter
dem die Schlacht bei Salamis ihren Verlauf genommen hat, den niedrigen
Küstenzug, wo Xerxes seinen gemächlichen Thron errichten und vorzeitig
abbrechen ließ. Der ganze, bescheidene Schauplatz deutet auf enge
maritime Verhältnisse.
Die bergige Salamis öffnet in die fruchtbare Fülle des Innern ein weites
Tal. Liebliche Berglehnen, Haine und Wohnstätten werden dem Seefahrer
verlockend dargeboten: alles zum Greifen nahe! und es ist wie ein
Abschied, wenn er vorüber muß.
Man weist uns Megara. Wir hätten es von der See aus nicht wiedererkannt:
Megara, jetzt nur gespenstisch und bleich von seinen Hügeln winkend, die
Stadt, die Konstantinopel gegründet hat. Wir werden den Weg der
megarensischen Schiffe in einigen Wochen ebenfalls einschlagen.
Wenn wir nicht, wie bisher, über Steuerbord unseres Dampfers
hinausblicken, sondern über seine Spitze, so haben wir in der Ferne
alpine Schneegipfel des Peloponnes vor uns, darunter, vereinzelt, den
drohenden Felsen der Burg von Korinth.
Wir suchen durch den zitternden Luftraum dieser augenblendenden Buchten
den Standort des äginetischen Tempels auf, und meine Seele saugt sich
fest an die lieblichen Inselfluren von Ägina. Warum sollten wir uns in
der vollen Muße der Seefahrt, zwischen diesen geheiligten Küsten, der
Träume enthalten und nicht der lieblichen Jägerin Britomartis
nachschleichen, einer der vielen Töchter des Zeus, von der die Ägineten
behaupteten, daß sie alljährlich von Kreta herüberkäme, sie zu besuchen.
Gibt es wohl etwas, das wundervoller anmutete, als die nüchterne
Realität einer Mitteilung des Pausanias, etwa Britomartis angehend, wo
niemals die Existenz eines Mitglieds der Götterfamilie, höchstens hie
und da ein lokaler Anspruch der Menschen mit Vorsicht in Zweifel gezogen
ist.
Nicht nur die Vasenmalereien beweisen es, daß der Grieche sich in allen
Formen des niederen Eros auslebte: aber der schaffende Geist, der solche
Gestalten, wie Britomartis, entstehen ließ und ihnen ewige Dauer
beilegte, mußte das Element der Reinheit, in Betrachtung des Weibes,
notwendig in sich bergen, aus dem sie besteht: keusch, frisch,
unbewußt-jungfräulich, ist Britomartis im Stande glückseliger Unschuld
bewahrt worden. Sie hat mit Amazonen und Nonnen nichts gemein. Es ist in
ihr weder Männerhaß noch Entsagung, sondern sie stellt, mit dem freien,
behenden Gang, dem lachenden Sperberauge, der Freude an Wald, Feld und
Jagd, die gesunde Blüte frischen und herben Magdtums verewigt dar.
Überall auf der Fahrt sind Inseln und Küstenbereiche von lieblicher
Intimität, und es ist etwas Ungeheueres, sich vorzustellen, wie hier die
Phantasie eines Volkes, in dem die ungebrochene Weltanschauung des
Kindes neben exakter und reifer Weisheit des Greisenalters fortbestand,
jede Krümmung der Küste, jeden Pfad, jeden nahen Abhang, jeden fernen
und ferneren Felsen und Schneegipfel mit einer zweiten Welt göttlich
phantastischen Lebens bedeckt und bevölkert hat. Es ist ein Gewirr von
Inseln, durch das wir hingleiten, uns jener Stätte mit jeder Minute
nähernd, wo, gleichsam aus einem dunklen Quell, diese zweite Welt mit
Rätselworten zurück ins reale Leben wirkte und damit zugleich die
Atmosphäre des Heimatlandes mit neuem, phantastischem Stoff belud. Es
gibt bei uns keine Entwicklung des spezifisch Kindlichen, das stets
bewegt, stets gläubig und sprudelnd von Bildern ist, zum Weinen bereit
und gleich schnell zum Jauchzen, zum tiefsten Abgrund hinabgestürzt und
gleich darauf in den siebenten Himmel hinaufgeschnellt, glückselig im
Spiel, wo nichts das vorstellt, was es eigentlich ist, sondern etwas
anderes, Erwünschtes, wodurch das Kind es sich, seinem Wesen, seinem
Herzen zu eigen macht.
