Griechischer Frühling - 9

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Grillen zirpen. Ein märchenhaftes Leuchten ist in der Luft. Kalte und
warme Strömungen machen die Blätter der Pappeln und Weiden flüstern,
die, zu ernsten, ja feierlichen Gruppen gesellt, die Ränder des breiten
Baches begleiten.

Es ist ein Uhr nachts, aber in der Mondeshelle draußen herrscht trotzdem
dämonischer Lärm. Hühner und Hähne piepsen und krähen laut, Hunde
kläffen und heulen ununterbrochen. Mitunter klingt es wie Stimmen von
Kindern, die mit lautem Geschrei lustig und doch auch gespenstisch ihr
nächtliches Spiel treiben. In der Gartenzisterne quakt oder trillert
immer der gleiche Frosch.
Die alten Spartaner befolgten jahrhundertelang eine Züchtungsmoral. Es
hat den Anschein, als wenn die Moral des Lykurg in einem größeren Umfang
noch einmal aufleben wollte. Dann würde sein kühnes und vereinzeltes
Experiment, mit allen seinen bisherigen Folgen vielleicht nur der
bescheidene Anfang einer gewaltigen Umgestaltung des ganzen
Menschengeschlechtes sein.
Wenn etwas vorüber ist, so ist es am Ende für unsere Vorstellungskraft
gleichgültig, ob es gestern geschah, oder vor mehr als zweitausend
Jahren, besonders, wenn es menschlich voll begreifliche Dinge sind. Ob
also die spartanischen Mädchen gestern nackt auf der Wiese getanzt
haben, damit die Jünglinge ihre Zuchtwahl treffen konnten, oder vor
dreitausend Jahren, ist einerlei. Ich nehme an, es sei gestern gewesen.
Ich nehme an, daß man noch gestern hier die Willenskraft, den
persönlichen Mut, die Disziplin, Gewandtheit, Körperstärke und jedwede
Form der Abhärtung vor allem gepflegt und gewürdigt hat. Und daß
meinethalben die Epheben noch heute Nacht im Heiligtum des Phöbus,
draußen auf den dämmrigen Wiesen, wo ich sie nicht sehe, wie unsre
Zigeuner dem Monde, einen Hund opfern.
Ihr Gesetzgeber war Lykurg, ihr Ideal Herakles. Die Standbilder beider
Heroen standen auf beiden Brücken, die über den Wassergraben zum
Spielplatz bei den Platanen führten. Leider ging es auf eine sinnlose
Weise roh, mit Treten, Beißen und Augenausbohren, bei diesen
Ephebenkämpfen zu.

Immer noch herrscht im Mondschein draußen derselbe dämonische
Höllenlärm. Durch Ort, Stunde, Mondschein und Reiseermüdung aufgeregt,
bevölkert sich meine Phantasie mit einer Menge wechselnder
Vorstellungen, gleichsam einem altspartanischen Gespenster- und
Kirchhofspuk. Bald sehe ich zappelnde Säuglinge im Taygetus ausgesetzt,
bald löffle ich selbst bei der gemeinsamen öffentlichen Männermahlzeit
die greuliche, schwarze Suppe ein, bald bin ich gleichzeitig dort, wo
ein Ephebe zu Ehren der Artemis nackt im Tempel gegeißelt wird und sehe
auf dem entfernten Stadion Odysseus mit den ersten Freiern der
jungfräulichen Penelope wettlaufen.
Zaudern ist, wie es scheint, schon damals eine Schwäche des edlen Weibes
gewesen: ich führe auch die Mißwirtschaft der Freier, im Hause des
Gatten, auf sie zurück. Ikarios, der Vater Penelopes, wollte sie aus dem
Elternhause in Sparta nicht mit Odysseus ziehen lassen und folgte dem
Paare, als es nun doch nicht zurückzuhalten war, im Wagen nach. Dem
Odysseus aber, der das Herz seines Weibes noch auf der Reise schwankend
sah, ist, nach einem Bericht des Pausanias, die Geduld gerissen, und er
hat kurzer Hand seinem Weibe an einer gewissen Stelle des Weges zur Wahl
gestellt: entweder nun entschlossen mit ihm nach Ithaka, oder mit ihrem
Vater und einem Abschied für immer wieder nach Sparta heimzureisen.

