Griechischer Frühling - 1

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[Illustration: Wagenlenker aus Delphi (Nach einem Gipsabguss des
Bronce-Originals)]

GERHART HAUPTMANN


GRIECHISCHER
FRÜHLING

1908
S. FISCHER / VERLAG / BERLIN

HARRY GRAFEN KESSLER GEWIDMET


Ich befinde mich auf einem Lloyddampfer im Hafen von Triest. Zur Not
haben wir in Kabinen zweiter Klasse noch Platz gefunden. Es ist ziemlich
ungemütlich. Allmählich läßt jedoch das Laufen, Schreien und Rennen der
Gepäckträger nach und das Arbeiten der Krane. Man beginnt, sich zu Hause
zu fühlen, fängt an sich einzurichten, seine Behaglichkeit zu suchen.
Eine Spießbürgerfamilie hat auf den üblichen Klappstühlen Platz
genommen. Mehrmals ertönt aus ihrer Mitte das Wort »Phäakenland«.
Erfüllt von einer großen Erwartung, wie ich bin, erzeugt mir Klang und
Ausdruck des Wortes in diesem Kreise eine starke Ernüchterung. Wir
schreiben den 26. März. Das Wetter ist gut: warme Luft, leichtes Gewölk
am Himmel.
Ich nahm heute morgen im Hotel hinter einer sehr großen Fensterscheibe
mein Frühstück ein, als, mit einem grünen Zweiglein im Schnabel, draußen
eine Taube aus dem Mastenwalde des Hafens heran und nach oben, von links
nach rechts, vorbeiflog. Dieses guten Vorzeichens mich erinnernd, fühle
ich Zuversicht.
Wir entfernen uns nach einem seltsamen Manöver der »Salzburg« von
Triest. Die Gegenden sind ausgebrannt. Alle Färbungen der Asche treten
hervor. Der Karst erscheint wie mit leichtem Schnee bedeckt. Viele gelbe
und orangefarbene Segel ziehen über das Meeresblau. Die Maler sind
entzückt und beschließen, zu längerem Aufenthalt gelegentlich
zurückzukehren.

Es ist jetzt fünf Uhr. Seit etwa zwei Stunden sind wir unterwegs.
Beinweiß zieht die nahe Strandlinie an uns vorüber. Wir haben zur linken
das flache dalmatinische Land, ausgetrocknet, weit gedehnt, in
braunrötlichen Färbungen. Beinweiß, wie von ausgebleichten Knochen
errichtet, zeigen sich hie und da Städte und Ortschaften, zuweilen
bedecken sie sanftgewölbte, braungrüne Hügel oder liegen auf dem
braungrünen Teppich der Ebene. Mit scharfem Auge erkennt man fern weiße
Spitzen des Velebitgebirges.
Allmählich werden diese Bergspitzen höher und der ganze Bergzug tritt
deutlich hervor. Er ist schneebedeckt. Den Blick hinter mich wendend,
bemerke ich: die Sonne steht noch kaum über dem Wasserspiegel, ist im
Untergang. Der Mitreisenden bemächtigt sich jene Erregung, in die sie
immer geraten, wenn die Stunde herannaht, wo sie die Natur zu bewundern
verpflichtet sind. Bemühen wir uns, wahrhaftig zu sein! Der großartige,
kosmische Vorgang hat wohl die Seelen der Menschen von je mit Schauern
erfüllt, lange bevor das malerische Naturgenießen zur Mode geworden ist,
und ich nehme an, daß selbst der naturfremde Durchschnittsmensch unserer
Zeit, und besonders auf See, noch immer im Anblick des Sonnenunterganges
auf ehrliche Weise wortlos ergriffen ist. Freilich hat sein Gefühl an
ursprünglicher, abergläubischer Kraft bis auf schwächliche Reste
eingebüßt.

