Griechischer Frühling - 2

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Immer weiter zwischen verwilderten Hecken, mit Blüten bedeckten,
schreiten wir. Ich bemerke, außer vielen Brombeeren, dickstämmigen,
alten Weißdorn. Marguerits, wie Schnee über Wegrändern und Wiesen,
bilden weiße, liebliche Teppiche des Elends. Erbärmliche Höfe sind von
Aloepflanzen eingehegt, über deren Stacheln unglaubliche Lumpen zum
Trocknen gebreitet sind, und in der Nähe solcher Wohnstätten riecht es
nach Müll. Ich sehe nur Männer bei der Feldarbeit. Die Weiber faulenzen,
liegen im Dreck und sonnen sich.
Ein griechischer Hirt kommt mir entgegen, ein alter, bärtiger Mann. Die
ganze Erscheinung ist wohlgepflegt. Er trägt kretensische Tracht, ein
rockartiges, blaues Beinkleid, zwischen den Beinen gerafft,
Schnabelschuh', die Waden gebunden, ein blaues Jäckchen mit
Glanzknöpfen, dazu einen strohenen Hut. Fünf Ziegen, nicht mehr, trotten
vor ihm hin. Er klappert mit vielen kleinen Blechkannen, die, an einem
Riemen hängend, er mit sich führt.

Ein frischer Nordwest hat eingesetzt, jetzt, am Nachmittag. Zwei alte
Albanesen, dazu ein Knabe, schreiten langsam über die Lespianata. Einer
der würdigen Weißbärte trägt über zwei Mänteln den dritten, dessen
Kapuze er über den Kopf gezogen hat. Der unterste Mantel ist von
hellerem Tuch, der zweite blau, der dritte über und über bedeckt mit
langen, weißlichen Wollzotteln, ähnlich dem Ziegenhaar. Der Sauhirt
Eumäus fällt mir ein und die Erzählung des Bettlers Odysseus von seiner
List, durch die er nicht nur von Thoas, dem Sohne Andrämons, den Mantel
erhielt, sondern auch von Eumäus.
Es scheint, daß die Zahl der Mäntel den Wohlstand ihrer Träger andeutet.
Denn auch der zweite dieser imponierenden Berghirten hat drei Mäntel
übergeworfen. Dabei tragen sie weiße Wollgamaschen und graulederne
Schnabelschuh'. Jeder von ihnen überdies einen ungeschälten, langen
Stab. Der Knabe trägt ein rotes Fez. Die Schnäbel seiner roten Schuhe
sind länger, als die der Alten und jeder mit einer großen, schwarzen
Quaste geziert.
Die Hafenstraßen zeigen das übliche Volksgetriebe. Die Läden öffnen sich
auf schmale, hochgelegene Lauben, aus denen man in das Menschengewimmel
der engen Gäßchen hinuntersieht. Ein Mann trägt Fische mit silbernen
Schuppen auf dem flachen Handteller eilend an mir vorbei. Junge Schafe
und Ziegen hängen, ausgeweidet und blutend, vor den Läden der Fleischer.
Über der Tür einer Weinstube voll riesiger Fässer sind im Halbkreis
Flaschen mit verschieden gefärbtem Inhalt an Schnüren ausgehängt. Man
hat schlechte Treppen, übelriechende Winkel zu vermeiden, vertierten
Bettlern aus dem Wege zu gehn.
Einer dieser Bettler nähert sich mir. Er überbietet jeden sonstigen,
europäischen Eindruck dieser Art. Seine Augen glühen über einem
sackartigen Lumpen hervor, mit dem er Mund, Nase und Brust vermummt hat.
Er hustet in diese Umhüllung hinein. Er bleibt auf der Straße stehen und
hustet, krächzt, pfeift mit Absicht, um aufzufallen, sein fürchterliches
Husten minutenlang. Es ist schwer, sich etwas so Abstoßendes
vorzustellen, als dieses verlauste, unflätige, barfüßige und halbnackte
Gespenst.