Der Spuk der Nacht ist dem Lichte des Tages gewichen. Unten im Garten
grasen Ziegen und eine Kuh. Das Zigeunermädchen sucht nach irgend etwas
die Hecken ab. Man hört drei- oder viermal die Pauke der Zigeuner
anschlagen. Es ist kein Tropfen Tau gefallen in der Nacht. Ich schreite
trockenen Fußes durchs hohe Gras.
Der Zigeuner und seine Frau hocken auf Decken vor ihrem Zelt. Er hat den
roten Schal des Kretensers bereits um die Hüften und schmaucht
behaglich, indes die zerlumpte Gattin Knöpfe an seiner geöffneten Weste,
mit Zwirn und Nadel, sorgsam festmacht. Der Bergfluß rauscht um die
Lagerstatt.

Herr Allan I. B. Wace, Pembroke College, Cambridge, hat die
Freundlichkeit, uns im kleinen Museum von Sparta mit Erklärungen an die
Hand zu gehen. Er geleitet uns durch ausgedehnte Olivenhaine, trotz
brennender Sonnenglut, zur Ausgrabungsstätte am Eurotas. Zu hunderten,
ja zu tausenden werden hier in den Fundamenten eines Athenatempels
Figürchen nach Art unserer Bleisoldaten aufgefunden. Diese Figürchen,
von denen viele zutage lagen, so daß die spartanischen Kinder mit ihnen
spielten, verrieten das unterirdische Heiligtum.

Gegen Mittag besteigen wir Maultiere, nicht ohne Mühe, weil diese
spartanischen Mulis besonders tückisch sind. Die schöne Tochter unseres
Gastfreundes, die uns noch gestern abend, mit tremolierender Stimme
etwas zur Laute sang, lehnt im Fenster der kleinen Baracke, nicht sehr
weit über uns, und beobachtet die Vorbereitungen für unsere Abreise mit
kalter Bequemlichkeit. Das hübsche, naive Kind von gestern, dessen
Gegenwart mir die Erinnerung eines zarten Jugendidylls erneuern konnte,
ist nur noch eine träge, unempfindliche Südländerin.
Ich erinnere mich -- und schon ist dieses Gestern wieder Erinnerung! --
Wie mir die Kleine nochmals im Garten begegnete, mir ins Gesicht sah und
mich anlachte, mit einer offenen Lustigkeit, die keine Schranke mehr
übrig läßt. Nun aber blickt sie über mich fort, als ob sie mich nie
gesehen hätte, mit vollendeter Gleichgültigkeit.

Wir frühstücken gegen ein Uhr mittags im Hofe eines byzantinischen
Klosters -- einer Halbruine unter Ruinen! -- an den steilen Abhängen der
Ruinenstätte Mistra.
Der quadratische Hof ist an drei Seiten von Säulengängen umgeben. Sie
tragen eine zweite, offene Galerie. Die vierte Seite des Hofes ist nur
durch eine niedrige Mauer vom Abgrund getrennt und eröffnet einen
unvergleichlichen Blick in die Ferne und Tiefe des Eurotastales hinab.
Den kurzen Ritt von Sparta herauf haben wir unter brennender Sonne
zurückgelegt. Hier ist es kühl. Eine Zypresse, uralt, ragt jenseits der
niedrigen Mauer auf. Sie hat ihre Wurzeln hart am Rande der Tiefe
eingeschlagen. Ich suche den Lauf des Eurotas und erkenne ihn an seiner
Begleitung hoher und frischgrüner Pappeln. Ich verfolge ihn bis zu dem
Ort, wo das heutige Sparta liegt: mit seinen weißen Häusern in
Olivenwäldern, unter Laubbäumen halb versteckt.
Dieses mächtige, überaus glanzvolle südliche Tal, mit den fruchtreichen
Ebenen seiner Grundfläche, widerspricht dem strengen Begriff des
Spartanertums. Es ist vielmehr von einer großgearteten Lieblichkeit und
scheint zu sorglosem Lebensgenusse einzuladen.
Herr Adamantios Adamantiu, Ephor der Denkmäler des Mittelalters in
Mistra, stellt sich uns vor und hat die Freundlichkeit, seine Begleitung
durch die Ruinen anzutragen. Seine Mutter und er bewohnen einige kleine
Räume eben des selben ausgestorbenen Klosters, in dem wir jetzt sind.
Oben, auf einer der Galerien, hat sich ein lustiger Kreis gebildet. Es
sind die gleichen, lebenslustigen Pädagogen, denen wir bereits auf dem
Wege nach Sparta mehrmals begegnet sind. Sie befinden sich noch immer im
Enthusiasmus des Weins und singen unermüdlich griechische, italienische,
ja sogar deutsche Trinklieder.
Ich kann nicht sagen, daß dieser Studentenlärm nach deutschem Muster,
mir an dieser Stätte besonders willkommen ist, und doch muß ich lachen,
als einer der fröhlichen Zecher, ein älterer Herr, im weinselig-rauhen
Sologesang ausführlich darlegt, daß er weder Herzog, Kaiser noch Papst,
sondern, lieber als alles, Sultan sein möchte.
Der lebenslustige Sänger, spartanischer Gymnasialprofessor, spricht mich
unten im Hofe an. Er macht mir die Freude, zu erklären, ich sei ihm seit
lange kein Unbekannter, was mir begreiflicherweise hier, an dem
entlegenen Abhange des Taygetus, seltsam zu hören ist.