Nach durchaus ruhiger Nacht setzt heut gegen fünf Uhr Vormittag Wind aus
nordöstlicher Richtung ein. Ich merke, noch in der Kabine, bereits das
leichte Stampfen und Rollen des Schiffes. Als erster von allen
Passagieren bin ich an Deck. Ein grauer Dunst überzieht den
Morgenhimmel. Das Meer ist nicht mehr lautlos: es rauscht. Schon
überschlagen sich einzelne Wogen und bilden Kämme von weißem Gischt. Im
Südosten beobachte ich eine düstere Wolkenbank und Wetterleuchten.
Die »Salzburg« ist ein kleines, nicht gerade sehr komfortables Schiff.
Die Matrosen sind eben dabei, das Deck zu reinigen. Sie spritzen aus
einer »Schlauchspritze« Wassermassen darüber hin, so daß ich fortwährend
flüchten muß und auch so jeden Augenblick in Gefahr bleibe, durchnäßt zu
werden. Es ist kein Tee zu bekommen, trotzdem ich, wärmebedürftig wie
ich bin, mehrmals darum ersuche. Die Einrichtungen hier halten einen
Vergleich mit dem norddeutschen Lloyd nicht aus.
»O, Tee, in eine Minute fertig«, wiederholt der Steward eben wieder,
nachdem etwa anderthalb Stunden Wartens vorüber sind.

Jetzt 7½ Uhr; volle Sonne und Seegang. Unter anderen Wohltaten einer
Seereise ist auch die anzumerken, daß man während der Fahrt die ruhige
und gesicherte Schönheit der großen Weltinseln wiederum tiefer würdigen
lernt. Das Streben des Seefahrers geht auf Land. Statt vieler
auseinanderliegender Ziele bemächtigt sich seine Sehnsucht nur dieses
einen, wie wenige notwendig. Daher noch im Reiche des Idealen
glückselige Inseln auftauchen und als letzte glückselige Ziele genannt
werden.
Allerlei Vorgänge der Odyssee, die ich wieder gelesen habe, beschäftigen
meine Phantasie. Der schlaue Lügner, der selbst Pallas Athene belügt,
gibt manches zu denken. Welche Partien des Werkes sind, außer den
eingestandenermaßen erlogenen, wohl noch als erfunden zu betrachten, vom
Genius des erfindungsreichen Odysseus? Etwa die ganze Kette von
Abenteuern, deren unsterbliche Schönheit unzerstörbar besteht? Es kommen
zweifellos Stellen vor, die unerlaubt aufschneiden; so diejenige, wo die
Charybdis das Wrack des Odysseus einsaugt, während er sich in das
Gezweige eines Feigenbaumes gerettet hat, und wo das selbe Wrack von ihm
durch einen Sprung wieder erreicht wird, als es die See an die
Oberfläche zurückgibt.
Die Windstärke hat zugenommen. Hie und da kommt ein Sprühregen über
Deck. Regenbogenfarbene Schleier lösen sich von den Wellenkämmen. Rechts
in der Ferne haben wir italienisches Festland. Ein kleines, scheinbar
flaches Inselchen gibt Gelegenheit, das Spiel der Brandung zu
beobachten. Zuweilen ist es, als sähen wir den Dampf einer pfeilschnell
längs der Klippen hinlaufenden Lokomotive. Weiße Raketen schießen
überall auf, mitunter in so gewaltigem Wurf, daß sie, weißen Türmen
vergleichbar, einen Augenblick lang stillstehen, bevor sie
zusammenstürzen.
Ich lasse mir sagen, daß es sich hier nicht, wie Augenschein glauben
macht, um _eine_ Insel, sondern um eine Gruppe handelt: die Tremiti. Der
freundliche Schiffsarzt Moser führt mich ins Kartenhaus und weist mir
den Punkt auf der Schiffskarte. Auf den Tremiti halten die Italiener
gewisse Gefangene, die im Inselbezirk bedingte Freiheit genießen.
Ein Dampfer geht zwischen uns und der Küste gleichen Kurs.
Allmählich sind wir dem Lande näher gekommen, bei schwächerem Wind und
stärkerer Dünung. Das Wasser, wie immer in der Nähe von Küsten, zeigt
hellgrüne Färbungen. Es gibt schwerlich eine reizvollere Art Landschaft
zu genießen, als von der See aus, vom Verdeck eines Schiffes. Die
Küsten, so gesehen, versprechen, was sie nie halten können. Die Seele
des Schauenden ist so gestimmt, daß sie die Ländereien der Uferstrecken
fast alle in einer phantastischen Steigerung, paradiesisch sieht.
Vieste, Stadt und malerisches Kastell, tauchen auf und werden dem Auge
deutlich. Die Stadt zieht sich herunter um eine Bucht. Den Hintergrund
bilden Höhenzüge, die ins Meer enden: zum Teil bewaldet, zum Teil mit
Feldern bedeckt. Durch das Fernglas des Kapitäns erkenne ich vereinzelt
gestellte Bäume, die ich für Oliven halte. Eine starke, alte
Befestigungsmauer ist vom Kastell aus um die Bucht heruntergeführt. Es
ist eigentümlich, wie märchenhaft der Anblick des Ganzen anmutet. Man
erinnert sich etwa alter Miniaturen in Bilderhandschriften: Histoire des
batailles de Judée, Teseïde oder an Ähnliches, man denkt an Schiffe von
phantastischer Form im Hafen der Stadt, an Mauren, Ritter und
Kreuzfahrer in ihren Gassen.
Jene, nicht allzuferne, uns Heutigen doch schon völlig fremde Zeit, wo
der Orient in die abendländische Welt, wie eine bunte Welle,
hineinschlug, jene unwiederbringliche Epoche, vielfältig
ausschweifender, abenteuerlicher Phantastik -- so ist man versucht zu
denken -- müsse in einer dem Gegenwartsblick so gespenstischen Stadt
noch voll in Blüte stehen. Wetterwolken sammeln sich über dem
hochgelegenen Kastell. Die See wogt wie dunkles Silber. Der Wind weht
empfindlich kalt.