Ich verbringe die Stunde um Sonnenuntergang in dem schönen, verwilderten
Garten, der dem König von Griechenland gehört. Es ist eine wunderbare
Wildnis von alten Zypressen-, Oliven- und Eukalyptusbäumen, ungerechnet
alle die blühenden Sträucher, in deren Schatten man sich bewegt.
Vielleicht wäre es schade, wenn dieser Garten oft vom König besucht
würde, denn bei größerer Pflege müßte er vieles verlieren von dem Reiz
des Verwunschenen, der ihm jetzt eigen ist. Die Riesenbäume schwanken
gewaltig im Winde und rauschen dazu: ein weiches, aufgestörtes Rauschen,
in das sich der eherne Ton des Meeres einmischt.

Wie ich heute morgen das Fenster öffne, ist die Sonne am wolkenlosen
Himmel längst aufgegangen. Ich bemerke, daß alles in einem fast weißen
Lichte unter mir liegt: die Straßen und Dächer der Stadt, der Himmel,
die Landschaft mit ihren Wiesen, Olivenwäldern und fernen Bergen. Als
ich aus dem Hotel trete, muß ich die Augen fast schließen, und lange,
während ich durch den nördlichen Stadtteil Korfus hinauswandere, suche
ich meinen Weg blinzelnd.
Die Vorstadt zeigt das übliche Bild. Auf kleinen Eselchen sitzen Reiter,
so groß, daß man meint, sie könnten ihr Reittier mühelos in die Tasche
stecken. Ruppige Pferdchen, braunschwarz oder schwarz, mit Schweifen,
die bis zur Erde reichen, tragen allerlei tote Lasten und lebende
Menschen dazu. Vor ihren zumeist einstöckigen Häusern hocken viele
Bewohner und sonnen sich. Eine junge Mutter säugt, auf ihrer Türschwelle
sitzend, ihr jüngstes Kind und laust es zugleich, in aller Behaglichkeit
und Naivetät. Die weißen Mauerflächen werfen das Licht zurück und
erzeugen Augenschmerzen.
Ich komme nun in die Region der Weiden und Ölgärten. Auf einer ebenen
Straße, die stellenweise vom Meere bespült, dann wieder durch sumpfige
Strecken oder Weideland vom Rande der großen, inneren Bucht getrennt
ist. Ich ruhe ein wenig, auf einem Stück Ufermauer am Ausgang der Stadt.
Die Sonne brennt heiß. Von den angrenzenden Hügeln steigt ein
albanesischer Hirte mit seinen Schafen zur Straße herunter: trotz der
Wärme trägt er seine drei Mäntel, oben den fließartigen, über die
Schultern gehängt. Ein sehr starkes und hochbeiniges Mutterschwein kommt
aus der Stadt und schreitet hinter seinen Ferkeln an mir vorüber. Es
folgt ein Eber, der kleiner ist.
Es ist natürlich, wenn ich auch hier wieder an Eumäus denke, den
göttlichen Hirten, eine Gestalt, die mir übrigens schon seit längerer
Zeit besonders lebendig ist. Eigentümlicherweise umgibt das Tier, dessen
Pflege und Zucht ihm besonders oblag, noch heute bei uns auf dem Lande
eine Art alter Opferpoesie. Es ist das einzige Tier, das von kleinen
Leuten noch heute, nicht ohne große festliche Aufregung, im Hause
geschlachtet wird. Das Barbarische liegt nicht in der naiven Freude an
Trunk und Schmaus; denn die homerischen Griechen, gleich den alten
Germanen, neigten zur Völlerei. Metzgen, essen, trinken, gesundes
Ausarbeiten der Glieder im Spiel, im Kampfspiel zumeist, das alles im
Einverständnis mit den Himmlischen, ja in ihrer Gegenwart, war für
griechische wie für germanische Männer der Inbegriff jeder Festlichkeit.
Es liegt in dem Eumäus-Idyll eine tiefe Naivetät, die entzückend
anheimelt. Kaum ist irgendwo im Homer eine gleiche menschliche Wärme zu
spüren wie hier. Es wäre vielleicht von dieser Empfindung aus nicht
unmöglich, dem ewigen Gegenstande ein neues, lebendiges Dasein für uns
zu gewinnen.
Es ist nicht durchaus angenehm, außer zum Zweck der Beobachtung, durch
diese weiße, stauberfüllte Vorstadt zurück den Weg zu nehmen.
Unglaublich, wieviele Murillosche Kopfreinigungen man hier öffentlich zu
sehen bekommt! Es ist glühend heiß. Scharen von Gänsen fliegen vor mir
auf und vermehren den Staub, ihn, die weite Straße hinabfliegend, zu
Wolken über sich jagend. Hochrädrige Karren kommen mir entgegen. Hunde
laufen über den Weg: Bulldoggen, Wolfshunde, Pintscher, Fixköter aller
Art! Gelbe, graue und schwarze Katzen liegen umher, laufen, fauchen,
retten sich vor Hunden auf Fensterbrüstungen. Eselchen schleppen
Ladungen frischgeflochtener Körbe, die den Entgegenkommenden das
Ausweichen fast unmöglich machen. Eine breitgebaute, griechische Bäuerin
drückt, im _bildlichen_ Sinne, wie sie pompös einherschreitet, ihre
Umgebung an die Wand. Bettler, mit zwei alten Getreidesäcken bekleidet,
den einen unter den Achseln um den Leib geschlungen, den andern über die
Schultern gehängt wie ein Umschlagetuch, sprechen die Inhaber ärmlicher
Läden um Gaben an. Ein junger Priesterzögling von sehr gepflegtem
Äußeren, mit schwarzem Barett und schwarzer Sutane, ein Jüngling, der
schön wie ein Mädchen ist, von einem gemeinen Manne, dem Vater oder
Bruder begleitet, geht mir entgegen. Der Arm des Begleiters ist um die
Schultern des Priesters gelegt, dessen tiefschwarz glänzendes Haar im
Nacken zu einem Knoten geflochten ist. Weiber und Männer blicken ihm
nach.