Die Herren Lehrer haben Abschied genommen und sich entfernt. Herr
Adamantios Adamantiu hat mittels eines altertümlichen Schlüssels ein
unscheinbares Pförtchen geöffnet und wir sind, durch einen Schritt, aus
dem hellen Säulengang in Dunkelheit und zugleich in ein liebliches
Märchen versetzt.
Der blumige Dämmer des kleinen geheiligten Raumes, in den wir getreten
sind, ist erfüllt von dem Summen vieler Bienen. Es scheint, die kleinen
heidnischen Priesterinnen verwalten seit lange in dieser verlassenen
Kirche Christi allein den Gottesdienst. Allmählich treten Gold und bunte
Farben der Mosaiken mehr und mehr aus der Dunkelheit. Die kleine Kanzel,
halbrund und graziös, erscheint, mit einer bemalten Hand verziert, die
eine zierliche, bunte Taube, das Symbol des heiligen Geistes, hält.
Dieses enge, byzantinische Gotteshaus ist zugleich im zartesten Sinne
bezaubernd und ehrwürdig. Man findet sich nach dem derben
Schmollistreiben der Herren Lehrer ganz unvermutet plötzlich in ein
unterirdisches Wunder der Schehrazade versetzt, gleichsam in eine
liebliche Gruft, eine blumige Kammer des Paradieses, abgeschieden von
dem rauhen Treiben irdischer Wirklichkeit.
Herr Adamantios Adamantiu, der Ephor, liebt die ihm anvertrauten Ruinen
mit Hingebung, und was mich betrifft, so empfinde ich schmerzlich in
diesem Augenblick, daß ich mich schon im nächsten von dem reinen
Vergnügen dieses Anblicks trennen muß. Reichtum und Fülle köstlichen
Schmucks wird hier vollkommener Ausdruck des Traulichsten, Ausdruck der
Einfalt und einer blumigen Religiosität. Das byzantinische Täubchen am
Rande der Kanzel verkörpert ebensowohl einen häuslichen, als den
heiligen Geist.
Es scheint, daß Herr Adamantios Adamantiu keinen heißeren Wunsch im
Herzen trägt, als dauernd diese Ruinen zu hüten: und ich bin überrascht,
im Laufe der Unterhaltung wahrzunehmen, wie sehr verwandt der Geist des
lauteren Mannes mit jenem ist, der dieses Kirchlein schuf und erfüllt.
Mit leuchtenden Augen erklärt er mir, daß ich, glücklicher als der große
Goethe, diese Stätten mit leiblichen Augen sehen kann, wo Faust und
Helena sich gefunden haben.
In dieses Heiligtum gehört keine Orgel noch Bachsche Fuge hinein,
sondern durchaus nur das Summen der Bienen, die von den zahllosen Blüten
der bunten Mosaiken Nektar für ihre Waben zu ernten scheinen.