Homer in der Odyssee läßt den Charakter des Erderschütterers Poseidon
durchaus nicht liebenswürdig erscheinen. Er ist es auch nicht. Er ist
unzuverlässig; er hat unberechenbare Tücken. Ich empfinde die
Seekrankheit, an der viele Damen und einige Herren leiden, als einen
hämischen Racheakt. Der Gott übt Rache. In einer Zeit, wo er, verglichen
mit ehemals, sich in seiner Macht auf eine ungeahnte Weise beschränkt
und zur Duldung verurteilt sieht, rächt er sich auf die
niederträchtigste Art. Ich stelle mir vor, er schickt einen
aalartig-langen Wurm aus der Tiefe herauf, mit dem Kopf zuerst durch den
Mund in den Magen des Seefahrers; aber so, daß der Kopf in den Magen
gelangt, dort eingeschlossen, der Schwanz mittlerweile ruhig im Wasser
hängen bleibt. Der Seefahrer fühlt diesen Wurm, den niemand sieht.
Obgleich er ihn aber nicht sieht, so weiß er doch, daß er grün und
schleimig ist, und endlos lang in die See hinunterhängt, und mit dem
Kopfe im Magen festsitzt. Die schwierige Aufgabe bleibt nun die: den
Wurm, der sich nicht verschlucken und auch nicht ausspucken läßt, aus
dem Innern herauszubekommen.
Seltsam ist, daß Homer diesen göttlichen Kniff Poseidons unbeschrieben
läßt, zumal er doch sonst im Gräßlichen keine Grenzen kennt und -- von
den vielerlei Todesarten, die er zur Darstellung bringt, abgesehen --
einen verwandten Zustand, der dem Zyklopen Polyphem zustößt, so
schildert:
»... dem Rachen entstürzten mit Weine
Stücke von Menschenfleisch, die der schnarchende Trunkenbold
ausbrach.«
Eine Gesellschaft von Tümmlern zeigt sich hie und da augenblicksschnell
überm Wasser in der Nähe des Dampfers. Der Tümmler, vom Seemann als
Schweinfisch bezeichnet, ist ein Delphin, der im Mittelmeer wohl fast
bei jeder Tagesfahrt gesichtet wird. Er ist ein ausgezeichneter
Schwimmer und sehr gefräßig.