Heute entdecke ich eigentlich erst den Garten des Königs und seine
Wunder. Ich nehme mir vor, von morgen ab mehrere Stunden täglich hier
zuzubringen. Seit längerer Zeit zum ersten Male genieße ich hier jene
köstlichen Augenblicke, die auf Jahre hinaus der Seele Glanz verleihen,
und um derentwillen man eigentlich lebt. Es dringt mir mit voller Macht
ins Gemüt, wo ich bin, und daß ich das Jonische Meer an den felsigen
Rändern des Gartens brausen höre.

Wir haben heute den 1. April. Meine Freunde, die Maler sind, und ich,
haben uns am Eingange der Königsvilla von einander getrennt, um, jeder
für sich, in dem weiten, verwilderten Gartenbereich auf Entdeckungen
auszugehen. Es ist ein Morgen von unvergleichlicher Süßigkeit. Ich
schreibe, meiner Gewohnheit nach, im Gehen, mit Bleistift diese Notizen.
Mein Auge weidet. Das Paradies wird ein Land voll ungekannter,
köstlicher Blumen sein. Die herrlichen Anemonen Korfus tragen mit dazu
bei, daß man Ahnungen einer andern Welt empfindet. Man glaubt beinahe,
auf einem fremden Planeten zu sein.
In dieser eingebildeten Loslösung liegt eine große Glückseligkeit.
Ich finde nach einigem Wandern die Marmorreste eines antiken
Tempelchens. Es sind nur Grundmauern; einige Säulentrommeln liegen
umher. Ich lege mich nieder auf die Steine, und eine unsägliche Wollust
des Daseins kommt über mich. Ein feines, glückliches Staunen erfüllt
mich ganz, zunächst fast noch ungläubig, vor diesem nun Ereignis
gewordenen Traum.
Weniger um etwas zu schaffen, als vielmehr um mich ganz einzuschließen
in die Homerische Welt, beginne ich ein Gedicht zu schreiben, ein
dramatisches, das Telemach, den Sohn des Odysseus, zum Helden hat.
Umgeben von Blumen, umtönt von lautem Bienengesumm, fügt sich mir Vers
zu Vers, und es ist mir allmählich so, als habe sich um mich her nur
mein eigener Traum zu Wahrheit verdichtet.
Die Lage des Tempelchens am Rande der Böschung, hoch überm Meer, ist
entzückend; alte, ernste Oliven umgeben in einiger Ferne die Vertiefung,
in die es gestellt ist. Welchem Gotte, welchem Heros, welchem
Meergreise, welcher Göttin oder Nymphe war das Tempelchen etwa geweiht,
das in das grüne Stirnband der Uferhöhe eingeflochten, dem nahenden
Schiffer entgegenwinkte? diese kleine, schweigende Wohnung der Seligen,
die, Weihe verbreitend, noch heute das Rauschen der Ölbäume, das
schwelgerische Summen der Bienen, das Duftgewölke der Wiesen als ewige
Opfergaben entgegennimmt. Die kleinen, blinkenden Wellen des Meeres
ziehen, vom leisen Ost bewegt, wie in himmlischer Prozession heran, und
es ist mir, als wäre ich nie etwas anderes, als ein Diener der
unsterblichen Griechengötter gewesen.
Ich weiß nicht, wie ich auf die Vermutung komme, daß unterhalb des
Tempelchens eine Grotte und eine Quelle sein müsse. Ich steige
verfallene Stufen tief hinab und finde beides. Quellen und Grotten
münden auf grüne von Marguerits übersäte Terrassen, in ihrer versteckten
Lage von süßestem Reiz. Ich bin hier, um die Götter zu verehren, zu
lieben und herrschen zu machen über mich. Deshalb pflücke ich Blumen,
werfe sie in das Becken der Quelle, zu den Najaden und Nymphen flehend,
den lieblichen Töchtern des Zeus.