Sparta und Helena scheinen einander auszuschließen. Was sollte ein
Gemeinwesen mit der Schönheit als Selbstzweck beginnen, wo man den Wert
eines Suppenkoches höher als den eines Harfenspielers einschätzte? Was
hätte Helena mit der spartanischen Strenge, Härte, Roheit, Nüchternheit
und Tugendboldigkeit etwa gemein?
Ein junger Spartaner rief, als man beim Gastmahl eine Lyra
herbeibrachte: Solche Tändeleien treiben sei nicht lakonisch. Wer möchte
nun, da Helena und die Leier Homers nicht zu trennen sind, behaupten
wollen, daß Sparta Helenen eine wirkliche Heimat sein konnte?
Herr Adamantios Adamantiu geleitet uns stundenlang auf mühsamen
Fußpfaden durch die fränkisch-byzantinisch-türkische Trümmerstadt, die
erst im Jahre 1834 durch Ibrahim Pascha zerstört worden ist. Das alte
Mistra war an die schwindelerregenden Felswände des Taygetus wie eine
Ansiedlung von Paradiesvogelnestern festgeklebt. Einzelne Kirchen werden
durch wenige Arbeiter unter Aufsicht des Herrn Ephoren sorgsam, Stein um
Stein, wieder hergestellt: Baudenkmäler von größter Zartheit und
Lieblichkeit, deren Zerstörung durch die Türken einen unendlich
beklagenswerten Verlust bedeutet.
Überall von den Innenwänden der Tempel spricht uns das Zierliche,
Köstliche, Höfische an, in dem sich der Farbenreichtum des Orients mit
dem zarten Kultus der Freude des deutschen Minnesanges durchdrungen zu
haben scheint. Die Reste herrlicher Mosaiken, soweit sie der Brand und
die Spieße der Türken übriggelassen haben, scheinen, auch wenn sie
heilige Gegenstände behandeln, nur immer die Themen: Ritterdienst,
Frauendienst, Gottesdienst durcheinanderzuflechten.
Mittels eines nassen Schwammes bringt der Herr Ephor, auf einer Leiter
stehend, eigenhändig die erblindeten Mosaiken zu einem flüchtigen
Leuchten im alten Glanz.
»Ein innerer Burghof, umgeben von reichen, phantastischen Gebäuden des
Mittelalters« ist der Schauplatz, in dem Helena sich gefangen fühlt,
bevor ihr Faust, im zweiten Teil des gleichgenannten Gedichts, in
ritterlicher Hoftracht des Mittelalters entgegentritt. Und mehr als
einmal umgibt mich hier das Urbild jener geheiligten Szenerie, darin
sich die Vermählung des unruhig suchenden deutschen Genius mit dem
weiblichen Idealbild griechischer Schönheit vollzog.

Herr Adamantios Adamantiu, der etwa dreißig Jahre alt und von zarter
Gesundheit ist, stellt uns auf einer der Galerien des Klosterhofes
seiner würdigen Mutter vor. Diese beiden lieben Menschen und Gastfreunde
wollen uns, wie es scheint, nicht mehr fortlassen. Die Mutter bietet
meiner Reisegefährtin für die Nacht ihr eigenes Lager an, ihr Sohn
dagegen das seine mir.
Von seinem Zimmerchen aus überblickt man die ganze Weite und Tiefe des
Eurotastales, bis zu den weißen Gipfeln des Parnon, die hineinleuchten:
das Zimmer selber aber ist klein, und enthält nichts weiter als ein
kleines Regal für Bücher, Tisch, Stuhl und Feldbettstelle, dazu im
Winkel ein ewiges Lämpchen unter einem griechisch-katholischen
Gnadenbild. Natürlich, daß in einem verlassenen Kloster die Fenster
undicht, die Wände schlecht verputzt -- und daß in den rohen
Bretterdielen klaffende Fugen sind.
Ganz Sohnesliebe, ganz Vaterlandsliebe und ganz von seinem besonderen
Beruf erfüllt: der Pflege jener vaterländischen Altertümer! bringt Herr
Adamantios Adamantiu in weltentsagender Tätigkeit seine jungen Jahre zu
und beklagt es, daß manche seiner Mitbürger so leicht die mütterliche
Scholle aufgeben mögen, die ihrer Kinder so sehr bedarf.
Der hingebungsvolle Geist dieses jungen Griechen erweckt in meiner Seele
wärmste Bewunderung und ich rechne die Begegnung mit ihm zu den
schönsten Ereignissen meiner bisherigen Reise durch Griechenland. Wie er
unverdrossen und mit reinster Geduld Werkstück um Werkstück aus dem
Schutt der Verwüstung zu sammeln sucht, um in mühsamen Jahren hier und
da etwas Weniges liebevoll wieder herzustellen, von der ganzen, beinahe
in einem Augenblicke vernichteten, unersetzlichen Herrlichkeit, das legt
von einem Idealismus ohnegleichen Zeugnis ab.