Der große Schöpfungsakt des Homer hat dem kosmischen Nebel der
Griechenseele den reichsten Bestand an Gestalten geschenkt, und die
Zärtlichkeit, die der spätere Grieche ihnen entgegentrug, zeigt sich
besonders in mancher Mythe, die wieder lebendig zu machen unternimmt,
was der blinde Homer vor den Schauern des Hades nicht zu retten
vermochte. Ich weiß nicht, ob hier herum irgendwo Leuke ist, aber ich
wüßte keine Sage zu nennen, die tiefer in das Herz des Griechen
hineinleuchtete, als jene, die Helena dem Achill zur Gattin gibt und
beide in Wäldern und Tempelhainen der abgeschiedenen kleinen Insel Leuke
ein ewig seliges Dasein führen läßt.

Unser Dampfer ist vor dem Eingang zum isthmischen Durchstich angelangt
und einige Augenblicke stillgelegt. Mein Wunsch ist, wiederzukehren und
besonders auch auf dem herrlichen Isthmus umherzustreifen, dieser
gesunden und frischen Hochfläche, die würdig wäre, von starken,
heiteren, freien und göttlichen Menschen bewohnt zu sein, die noch nicht
sind. Das Auge erquickt sich an weitgedehnten, hainartig lockeren
Kieferbeständen, deren tiefes und samtenes Grün, auf grauen,
silbererzartigen Klippen, hoch an die blaue Woge des Meeres tritt. Auf
diesen bewaldeten Höhen zur Linken hat man den Platz der isthmischen
Spiele zu suchen. Man sollte meinen, daß keiner der zahllosen
Spielbezirke freier und in Betrachtung des ganzen Griechenlandes
günstiger lag, und ferner: daß nirgend so belebt und im frischen Zuge
der Seeluft überschäumend die heilige Spiellust des Griechen sich habe
auswirken können, wie hier.
Die Einfahrt in den Durchstich erregt uns seltsamerweise feierliche
Empfindungen. Die Passagiere werden still, im plötzlichen Schatten der
gelben Wände. Wir blicken schweigend zwischen den ungeheuren,
braungelben Schnittflächen über uns und suchen den Streifen Himmelsblau,
der schmal und farbig in unseren gelben Abgrund herableuchtet.
Kleine, taumelnde, braun-graue Raubvögel scheinen in den Sandlöchern
dieser Wände heimisch, ja, der Farbe nach, von ihnen geboren zu sein.
Eine Krähe, wahrscheinlich von unserm Dampfer aufgestört, strebt,
ängstlich gegen die Wände schlagend, an die Oberfläche der Erde hinauf.
Nun bin ich nicht mehr der späte Pilger durch Griechenland, sondern eher
Sindbad der Seefahrer, und einige Türken, vorn an der Spitze des
rauschenden Schiffes, jeder mit seinem roten Fez längs der gelblichen
Ockerschichten gegen den Lichtstreif des Ausganges hingeführt,
befestigen diese Illusion.
Der Golf von Korinth tut sich auf. Aber während wir noch zwischen nahen
und flachen Ufern hingleiten, denn wir haben die weite Fläche des Golfes
noch nicht erreicht, werden wir an einem kleinen Zigeunerlager
vorübergeführt und sehen, auf einer Art Landungssteg, zerlumpte Kinder
der, wie es scheint, auf ein Fährboot wartenden Bande mit wilden
Sprüngen das Schiff begrüßen.