Ein brauner, schwermütiger Sonnenuntergang. Wir finden uns an die
Schwermut norddeutscher Ebenen irgendwie erinnert. Es ist etwas Kühles
in Licht und Landschaft, das vielleicht deutlicher vorstellbar wird,
wenn man es unitalienisch nennt. Das Landvolk, obgleich die Bäuerinnen
imposant und vollbusig sind und von schöner Rasse, erscheint nach außen
hin temperamentlos, im Vergleich mit Italien, und zwar trotz des
italienischen Einschlags. Es kommt uns vor, als wäre das Leben hier
nicht so kurzweilig, wie auf der italienischen Halbinsel.
Die griechische Bäuerin hat durchaus den graden, treuherzigen Zug, der
den Männern hier abgeht, und den man als einen deutschen gern in
Anspruch nimmt. Sinnliches Feuer scheint ebenso wenig Ausdruck ihrer
besonderen Art zu sein, als bei den homerischen Frauengestalten.
Überhaupt erscheinen mir die homerischen Zustände den frühen
germanischen nicht allzu fern stehend. Der homerische Grieche ist
Krieger durchaus, ein kühner Seefahrer, wie der Normanne verwegener
Pirat, von tiefer Frömmigkeit bis zur Bigotterie, trunkliebend, zur
Völlerei neigend, dem Rausche großartiger Gastereien zugetan, wo der
Gesang des Skalden nicht fehlen durfte.

Ich habe mich auf den Resten des antiken Tempelchens, das ich nun schon
zum dritten- oder viertenmal besuche, niedergelassen. Es fällt lauer
Frühlingsregen. Ein großer, überhängender, weidenartiger Strauch umgibt
mich mit dem Arom seiner Blüten. Die Wellen wallfahrten heut mit starkem
Rauschen heran. Immer der gleiche Gottesdienst in der Natur.
Wolkendünste bedecken den Himmel.
Immer erst, wenn ich auf den Grundmauern dieses kleinen Gotteshauses
gestanden habe, fühle ich mich in den Geist der Alten entrückt und
glaube in diesem Geiste alles rings umher zu empfinden. Ich will nie
diese Stunden vergessen, die in einem ungeahnten Sinne erneuernd sind.
Ich steige ans Meer zu den Najaden hinunter. Auf den Stufen bereits
vernehme ich das Geschrei einer Ziege, von der Grotte und Quelle
empordringend. Ich bemerke, wie das Tier von einem großen, rotbraunen
Segel beunruhigt ist, das sich dem Lande, düster schattend, bis auf
wenige Meter nähert, um hier zu wenden. Unwillkürlich muß ich an Seeraub
denken und das fortwährende, klägliche Hilferufen des geängstigten
Tieres bringt mir, beim Anblick des großen, drohenden Segels, die alte
Angst des einsamen Küstenbewohners, vor Überfällen, nah.