Wir verlieren die italienische Küste wieder mehr und mehr aus den Augen.
Der Nachmittag schreitet fort durch monotone Stunden, wie sie bei keiner
Seereise ganz fehlen. Regenböen gehen zuweilen über Deck. Ich finde
einen bequemen Sitzplatz, einigermaßen geschützt vor dem Winde. Ich
schließe die Augen. Ich versinke gleichsam in die Geräusche des Meeres.
Das Rauschen umgibt mich. Das große, das machtvolle Rauschen, überall
her eindringend, unwiderstehlich, erfüllt meine Seele, scheint meine
Seele selbst zu sein.
Ich gedenke früherer Seefahrten; darunter sind solche, die ich mit
beklommener Seele habe machen müssen. Viele Einzelheiten stehen vor
meinem innern Gesicht. Ich vergleiche damit meinen heutigen Zustand.
Damals warf der große Ozean unser stattliches Schiff dreizehn Tage lang.
Die Seeleute machten ernste Gesichter. Was ich selber für ein Gesicht
gemacht habe, weiß ich nicht; denn was mich betrifft: ich erlebte damals
stürmische Wochen auf zwei Meeren, und ich wußte genau, daß, wenn wir
mit unserem bremensischen Dampfer auch wirklich den Hafen erreichen
sollten, dies für mein eigenes, gebrechliches Fahrzeug durchaus nicht
der Hafen sei.
Ich erwäge plötzlich mit einem gelinden Entsetzen, daß ich mich nun doch
noch auf einer Reise nach jenem Lande befinde, in das es mich schon mit
achtzehn Jahren hyperion-sehnsüchtig zog. Zu jener Zeit erzwang ich mir
einen Aufbruch dahin, aber die Wunder der italienischen Halbinsel
verhinderten mich, mein Ziel zu erreichen. Nun habe ich, das Versäumte
nachzuholen: in 26 Jahren zuweilen gehofft, zuweilen nicht mehr gehofft,
zuweilen gewünscht, zuweilen auch nicht mehr gewünscht; einmal die Reise
geplant, begonnen und liegen gelassen. Und ich gestehe mir ein, daß ich
eigentlich niemals an die Möglichkeit ernstlich geglaubt habe, das Land
der Griechen mit Augen zu sehen. Noch jetzt, indem ich diese Notizen
mache, bin ich mißtrauisch!
Ich kenne übrigens keine Fahrt, die etwas gleich Unwahrscheinliches an
sich hätte. Ist doch Griechenland eine Provinz jedes europäischen
Geistes geworden; und zwar ist es noch immer die Hauptprovinz. Mit
Dampfschiffen oder auf Eisenbahnen hinreisen zu wollen, erscheint fast
so unsinnig, als etwa in den Himmel eigener Phantasie mit einer
wirklichen Leiter steigen zu wollen.

Es ist sechs Uhr und die Sonne eben im Untergehen. Der Schiffsarzt
erzählt mancherlei und kommt auf die Sage vom grünen Strahl. Der grüne
Strahl, den gesehen zu haben Schiffsleute mitunter behaupten, erscheint
in dem Augenblick, ehe die Abendsonne ganz unter die Wasserlinie tritt.
Ich weiß nicht, welche Fülle rätselhaften Naturempfindens diese schöne
Vorstellung in mir auslöst. Die Alten, erklärt uns ein kleiner Herr,
müßten den grünen Strahl gekannt haben; der Name des ägyptischen
Sonnengottes bedeute ursprünglich: grün. Ich weiß nicht, ob es sich so
verhält, aber ich fühle in mir eine Sehnsucht, den grünen Strahl zu
erblicken. Ich könnte mir einen reinen Toren vorstellen, dessen Leben
darin bestünde, über Länder und Meere nach ihm zu suchen, um endlich am
Glanz dieses fremden, herrlichen Lichtes unterzugehen. Befinden wir uns
vielleicht auf einer ähnlichen Pilgerfahrt? Sind wir nicht etwa
Menschen, die das Bereich ihrer Sinne erschöpft haben, nach
andersartigen Reizen für Sinne und Übersinne dürsten?
Jedenfalls ist der kleine Herr, durch den wir über den grünen Strahl
belehrt wurden, ein seltsamer Pilgersmann. Das putzige Männchen reist in
Schlafschuhen. Sein ganzes Betragen und Wesen erregt zugleich Befremden
und Sympathie. Wohl über die fünfzig hinaus an Jahren, mit bärtigem
Kopf, rundlicher Leibesfülle und kurzen Beinchen, bewegt er sich in
seinen Schlafschuhen mit einer bewunderungswürdigen, stillvergnügten
Gelenkigkeit. Ich habe ihn auf der Regenplane, von der die verschlossene
Öffnung des Schiffsraums überzogen ist, in wahrhaft akrobatischen
Stellungen bequem seine Reisebeobachtungen anstellen sehen. Zum
Beispiel: er saß wie ein Türke da; indessen die Gleichgültigkeit, mit
der er die unwahrscheinlichste Lage seiner Beinchen behandelte, hätte
Theodor Amadeus Hoffmann stutzig gemacht. Übrigens trug er Wadenstrümpfe
und Kniehosen, Lodenmantel und einen kleinen, verwegenen Tirolerhut.
Mitunter machte er mitten am Tage astronomische Studien, wobei er, das
Zeißglas gegen den Himmel gerichtet, die Kniee in unbeschreiblicher
Weise voneinander entfernt, die Fußsohlen glatt aneinander gelegt, auf
dem Rücken lag.