Wir nehmen Abschied von unsern Wirten, um noch vor Einbruch der Nacht
den Ritt bis Tripi zu tun: Tripi am Eingang jener mächtigen Schlucht,
die sich in die Tiefe des Taygetus fortsetzt, den wir übersteigen
wollen.
Unsere Maultiere fangen wie Ziegen oder Gemsen zu klettern an: bald geht
es fast lotrecht in die Höhe, bald ebenso lotrecht wieder hinab, so daß
ich mitunter die Überzeugung habe, unsere Tiere hätten den eigensinnigen
Vorsatz gefaßt, um jeden Preis auf dem Kopfe zu stehen. Wenn man, mit
den Blicken vorauseilend, als Unerfahrener die drohenden Schwierigkeiten
des Weges im Geiste zu überwinden sucht, so glaubt man mitunter verzagen
zu sollen, denn es eröffnet sich scheinbar nur selten für ein
Weiterkommen die Möglichkeit.
Aber das Maultier nimmt mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit jedes
Hindernis: über Böschungen rutschen wir an steinige Bäche hinunter und
jenseits des Wassers klettern wir wieder empor. In einem Bachbett
steigen wir lange Zeit von einem kantigen Block zum andern bergan und
zwar bereits von der Dunkelheit überrascht, bis wir das Wasser am
Ausgang der Langada in dem steilen Tale von Tripi rauschen hören. Über
eine Geröllhalde geht es alsdann in gefährlicher Eile hinab, bis wir,
die Lichter von Tripi vor Augen, auf einer breiten, gesicherten Straße
geborgen sind.

Gegen vier Uhr des Morgens wecken mich die Nachtigallen von Tripi. Ich
glaube, daß alle Singvögel der ganzen Welt den Aufgang der Sonne mit
einem kurzen Konzert begrüßen. Zweifellos ist dies Gottesdienst.
Unser Haus ist in schwindelerregender Höhe über der Talwand erbaut. Wir
haben in einem Raume übernachtet, der drei Wände von Glas ohne Vorhänge
hat. Büsche reichen bis zu den Fenstern. Mächtige Wipfel alter Laubbäume
sind unter uns und bekleiden die steilen Wände der Schlucht.
Während das einsame Licht zunimmt, schlagen die Nachtigallen lauter aus
dem Abgrund herauf. Nach einiger Zeit beginnen alle Hähne des Dorfes
einen lauten Sturm, der die Nachtigallen sofort verstummen macht.
Auf einem Felsen, scheinbar unzugänglich, inmitten der Schlucht,
erscheint die Kirche von Tripi im Morgenlicht. Die Pfade von Tripi, die
ganze Anlage dieses Ortes sind ebenso malerisch wie halsbrecherisch.

Die Maultiere klettern schwindelerregende Pfade. Sie halten sich
meistens am Rande der Abgründe. Die Langada beginnt großartig, aber kahl
und baumlos. Die Gesteinmassen des Bachbettes, auf dem Grunde der
gewaltigen Schlucht, liegen bleich, verwaschen und trocken da. Das Tal
ist tot. Kein Vogellaut, kein Wasserrauschen!
Indem wir ein wenig höher gelangen, zeigt sich geringe Vegetation.
Einige Vögel beginnen zu piepsen. Nach einiger Zeit fällt uns der Ruf
eines Kuckucks ins Ohr.
Weiter oben erschließt sich ein Tal, auf dessen Sohle lebendiges Wasser
rauscht. Wir steigen in dieses Tal, das eigentlich eine Schlucht ist,
hinunter. Die Abhänge sind von Ziegenherden belebt. Eng in die Felswände
eingeschlossen, schallen die Herdenglocken laut.
Bis hierher war es, trotz der Frühe, ziemlich heiß. Nun werden wir von
erquickenden Winden begrüßt. Erfrischt von der gleichen Strömung der
Luft, winken die grünen Wedel der Steineichen von den Felsspitzen.
Plötzlich haben wir nickende Büsche überall. Efeuranken klettern wohl
hundert Meter und höher die Steinwand hinauf.
Immer wasserreicher erscheinen die Höhen, in die wir aufdringen.
Mehrmals werden reißende Bäche überquert. Eine erste, gewaltige Kiefer
grüßt vom Abhange. Anemonen, blendend rote, zeigen sich. Kleine Trupps
zarter Alpenveilchen. Aus Seitenschachten stürzen klare Wasser über den
Weg und ergießen sich in das Sammelbett des größeren Baches.
Wir halten die erste Rast, etwa 2300 Meter hoch im Taygetus, unter einem
blühenden Kirschbaum vor der Herberge, genannt zur kleinen
Himmelsmutter. Der Bergstrom rauscht. Kirschblüten fallen auf uns
herunter. Wir haben herrliche Abhänge gegenüber, die mit starken
Aleppokiefern bewaldet sind.
Es ist köstlich hier, entzückend der Blick durch die tiefgesenkten
Blütenzweige in die ebenso wilde als wonnige Bergwelt hinein.
Man fühlt hier oben das unbestrittene Reich der göttlichen Jägerin
Artemis, die in Lakonien vielfach verehrt wurde. Hier ist für ein
freies, seliges Jägerleben noch heut der eigentlich arkadische
Tummelplatz. Hier oben fanden auch Opfer statt. Und zwar jene selben
Sonnenopfer, die bei den alten Germanen üblich gewesen sind und bei
denen die Spartiaten, nicht anders wie unsere Vorfahren, Pferde
schlachteten.