Oft ist bei Homer von schwarzen Schiffen die Rede. Ob sie nicht etwa den
Nordlandsdrachen ähnlich gewesen sind? Und ob nicht etwa die homerischen
Griechen, die ja durchaus Seefahrer und Abenteurernaturen waren, auch
das griechische Festland vom Wasser aus zuerst betreten haben?
Eigentümlich ist es, wie sich in einem Gespräch des Plutarch eine
Verbindung des hohen Nordens mit diesem Süden andeutet; wo von Völkern
griechischen Stammes die Rede ist, die etwa in Kanada angesessen waren,
und von einer Insel Ogygia, wo der von Zeus entthronte Kronos gleichsam
in Banden eines Winterschlafes gefangen saß. Besonders merkwürdig ist
der Zug, daß jener entthronte Gott, Kronos oder Saturn, noch immer alles
dasjenige träumte, was der Sohn und Sieger im Süden, Zeus, im Wachen
sah. Also etwa, was jener träumte, war diesem Wirklichkeit. Und Herakles
begab sich einst in den Norden zurück, und seine Begleiter reinigten
Sitte und Sprache der nördlichen Griechen, die inzwischen verwahrlost
waren.
Ich strecke mich auf das saftige Grün der Terrasse unter die zahllosen
Gänseblümchen aus, als ob ich, ein erster Grieche, soeben nach vieler
Mühsal gelandet wäre. Ein starkes Frühlingsempfinden dringt durch mich;
und in diesem Gefühle eins mit dem Sprossen, Keimen und Blühen rings um
mich her, empfinde ich jeden Naturkult, jede Art Gottesdienst, jedes
irgendwie geartete höhere Leben des Menschen durch Eros bedingt.

Ich beobachte eben, vor Sonnenuntergang, in einer Ausbuchtung der
Kaimauer, zwei Muselmänner. Sie verrichten ihr Abendgebet. Die Gesichter
»nach Mekka« gewendet, gegen das Meer und die epirotischen Berge, stehen
sie ohne Lippenbewegung da. Die Hände sind nicht gefaltet, nur mit den
Spitzen der Finger aneinandergelegt. Jetzt, indem sie sich auf ein Knie
senken, machen sie gleichzeitig eine tiefe Verneigung. Diese Bewegung
wird wiederholt. Sie lassen sich nun auf die Kniee nieder und berühren
mit den Stirnen die Erde. Auch diesen Ausdruck andachtsvoller
Erniedrigung wiederholen sie. Aufgerichtet, beten sie weiter. Nochmals
sinken sie auf die Kniee und berühren mit ihren Stirnen wieder und
wieder den Boden. Alsdann fährt sich, noch kniend, der ältere von den
beiden Männern mit der Rechten über das Angesicht und über den dunklen,
graumelierten Bart, als wollte er einen Traum von der Seele streifen,
und nun kehren sie, erwacht, aus dem inneren Heiligtum in das laute
Straßenleben, das sie umgibt, zurück. Wer diese Kraft zur Vertiefung
sieht, muß die Macht anerkennen und verehren, die hier wirksam ist.