Wir gleiten nun schon geraume Weile unter den Sternen des Nachthimmels.
Ein Schlag der Glocke, die vorn auf dem Schiff angebracht ist, bedeutet
Feuer rechts. Der Leuchtturm von Brindisi ist gesichtet. Nach und nach
treten drei Blinkfeuer von der Küste her abwechselnd in Wirkung. Drei
neue Glockenzeichen des vorn wachthaltenden Matrosen ertönen. Sie
bedeuten: Schiff in Fahrtrichtung uns entgegen. Ich habe mich so
aufgestellt, daß ich die Spitze des großen Vordermasts über mir
feierlich schwanken und zwischen den Sternen unaufhaltsam fortrücken
sehe. Erst gegen zehn Uhr erreichen wir die enge Hafeneinfahrt von
Brindisi, durch die wir, an einem Gespensterkastell vorüber, im vollen
Mondlicht langsam gleiten.
Die Bewohner der Stadt scheinen schlafen gegangen zu sein. Die
Hafenstraßen sind menschenleer. Treppen und Gäßchen zwischen Häusern,
hügelan führend, sind ebenfalls ausgestorben. Kein Laut, nicht einmal
Hundegebell, ertönt. Wir erkennen im Mondlicht und im Scheine einiger
wenigen Laternen Säulenreste antiker Bauwerke. Brindisi war der südliche
Endpunkt der via Appia.
Unglaublich groß wirkt das Schiff in dem kleinen, teichartigen Hafen.
Aber, so groß es ist, macht es mit vieler Vorsicht am Kai fest, und erst
als es fast ganz ruhig liegt, ist es bemerkt worden. Jetzt werden auf
einmal die Straßen belebt. Und schon sind wir nach wenigen Augenblicken
vom italienischen Lärm umgeben. Die Polizei erscheint an Bord. Wagen mit
Passagieren rasseln von den Hotels heran. Drei Mandoline zupfende, alte
Kerle haben sich auf Deck verpflanzt, die den Gesang einer sehr
phlegmatischen Mignon begleiten.