Wir haben den Hochpaß überstiegen und nach einem ermüdenden Ritt, meist
steil bergab, das Dörfchen Lada erreicht. Ein Bergstrom hat die steinige
Straße der Ortschaft mit seinen stürzenden Wellen überschwemmt und
niemand denkt daran, ihn in sein Bett zurückzuleiten. Mit Ausnahme eines
kleinen Bezirks um die Ansiedelungen Ladas, ist das weite Tal eine
einzige Steinwüste.
Träge, fast unwillig, öffnet auf das Klopfen unseres Führers eine derbe,
blonde, noch nicht zwanzigjährige Bäuerin die Tür zur Herberge. Ein
Ferkel wühlt zwischen Tisch und Bank, in einem finsteren, kellerartigen
Raum, dessen Hintergrund ein Lager mit gewaltigen Fässern ausfüllt. In
einer hölzernen Schlachtermulde auf dem Tische schläft ein neugeborenes
Kind.

Die Jachten der Königin von England und des Königs von Griechenland
liegen im Hafen zur Abfahrt bereit. Eben hat sich die »Galata« des
Norddeutschen Lloyd in Bewegung gesetzt, die uns nach Konstantinopel
führen soll. Die Häuser des Pyräus stehen im weißen Licht.
Athen ist das Licht, das Auge, das Herz, das Haupt, die atmende Brust,
die Blüte von Griechenland: heute des neuen, wie einst des alten! Ich
empfand das lebhaft, trotz aller großen Landschaftseindrücke meiner
peloponnesischen Fahrt, als ich nach ununterbrochener Reise von Kalamata
wieder hier anlangte. Athen ist durch seine Lage geschaffen, und
Griechenland ohne Athen wäre niemals geworden, was es war und was es uns
ist. Der freie, attische Götterflug hat den freien attischen Geistesflug
hervorgerufen.
Indem wir, Abschied nehmend, die Küste zur Linken, hingleiten, vorüber
an dem kleinen Hafen Munichia, vorbei an den Siedelungen von
Neu-Pharleron, steigt noch einmal das ganze attische Wunder vor uns auf.
Dieser Hymettos, dieser Pentele, dieser Lykabettos, dieser Fels der
Akropolis sind keine Zufälligkeit. Alles dieses trägt den Adel seiner
Bestimmung im Angesicht.
Wir trinken gierig den Hauch des herrlichen Götterlandes, solange er
noch herüberdringt und saugen uns mit den Blicken in seine silberne
Anmut fest, bis alles unseren Augen entschwindet.

Ende

[Illustration: Kopf des Wagenlenkers aus Delphi
(Originalaufnahme)]

Druck von _W. Drugulin_, Leipzig.

Anmerkungen zur Transkription
Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten.
Offensichtliche Fehler wurden stillscheigend korrigert. Weitere
Änderungen, teilweise unter Verwendung anderer Ausgaben sind hier
aufgeführt (vorher/nachher):
[S. 11]:
... wird. Er ist ausgezeichneter Schwimmer ...
... wird. Er ist ein ausgezeichneter Schwimmer ...
[S. 33]:
... Es ist schwer, etwas so Abstoßendes ...
... Es ist schwer, sich etwas so Abstoßendes ...
[S. 168]:
... Ehre -- man spielte für Götter und vor ...
... Ehre darstellte -- man spielte für Götter und vor ...
[S. 204]:
... sein, ähnelt sich in Form, Dichte und Kräuselung ...
... sein, ähnelt in Form, Dichte und Kräuselung ...
[S. 221]:
... den Tälern räche, fortan nicht mehr den ...
... den Tätern räche, fortan nicht mehr den ...
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