Heut werfen die Wellen ihre Schaumschleier über die Kaimauer der Strada
marina. Die Möven halten sich mit Meisterschaft gegen den starken
Südwind über den bewegten Wassern des Golfes von Kastrades. Es herrscht
Leben und Aufregung. Von gestern zu heut sind die Baumwipfel grün
geworden im lauen Regen.
Die Luft ist feucht. Der Garten, in den ich eintrete, braust laut. Der
Garten der Kirke, wie ich den Garten des Königs jetzt lieber nenne,
braust laut und melodisch und voll. Düfte von zahllosen Blüten dringen
durch dunkle, rauschende Laubgänge und strömen um mich mit der bewegten
Luft. Es ist herrlich! Der Webstuhl der Kirke braust wie Orgeln:
Choräle, endlos und feierlich. Und während die Göttin webt, die
Zauberin, bedeckt sich die Erde mit bunten Teppichen. Aus grünen Wipfeln
brechen die Blüten: gelb, weiß und rot, wie Blut. Das zarteste der
Schönheit entsteht ringsum. Millionen kleiner Blumen trinken den Klang
und wachsen in ihm. Himmelhohe Zypressen wiegen die schwarzen Wedel
ehrwürdig. Der gewaltige Eukalyptus, an dem ich stehe, scheint zu
schaudern vor Wonne, im Ansturm des vollen, erneuten Lebenshauchs. Das
sind Boten, die kommen! Verkündigungen!
Wie ich tiefer in das verwunschene Reich eindringe, höre ich über mir in
der Luft das beinahe melodische Knarren eines großen Raben. Ich sehe ihn
täglich, nun schon das drittemal: den Lieblingsvogel Apollons. Er
überquert eine kleine Bucht des Gartens. Der Wind trägt seine Stimme
davon, denn ich sehe nur noch, wie er seinen Schnabel öffnet.
Immer noch umgibt mich das Rauschen, das allgemeine, tiefe Getöse. Es
scheint aus der Erde zu kommen. Es ist, als ob die Erde selbst tief und
gleichmäßig tönte, mitunter bis zu einem unterirdischen Donner
gesteigert.
Im Schatten der Ölbäume, im langhalmigen Wiesengras, gibt es viele
gemauerte Wasserbrunnen. Über einem, der mir vor Augen liegt, sehe ich
Nymphe und Najade gesellt, denn der Gipfel eines Baumes, dessen Stamm im
Innern der Zisterne heraufdringt, überquillt ihre Öffnung mit jungem
Grün. Die Grazien umtanzen in Gestalt vieler zartester Wiesenblumen den
verschwiegenen Ort.
Die Gestalten der Kirke und der Kalypso ähneln einander. Jede von ihnen
ist eine »furchtbare Zauberin«, jede von ihnen trägt ein anmutig feines
Silbergewand, einen goldenen Gürtel und einen Schleier ums Haupt. Jede
von ihnen hat einen Webstuhl, an dem sie ein schönes Gewebe webt. Jede
von ihnen wird abwechselnd Nymphe und Göttin genannt. Sie haben beide
eine weibliche Neigung zu Odysseus, der mit jeder von ihnen das Lager
teilen darf. Beide, an bestimmte Wohnplätze gebunden, sind der mythische
Ausdruck sich regender Wachstumskräfte in der Frühlingsnatur, nicht wie
die höheren Gottheiten überall, sondern an diesem und jenem Ort. In
Kirke scheint das Wesen des Mythus, und besonders in ihrer Kraft zu
verwandeln, tiefer und weiter, als in Kalypso ausgebildet zu sein.
Das Rauschen hat in mir nachgerade einen Rausch erzeugt, der Natur und
Mythus in eins verbindet, ja ihn zum phantasiegemäßen Ausdruck von jener
macht. Auf den Steinen des antiken Tempelchens sitzend, höre ich Gesang
um mich her, Laute von vielen Stimmen. Ich bin, wie durch einen leisen,
unwiderstehlichen Zwang, in meiner Seele willig gemacht, Zeus und den
übrigen Göttern Trankopfer auszugießen, ihre Nähe im Tiefsten
empfindend. Es ist etwas Rätselhaftes auch insofern um die
Menschenseele, als sie zahllose Formen anzunehmen befähigt ist. Eine
große Summe halluzinatorischer Kräfte sehen wir heut als krankhaft an,
und der gesunde Mensch hat sie zum Schweigen gebracht, wenn auch nicht
ausgestoßen. Und doch hat es Zeiten gegeben, wo der Mensch sie voll
Ehrfurcht gelten und menschlich auswirken ließ.
»Und in dem hohen Palaste der schönen Zauberin dienten
Vier holdselige Mägde, die alle Geschäfte besorgten.
Diese waren Töchter der Quellen und schattigen Haine
Und der heiligen Ströme, die in das Meer sich ergießen.«
Die schöne Wäscherin, die ich an einem versteckten Röhrenbrunnen
arbeiten sehe, auf meinem Heimwege durch den Park -- die erste schöne
Griechin überhaupt, die ich zu Gesicht bekomme! -- sie scheint mir eine
von Kirkes Mägden zu sein. Und wie sie mir in die Augen blickt, befällt
mich Furcht, als läge die Kraft der Meisterin auch in ihr, Menschen in
Tiere zu verwandeln, und ich sehe mich unwillkürlich nach dem Blümchen
Molly um.