Die Nacht liegt hinter mir. Es ist sechs Uhr früh und der 28. März. Wir
sind dicht unter Land, und die Sonne tritt eben hinter den ziemlich
stark beschneiten Spitzen über die höchste Erhebung des Randgebirges von
Epirus voll hervor. Wenig Stratusgewölk liegt über der blauen Silhouette
der Küste. Übrigens hat der Himmel Scirocco-Charakter. Streifen und
verwaschene Wolkenballen unterbrechen das Himmelsblau. Das Licht der
Sonne scheint blaß und kraftlos. Die Luft weht erkältend, ich spüre
Müdigkeit.
Ich betrete den Speisesaal der »Salzburg«. An drei Tischen ist das
Frühstück vorbereitet. Dazwischen, auf der Erde, liegen Passagiere.
Einige erheben sich, noch im Hemd, von ihren Matratzen und beginnen die
Kleider anzulegen. Ein großes Glasgefäß mit den verschmierten Resten
einer schwarzbraunen Fruchtmarmelade steht in unappetitlicher Nähe. Der
Löffel steckt seit Beginn der Reise darin.
Es ist hier alles schon Asien, bedeutet mich ein Mitreisender. Ich kann
nicht sagen, daß ich besonders von diesen Übelständen berührt werde,
weiß ich doch, daß Korfu, die erste Etappe der Reise, nun bald erreicht
ist. Außerdem flüchtet man, nachdem man in Eile etwas Kaffee und Brot
genossen hat, wieder an Deck hinaus. Die Berge der Küste, nicht höher
als die, von denen etwa Lugano umgeben ist, sind noch mit einigem Schnee
bestreut und ähneln ihnen, braunrötlich und kahl, durchaus. Durch diese
Gebirge erscheint das Hinterland wie durch einen gigantischen Wall vor
dem Meere geschützt.
Man hat jetzt nicht mehr das Gefühl, im offenen Meere zu sein, sondern
wir bewegen uns in einer sich mehr und mehr verengenden Wasserstraße.
Überall tauchen Küsten und Inseln auf, und nun zur Rechten bereits die
Höhen von Korfu. Noch immer schweben mit Gelächter oder Geläut
begleitende Möven über uns.
Je länger und näher wir an dem nördlichen Rande von Korfu hingleiten, um
so fieberhafter wird das allgemeine Leben an Deck. In schöner Linie
langsam ansteigend, gipfelt das Eiland in zwei Spitzen, sanft darnach
wieder ins Meer verlaufend. Wieder bemächtigt sich unser jenes
Entzücken, das uns eine Küsten-Landschaft bereitet, die man vom Meere
aus sieht. Diesmal ist es in mir fast zu einem inneren Jubel gesteigert,
im Anblick des schönen Berges, den wir allmählich nach Süden umfahren,
und der seine von der Morgensonne beschienenen Abhänge immer deutlicher
und verlockender ausbreitet. Ich sage mir, dieses köstliche, fremde Land
wird nun auf Wochen hinaus -- und Wochen bedeuten auf Reisen viel! --
für mich eine Heimat sein.
Was mir bevorsteht, ist eine Art Besitzergreifen. Es ist keine unreale,
materielle Eroberung, sondern mehr. Ich bin wieder jung. Ich bin
berauscht von schönen Erwartungen, denn ich habe von dieser Insel,
solange ich ihren Namen kannte, Träume geträumt.

Es ist zehn Uhr. Wir befinden uns nun in einer wahrhaft phäakischen
Bucht. Drepane, Sichel, hieß die Insel im ältesten Altertum, und wir
sind in dem Raume der inneren Krümmung. Aber das Jonische Meer ist hier
einem weiten, paradiesischen Landsee ähnlich, weil auch der offene Teil
der Sichel durch die epirotischen Berge hinter uns scheinbar geschlossen
ist.