Nach einiger Zeit, während wir immer zur Linken das neue Korinth, die
weite, mit Gerstenfeldern bestandene Fläche des einstigen alten, das von
dem gewaltigen Felsen Akrokorinth drohend beschattet wurde und die
bergigen Küsten des Peloponnes vor Augen hatten, eröffnet sich zur
Rechten eine Bucht mit den schneebedeckten Gipfeln des Helikon. Eine
Stunde und länger bleibt er nun, immer ein wenig rechts von der
Fahrtrichtung, sichtbar, hinter niedrigen, nackten Bergen, die
vorgelagert sind. Die Luft war bis hierher schwül und still, nun aber
fällt ein kühler Wind von den Höhen des Heiligen Berges herab und in
einige Segel, die leicht und hurtig vor ihm her über das blaue Wasser
des Golfes vorüberschweben.
Aller Schönheit geht Heiligung voraus. Nur das Geheiligte in der
Menschennatur konnte göttlich werden, und die Vergötterung der Natur
ging hervor aus der Kraft zu heiligen, die zugleich auch Mutter der
Schönheit ist. Wir haben heut eine Wissenschaft von der Natur, die
leider nicht von einem heiligen Tempelbezirk umschlossen ist. Immerhin
ist sie, und Wissenschaft überhaupt, eine gemeinsame Sache der Nation,
ja der Menschheit geworden. Was auf diesem Gebiete geleistet wird, ist
schließlich und endlich ein gemeinsames Werk. Dagegen bleiben die reinen
Kräfte der Phantasie heute ungenützt und profaniert, statt daß sie am
großen sausenden Webstuhl der Zeit gemeinsam der Gottheit lebendiges
Kleid wie einstmals wirkten.
Und deshalb, weil die Kräfte der Phantasie heut vereinzelt und
zersplittert sind und keine gemäße Umwelt (das heißt: keinen Mythos)
vorfinden, außer jenem, wie ihn eben das kurze Einzelleben der
Einzelkraft hervorbringen kann, so ist für den Spätgeborenen der
Eintritt in diese unendliche, wohlgegründete Mythenwelt zugleich so
beflügelnd, befreiend und wahrhaft wohltätig.
Sollte man nicht einer gewissen, nur persönlichen Erkenntnis ohne
Verantwortung nachhängen dürfen, die den gleichen Vorgang, der jemals
etwas wie eine Tragödie oder Komödie schuf, als Ursprung des ganzen
Götterolymps, als Ursprung des gesamten, jenem angenäherten Kreises von
Heroen und Helden sieht? Wo sollte man jemals zu dergleichen den Mut
gewinnen, wenn nicht auf einem Schiffe im Golf von Korinth, im
Angesichte des Helikon? Warum hätte sonst Pan getanzt, als Pindar
geboren worden war? und welche Freude muß unter den Göttern des Olymps,
von Zeus bis zu Hephaistos und Aidoneus hinunter, ausgebrochen sein, als
Homer und mit ihm die Götterwelt aufs neue geboren wurde.
Die ersten Gestalten des ersten Dramas, das je im Haupte des Menschen
gespielt wurde, waren »ich« und »du«. Je differenzierter das
Menschenhirn, um so differenzierter wurde das Drama! um so reicher auch
an Gestalten wurde es und auch um so mannigfaltiger, besonders deshalb,
weil im Drama eine Gestalt nur durch das, was sie von den übrigen
unterscheidend absetzt, bestehen kann. Das Drama ist Kampf und ist
Harmonie zugleich, und mit der Menge seiner Gestalten wächst auch der
Reichtum seiner Bewegungen: und also, in steter Bewegung Gestalten
erschaffend, in Tanz und Kampf miteinander treibend, wuchs auch das
große Götterdrama im Menschenhirn, zu einer Selbständigkeit, zu einer
glänzenden Schönheit und Kraft empor, die jahrtausendelang ihren
Ursprung verleugnete.
Polytheismus und Monotheismus schließen einander nicht aus. Wir haben es
in der Welt mit zahllosen Formen der Gottheit zu tun, und jenseit der
Welt mit der göttlichen Einheit. Diese eine, ungeteilte Gottheit ist nur
noch ahnungsweise wahrnehmbar. Sie bleibt ohne jede Vorstellbarkeit.