Heut, den 5. April, hat ein großes Schiff dreihundert deutsche Männer
und Frauen am Strande von Korfu abgesetzt. Ein mit solchen Männern und
Frauen beladener Wagen kutscht vor mir her. Auf der Strada marina läßt
Gevatter Wurstmacher den Landauer anhalten, steigt heraus und nimmt mit
einigen lieben Anverwandten, eilig, in ungezwungener Stellung,
photographiergerecht, auf der Kaimauer Platz. Ein schwarzbärtiger
Idealist mit langen Beinen und engem Brustkasten erhebt sich auf dem
Kutschbock und photographiert. Am Eingange meines Gartens holt die
Gesellschaft mich wieder ein, die sich durch das unumgängliche
Photographieren verzögert hat. »Palais royal?« tönt nun die Frage an den
Kutscher auf gut Französisch. --
Und wie ich den Garten der Zauberin wieder betrete, von heimlichem
Lachen geschüttelt, fällt mir eine Geschichte ein: Mitridates steckte
einst in Kleinasien einen Hain der Eumeniden in Brand, und man hörte
darob ein ungeheures Gelächter. Die beleidigten Götter forderten nach
dem Spruche der Seher Sühnopfer. Die Halswunde jenes Mädchens aber, das
man hierauf geschlachtet hatte, lachte noch auf eine furchtbare Weise
fort.

Das eine der Fenster unseres Wohnsaales im Hotel Belle Venise gewährt
den Blick in eine Sackgasse. Dort ist auch ein Abfallwinkel des Hotels.
Der elende Müllhaufen übt eine schreckliche Anziehungskraft auf Tiere
und Menschen aus. So oft ich zum Fenster hinausblicke, bemerke ich ein
anderes hungriges Individuum, Hund oder Mensch, das ihn durchstöbert.
Ohne jeden Sinn für das Ekelhafte greift ein altes Weib in den Unrat,
nagt das sitzengebliebene Fleisch aus Apfelsinenresten und schlingt
Stücke der Schale ganz hinab. Jeden Morgen erscheinen die gleichen
Bettler, abwechselnd mit Hunden, von denen mitunter acht bis zehn auf
einmal den Haufen durchstören. Diese scheußliche Nahrungsquelle
auszunützen, scheint der einzige Beruf vieler unter den ärmsten
Bewohnern Korfus zu sein, die in einem Grade von Armut zu leben
gezwungen sind, der, glaube ich, selbst in Italien selten ist. Von
Müllhaufen zu Müllhaufen wandern, welch ein unbegreifliches Los der
Erbärmlichkeit! Mit Hunden und Katzen um den Wegwurf streiten. Und doch
war es vielleicht mitunter das Los Homers, der, wie Pausanias schreibt,
auch dieses Schicksal gehabt hat, als blinder Bettler von Ort zu Ort zu
ziehn.

Der Garten der Kirke liegt diesen Nachmittag in einer düstern
Verzauberung. Die blaßgrünen Schleier der Olivenzweige rieseln leis. Es
ist ein ganz zartes und feines Singen. Von unten tönt laut das eherne
Rauschen des Jonischen Meeres. Ich muß an das unentschiedene
Schlachtengetöse homerischer Kämpfe denken. Der Wolkenversammler
verdunkelt den Himmel, und eine bängliche Finsternis verbreitet sich
zwischen den Stämmen unter den Ölbaumwipfeln. Vereinzelte große
Regentropfen fallen auf mich. Der Efeu erscheint wie ein polypenartig
würgendes Tier, er schlägt in unzerbrechliche Bande: Mauern, steinerne
Stufen, Bäume! Es ist etwas ewig Totes, ewig Stummes, ewig Verlassenes,
ewig Verwandeltes in der Natur und in allem vegetativen Dasein des
Gartens. Die Tiere der Kirke schleichen lautlos, tückisch und
unsichtbar! der bösen, tückischen Kirke Gefangene! Sie erscheinen für
ewig ins Innere dieser Gartenmauer gebannt, wie Sträucher und Bäume an
ihre Stelle. Alle diese uralten, rätselhaft verstrickten Olivenbäume
gleichen unrettbar verknoteten Schlangen, erstarrt, mitten im Kampf,
durch ein schreckliches Zauberwort.
Aber nun geht eine Angst durch den Garten: etwas wie Angst oder nahes
Glück. Wir alle, unter der drohenden Macht des beklemmenden Rätsels
eines unsagbar traurigen und verwunschenen Daseins, fühlen den nahen
Donner des Gottes voraus. Mächtig grollt es fern auf; und Zeus winkt mit
der Braue ... Kirke erwartet Zeus.