Ich vermag vor Kopfneuralgien kaum aus den Augen zu sehen. Ich bin
insofern ein wenig enttäuscht, als unser Hotel rings von den Häusern der
Stadt umgeben ist und es nicht leicht erscheint, zu jenen einsamen Wegen
durchzudringen, die mich vom Schiff aus anlockten und die für meine
besondere Lebensweise so notwendig sind. Ein kurzer Gang durch einige
Straßen von Korfu, der Stadt, zwingt mich, die Bemerkung zu machen, daß
hier viele Bettler und Hunde sind. Eine bettelnde Korfiotin, ein
robustes Weib in griechischer Tracht, das Kind auf dem Arm, geht mich um
eine Gabe an, und ich vermag den feurigen Blicken ihrer beiden flehenden
Augen mein hartes Herz nicht erfolgreich entgegenzusetzen.
Ich sehe die ersten griechischen Priester, die im Schmuck ihrer
schwarzen Bärte, Talare und hohen, röhrenförmigen Kopfbedeckungen
Magiern ähneln, auf Plätzen und Gassen herumstreichen. Die nicht sehr
zahlreichen Fremden gehen mit eingezogenen Köpfen umher, es ist ziemlich
kalt. Im oberen Stock eines Hauses wird Schule gehalten. Die Kinder, im
Innern des Zimmers, singen. Die Lehrer gucken lachend und lebhaft
schwatzend zum Fenster heraus. Die Stimmen der Singenden haben mehr
einen kühlen, deutschen Charakter und nicht den feurigen, italienischen,
an den man im Süden gewöhnt ist. Zuweilen singt einer der Lehrer zum
offenen Fenster heraus lustig mit.
Die Stadt Korfu ist in ihrem schöneren Teil durch einen sehr breiten,
vergrasten Platz von der Bucht getrennt. Es ist außerordentlich
angenehm, hier zu lustwandeln. Ein Capodistria-Denkmal und ein marmornes
Rundtempelchen verlieren sich fast auf der weiten Grasfläche. Nach dem
Meer hin läuft sie in eine Felszunge aus, die alte Befestigungen aus den
Zeiten der Venezianer trägt. Ich begegne kaum einem Menschen. Die
Morgensonne liegt auf dem grünen Plan, ein Schäfchen grast nicht weit
von mir. Ein Truthahn dreht sich und kollert in der Nähe der langen
Hausreihe, deren zahllose Fenster geöffnet sind und den Gesang von --
ich weiß nicht wie vielen! -- Harzer Rollern in die erquickende Luft
schicken.
Wir unternehmen am Nachmittag eine Fahrt über Land; es ist in der Luft
eine außerordentlich starke Helligkeit. Figi d'India-Kakteen säumen
mauerartig die Straße. Wir sehen violette Anemonen unten am Wegrand,
Blumen von neuem und wunderbarem Reiz. Warum will man den Blumen
durchaus Eigenschaften von Tieren oder von Menschen andichten und sie
nicht lieber zu Göttern machen? Diese kleinen göttlichen Wesen, deren
köstlicher Liebreiz uns immer wieder Ausrufe des Entzückens entlockt,
zeigen sich in um so größeren Mengen, je mehr wir uns von der Küste
entfernen, ins Innere des Eilands hinein.
Der Blick weitet sich bald über Wiesen mit saftig grünen, aber noch
kurzen Gräsern, die fleckweise wie beschneit von Margueriten sind. In
diesen fast nordischen Rasenflächen stehen Zypressen vereinzelt da und
eine südliche Bucht, der Lago di Caliciopolo lacht dahinter auf. In der
Straße, die eben diese Bucht mit dem Meere verbindet, erhebt sich ein
kleiner, von Mauern und Zypressen gekrönter Fels. Die Mauern bilden ein
Mönchskloster. Ponticonisi oder Mausinsel heißt das Ganze, wovon man
behauptet, es sei das Phäakenschiff, das, nachdem es Odysseus nach
seiner Heimat geleitet hatte, bei seiner Rückkehr, fast schon im Hafen,
von Poseidon zu Stein verwandelt worden ist.
Wiesen und umgeworfene Äcker begleiten uns noch. Vollbusige, griechische
Frauen, in bunter Landestracht, arbeiten in den Feldern. Kleine,
zottelige, unglaublich ruppige Gäule grasen an den Rainen und zwischen
Olivenbäumen, an steinigen Abhängen. Auf winzige Eselchen sind große
Lasten gelegt, und der Treiber sitzt auf der Last oder hinter der Last
noch dazu.
Wir nähern uns mehr und mehr einem Berggebiet. Die Ölwälder geben der
Landschaft einen ernsten Charakter. Die tausendfach durchlöcherten
Stämme der alten Bäume sind wie aus glanzlosem Silber geflochten. Im
Schutze der Kronen wuchert Gestrüpp und ein wildwachsender Himmel
fremdartiger Blüten auf.

Das Achilleion der Kaiserin Elisabeth ist auf einer Höhe errichtet, in
einer Eiland und Meer beherrschenden Lage. Der obere Teil des Gartens
ist ein wenig beengt und kleinlich, besonders angesichts dieser Natur,
die sich um ihn her in die Tiefen ausbreitet. Und jener Teil, der zum
Meere hinuntersteigt, ist zu steil. Von erhabener Art ist die
Achillesverehrung der edlen Frau, obgleich dieser Zug, durch Künstler
der Gegenwart, würdigen Ausdruck hier nicht gefunden hat. Das Denkmal
Heines, eine halbe Stunde entfernt, unten am Meere, können wir, weil es
bereits zu dunkeln beginnt, nicht mehr besuchen.
Die unvergleichlich Edele unter den Frauengestalten jüngster
Vergangenheit, die, nach ihresgleichen in unserem Zeitalter vergeblich
suchend, einsam geblieben ist, vermochte natürlicherweise den
kunstmäßigen Ausdruck ihrer Persönlichkeit nicht selbst zu finden. Und
leider schufen Handlangernaturen auch hier nur wieder im ganzen und
großen den Ausdruck desselben, dem sie entfliehen wollte. Und nur der
Platz, die Welt, der erhabene Glanz und Ernst, in den sie entfloh, legt
von diesem Wesen noch gültiges Zeugnis ab.