Vorstellbarkeit ist aber das wesentliche Glück menschlicher Erkenntnis,
dem darum Polytheismus mehr entspricht. Wir leben in einer Welt der
Vorstellungen, oder wir leben nicht mehr in unserer Welt. Kurz: wir
können irdische Götter nicht entbehren, wenngleich wir den Einen,
Einzigen, Unbekannten, den Alleinen, hinter allem wissen. Wir wollen
sehen, fühlen, schmecken und riechen, disharmonisch harmonisch das ganze
Drama der Demiurgen, mit seinen olympischen und plutonischen
Darstellern. Im »Christentum« macht der Sohn Gottes einen verunglückten
Besuch in dieser Welt, bevor er sie aufgibt und also zertrümmert. Wir
aber wollen sie nicht aufgeben, unsere Mutter, der wir verdanken, was
wir sind, und wir bleiben im Kampf, verehren die kämpfenden Götter, die
menschennahen; freilich vergessen wir auch den menschenfernen, den Gott
des ewigen Friedens nicht.

Ein kalter Gebirgswind empfängt uns bei der Einfahrt in die Bucht von
Galaxidhi, den alten Krisäischen Meerbusen, und überraschenderweise
scheint es mir, als liefe unser Schiff in einen Fjord und wir befänden
uns in Norwegen, statt in Griechenland. Beim Anblick der Nadelwälder,
von denen die steile Flanke der Kiona bedeckt ist, erfüllt mich das
ganze starke und gesunde Bergglück, das mir eingeboren ist. Es zieht
mich nach den Gipfeln der waldreichen Kiona hinauf, wohin ich die
angestrengten Blicke meiner Augen aussende, als vermöchte ich dort noch
heut einen gottselig begeisterten Schwarm rasender Bacchen zwischen den
Stämmen aufzustöbern. Es liegt in mir eine Kraft der Zeitlosigkeit, die
es mir, besonders in solchen Augenblicken, möglich macht, das Leben als
eine große Gegenwart zu empfinden: und deshalb starre ich immer noch
forschend hinauf, als ob nicht Tausende von Jahren seit dem letzten
Auszug bacchischer Schwärme vergangen wären, und es klingt in mir
ununterbrochen:
Dahin leite mich, Bromios, der die bacchischen Chöre führt!
Da sind Chariten, Liebe da,
Da dürfen frei die Bacchen Feste feiern.
Wer hält es sich immer gegenwärtig, daß die Griechen ein Bergvolk
gewesen sind? Während wir uns Ithea nähern, tiefer und tiefer in einen
ernsten Gebirgskessel eingleitend, erlebe ich diese Tatsache innerlich
mit besonderer Deutlichkeit. Die Luft gewinnt an erfrischender Stärke.
Die Formen der Gipfel stehen im tiefen und kalten Blau des Himmels kalt
und klar, und jetzt erstrahlt uns zur Rechten, hoch erhaben über der in
abendlichen Schatten dämmernden Bucht, hinter gewaltig vorgelagerten,
dunkel zerklüfteten, kahlen Felsmassen ein schneebedecktes parnassisches
Gipfelbereich.
Nun, wo die Sonne hinter der Kiona versunken ist und chthonische Nebel
langsam aus den tiefen Flächen der Felsentäler, Terrassen und Risse
verdüsternd aufsteigen, steht der Höhenstreif des heiligen Berges Parnaß
noch in einem unwandelbar makellosen und göttlichen Licht. Mehr und
mehr, indes das Schiff bereits seinen Lauf verlangsamt hat, erdrückt
mich eine fast übergewaltige Feierlichkeit.
Man fühlt zugleich, daß man hier nicht mehr im Oberflächenbereich der
griechischen Seele ist, sondern den Ursprüngen nahe kommt, nahe kommt in
dem Maße, als man sich dem Kern der griechischen Landschaft annähert.
Man findet sich hier einer großen Natur gegenübergestellt, die nordische
Rauheit und nordischen Ernst mit der Weichheit und Süße des Südens
vereinigt, die hier und dort ringsumher beschneite Berggipfel in den
nahen Höhenäther gehoben hat, deren Flanken bis zur Fläche des südlichen
Golfes herabreichen, bis an die Krisäische Talsohle, die in gleicher
Ebene, einen einzigen, weitgedehnten Ölwald tragend, den Grund des Tales
von Krisa erfüllt. Man fühlt, man nähert sich hier den Urmächten, die
sich den erschlossenen Sinnen eines Bergvolks, nicht anders wie das
Wasser der Felsenquellen, die Frucht des Ölbaums oder des Weinstocks,
darboten, so daß der Mensch, gleichwie zwischen Bergen und Bäumen,
zwischen Abgründen und Felswänden, zwischen Schafen und Ziegen seiner
Herden oder im Kampf, zwischen Raubtieren, auch allüberall unter
Göttern, über Göttern und zwischen göttlichen Mächten stand.

Wir steigen, angelangt in Ithea, in einen Wagen, vor den drei Pferde
gespannt sind. Die Fahrt beginnt, und wir werden durch Felder grüner
Gerste in das Tal von Krisa hineingeführt. Im Getreide tauchen hie und
da Ölbäume auf, und mehr und mehr, bis sie zu Hainen zusammentreten und
wir zu beiden Seiten der staubigen Straße von Olivenwäldern begleitet
sind. Im Halblicht unter den Wipfeln liegen quadratisch begrenzte
Wasserflächen. Nicht selten steigt ein gewaltiger Baum daraus empor,
scheinbar mit seinem Stamme in einem glattpolierten Spiegel aus dunklem
Silber wurzelnd, einem Spiegel, der einen zweiten Olivenbaum, einen
rötlichen Abendhimmel und einen anderen, nicht minder strahlenden
Parnassischen Gipfel zeigt.
Bauern, die aus den Feldern heimwärts nach den Wohnungen im Gebirge
streben, werden von uns im Dämmer der Waldstraße überholt. Es scheint
ein in mancher Beziehung veredelter deutscher Schlag zu sein, so überaus
vertraut in Haltung, Gang und Humor, in den Proportionen des Körpers,
sowie des Angesichts, mit dem blonden Haar und dem blauen Blick, wirken
auf mich die Trupps der Landleute. Wir lassen zur Linken ein eilig
wanderndes und mit einer dunklen Genossin plauderndes, blondes Mädchen
zurück. Sie ist frisch und derb und germanisch kernhaft. Die Art ihres
übermütigen Grußes ist zugleich wild, verwegen, ungezogen und
treuherzig. Sie würde sich von der jungen und schönen deutschen
Bauernmagd, wie ich sie auf den Gütern meiner Heimat gesehen habe, nicht
unterscheiden, wenn sie nicht doch ein wenig geschmeidiger und wenn sie
nicht eine Tochter aus Hellas wäre.
Und ich gedenke der Pythia.
Religiöses Empfinden hat seine tiefsten Wurzeln in der Natur; und sofern
Kultur nicht dazu führt, mit diesem Wurzelsystem stärker, tiefer und
weiter verzweigt in die Natur zu dringen, ist sie Feindin der Religion.
In diesem großen und zugleich urgesunden Bereich des nahen, großen
Mysteriums denkt man nicht an die Götterbilder der Blütezeit, sondern
höchstens an primitive Holzbilder, jene Symbole, die, durch Alter
geheiligt, der Gottheit menschliche Proportionen nicht aufzwangen. Man
gedenkt einer Zeit, wo der Mensch mit allen starken, unverbildeten
Sinnen noch gleichsam voll ins Geheimnis hinein geboren war: in das
Geheimnis, von dem er sich Zeit seines Lebens durchaus umgeben fand und
das zu enthüllen er niemals wünschte.