Wir schreiben den 30. März. Helle, warme Sonne, blendendes Licht
überall. Der Morgen ist heiter, erfrischend die Luft. Die Stadt ist
erfüllt vom Geschrei der Ausrufer. Viele Menschen liegen jetzt, gegen 9
Uhr früh, am Rande eines kleinen, öffentlichen Platzes umher und sonnen
sich. Eine ganze Familie ist zu beobachten, die sich an eine Gartenmauer
gelagert hat, in einem sehr notwendigen Wärmebedürfnis wahrscheinlich,
da die Nächte kalt und die Keller, in denen die Armen hier wohnen, nicht
heizbar sind. Sie genießen die Strahlen der Sonne mit Wohlbehagen, wie
Ofenglut. Dabei zeigt sich die Mutter insofern ganz ungeniert durch die
Öffentlichkeit, als sie, gleich einer Äffin, in den verfilzten Haaren
ihres Jüngsten herumfingert, sehr resolut, obgleich der kleine Gelauste
schrecklich weint.
Am Kai der Kaiserin Elisabeth steigert sich der Glanz des Lichtes noch,
im Angesichte der schönen Bucht. Das Kai ist eine englische Anlage und
die Nachmittagspromenade der korfiotischen Welt. Es wird begleitet von
schönen Baumreihen, die, wo sie nicht aus immergrünen Arten gebildet
sind, erstes, zartes Grün überzieht. Junge Männer haben Teppiche aus den
Häusern geschleppt und auf dem Grase zwischen den Stämmen ausgebreitet.
Ein scheußliches, altes, erotomanisches Weib macht unanständige Sprünge
in den heiteren Morgen hinein. Sie schreit und schimpft: die Männer
lachen, verspotten sie gutmütig. Sie kratzt sich mit obscöner Gebärde,
bevor sie davongeht und hebt ihre Lumpen gegen die Spottlustigen.
Ich habe jetzt nicht mehr die tiefblaue, köstlich blinkende Bucht zur
Linken, mit den weißen Zelten der albanesischen Berge dahinter, sondern
ein großes Gartengebiet, und wandere weiter, meist unter Ölbäumen, bis
Ponticonisi dicht unter mir liegt. Von hier gegenüber mündet ein kleines
Flüßchen ins Meer und man will dort die Stelle annehmen, wo Odysseus
zuerst ans Ufer gelangte und Nausikaa ihm begegnet ist.
Goethes Entwurf zur Nausikaa begleitet mich.
»Was rufen mich für Stimmen aus dem Schlaf?
Wie ein Geschrei, ein laut Gespräch der Frauen
Erklang mir durch die Dämmrung des Erwachens.
Hier seh ich niemand! Scherzen durchs Gebüsch
Die Nymphen? oder ahmt der frische Wind,
Durchs hohe Rohr des Flusses sich bewegend,
Zu meiner Qual die Menschenstimmen nach?
Wo bin ich hingekommen? welchem Lande
Trug mich der Zorn des Wellengottes zu?«
Ich meine, wenn dieses anziehende Fragment die starke Liebe wieder
erweckt, oder eine ähnlich starke, wie im Herzen seines Dichters war, so
kann dies kein Grund zum Vorwurf sein. Auch dann nicht, wenn diese Liebe
das Fehlende, das Ungeborene, zu erkennen vermeint, oder gar zu ergänzen
unternimmt. Dieser gelassene Ton, der so warm, stark, richtig und
deutsch ist, wird meist durchaus mißverstanden. Man nimmt ihn für kühl
und vergißt auch in der Sprache der Iphigenie die »by very much more
handsome than fine« ist, die alles durchdringende Herzlichkeit.
Der Rückweg nach der Stadt führt zwischen wahre Dickichte von Orangen,
Granaten und Himbeeren. Eukalyptusbäume mit großgefleckten Stämmen von
wunderbarer Schönheit begegnen. Hie und da wandeln Kühe im hohen Gras
unter niedrig gehaltenen Orangenpflanzungen. Steinerne Häuschen, Höhlen
der Armut, bergen sich inmitten der dichten Gärten. Kinder betteln mit
Fröhlichkeit, starrend von Schmutz.
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