Nicht der Weltweise war der Ersehnte oder Willkommene unter den Menschen
jener Zeit, außer wenn er sich gleich dem Jäger oder dem Hirten -- der
wahre Hirt ist Jäger zugleich! -- zur ach so wenig naiven Verehrung
eines Idoles, einer beliebigen Rätselerscheinung, der nur im Rätsel
belebten Natur, verstand, sondern ersehnt und willkommen war immer
wieder nur das Leben, das tiefere Leben, das den Rausch erzeugende
Rätsel.
Immer jedoch ist der Mensch dem Menschen Träger und Verkünder der
tiefsten Rätsel zugleich gewesen und so ward das Rätsel stets am
höchsten verehrt, wenn es sich durch den Menschen verkündigte, die
Gottheit, die durch den Menschen spricht. Und um so höher ward es unter
jenen Menschen verehrt, ward die Gottheit verehrt, je mehr sie den
schlichten Mann, das gewöhnliche Weib aus dem Hirten- und Jägervolke
gewaltsam vor aller Augen umbildete, so daß es von Grund auf verändert,
von einem Gott oder Dämon beherrscht, als Rätsel erschien.
Ein so verändertes Wesen war vor urdenklichen Zeiten die erste bäurische
Pythia, und sie erschien in den Händen des bogenführenden Jägers und
Rinderherden besitzenden Hirten, in den Händen des Jäger- und
Hirtengottes Apollon willenlos. Den Willen des Menschen zerbrach der
Gott, wie man ein Schloß zerbrechen muß, das die Tür eines fremden
Hauses verschließt, will man als Herrscher und Herr in dieses eintreten;
und nicht der menschliche Wille, sondern gleichsam die Knechtschaft im
göttlichen, nicht Vernunft, sondern Wahnsinn besaß vor den Menschen
damals allein die Staunen und Schauder verbreitende Autorität.

Die Pferde beginnen bergan zu klimmen. Mehr und mehr, während wir aus
den dunklen Olivenwäldern emportauchen, verdichtet sich um uns die
Dämmerung. Die Luft ist warm und bewegungslos. Es ist eine Art
tierischer Wärme in der Luft, die aus dem Erdboden, aus den Steinblöcken
um uns her, ja überall her zu dunsten scheint. Überall klettern
Ziegenherden. Ziegenherden kreuzen den Weg oder trollen ihn mit Geläut
zu Tal. Ich fühle auf einmal, wie hier das Hirten- und Jägerleben nicht
mehr nur als Idyll zu begreifen ist. In dieser brütenden Atmosphäre, wie
sie über den schwarzen Olivenwäldern der Tiefe, in dem weiten, gewaltig
zerklüfteten Abgrund zwischen den Wällen schroffer Gebirge steht, wird
mein Blut überdies zu einem seltsamen Fieber erregt, und es ist mir, als
könne aus dieser buhlerisch warmen, stehenden Luft die Frucht des Lebens
unmittelbar hervorgehen. Das Geheimnis ist ringsum nahe um mich. Fast
bang empfinde ich seine Berührungen. Es ist, als trennte -- sagen wir
von den »Müttern«! nur eine dünne Wand oder als läge das ganze
Geheimnis, in dem wir schlummern, in einem zurückgehaltenen, göttlichen
Atemzug, dessen leisestes Flüstern uns eine Erkenntnis eröffnen könnte,
die über die Kraft des Menschen geht.
Ich habe in diesem Augenblick mehr als je zu bedauern, daß mir der
musikalische Ausdruck verschlossen ist, denn alles um mich wird mehr und
mehr zu einer einzigen, großen, stummen Musik. Das am tiefsten Stumme
ist es, was der erhabensten Sprache bedarf, um sich auszudrücken.
Allmählich verbreitet sich jenes magische Leuchten in der Natur, das
alles vor Eintritt völliger Dunkelheit noch einmal in traumhafter Weise
verklärt. Aber Worte besagen nichts, und ich würde, mit der wahrhaft
dionysischen Kunst begabt, nach Worten nicht ringen müssen.
Ich empfinde inmitten dieser grenzenlos spielenden Schönheit, die von
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