Ehe man Potamo auf Korfu erreicht, überschreitet man einen kleinen Fluß.
Die Ortschaft ist mit grauen Häuschen und einem kleinen Glockenturm auf
eine sanft ansteigende Berglehne zwischen Ölbäume und Zypressen
hingestreut. Unter den Bewohnern des Ortes, die alle dunkel sind, fällt
ein Schmied oder Schlosser auf, der in der Tür seiner Werkstatt mit
seinem Schurzfell dasteht, blauäugig, blond und von durchaus kernigem,
deutschem Schlag, seiner Haltung und dem Ausdruck seines Gesichtes nach.
Das Tal hinter Potamo entwickelt die ganze Fülle der fruchtbaren Insel.
Auf saftigen Wiesenabhängen langhalmiger, üppiger Gräser und Blumen,
stehen, Wipfel an Wipfel, Orangenbäume, jeder mit einem Reichtum
schwerer und reifer Früchte durchwirkt. Die gleiche, lastende Fülle ist,
links vom Wege, in die Talsenkung hinein verbreitet und jenseit die
Abhänge hinauf, bis unter die allgegenwärtigen Ölbäume. Fruchtbare Fülle
liegt wie ein strenger Ernst über diesem gesegneten Tal. Es ist von
Reichtum gleichsam beschwert bis zur Traurigkeit. Es ist etwas fronmäßig
Lasttragendes in diesem Überfluß, so daß hier wiederum das Mysterium der
Fruchtbarkeit, beinahe zu Gestalten verdichtet, dem inneren Sinne sich
aufdrängt. Hier scheint ein dämonischer Reichtum wie dazu bestimmt,
verschlagenen Seefahrern sich für eine angstvolle Schwelgerei
darzubieten, panischen Schrecknissen nahe.
Gestrüppen, wilden Dickichten gleich, steigen Orangengärten in die
Schluchten hinunter, die von uralten Oliven und Zypressen verfinstert
sind und locken von dort her, aus der verschwiegenen Tiefe mit ihrer
süßen, schweren, fast purpurnen Frucht. Man spürt das Gebärungswunder,
das Wunder nymphenhafter Verwandlungen: ein Wirken, das ebenso süß, als
qualvoll ist.
Ich sollte hier der Orange von Korfu, als der besten der Welt begeistert
huldigen! -- Man gehe hin und genieße sie.
Die Straße steigt an und bei einer Wendung tut sich, weithin gedehnt,
eine sanfte Tiefe dem Blicke auf: die Ebene zwischen Govino und Pyrgi
ungefähr, mit ihren umgrenzenden Höhenzügen. Wälder von Olivenbäumen
bedecken sie, ja Gipfel, Abhänge und Ebene überzieht ein einziger Wald.
Der majestätische Ernst des Eindrucks ist mit einem unsäglich weichen
Reiz verbunden.
Eine Biegung der Straße enthüllt teilweise die blauleuchtende Bucht und
die Höhe des San Salvatore dahinter. Zum Ernst, zur Einfalt, zur
Großheit, darf man sagen, tritt nun die Süße. -- Wir wandeln unter die
Wälder hinein. Das Auge wird immer wieder gefesselt von dem
unvergleichlichen Linienreiz der zerlöcherten und zerklüfteten
Riesenstämme, von denen einige zerrissen und in wilde Windungen
zerborsten, doch, mit erzenem, unbeweglichem Griff in die Erde
verknotet, aufrecht geblieben sind.
Der Himmel ist grau und bewölkt. Wir entdecken in der Tiefe der
fruchttragenden Waldungen Kinder, Hirtinnen mit gelben Kopftüchern. Bis
an die Straße zu uns her sind kleine, wollige, unwahrscheinliche
Jesusschäfchen verstreut. Ich winke einer der kleinen Hirtinnen: sie
kommt nicht leicht. Ihr Dank für unsere Gabe ist ganz Treuherzigkeit.
Schemenhaft flüstern die Ölzweige. Weithin geht und weither kommt
ewiges, sanftes, fruchtbares Rauschen.

Wir unternehmen heut eine Fahrt nach Pelleka. Dort, von einem gewissen
Punkte aus, überblickt man einen sehr großen Teil der Insel, die Buchten
gegen Epirus hin und zugleich das freie Jonische Meer.
Heute, am Sonntag, lehnen etwa hundert Männer über die Mauer der Straße,
wo diese eine Kehre macht und gleichsam eine Terrasse oder Rampe der
Ortschaft bildet. Unser Wagen wird sogleich von einer großen Menge
erbärmlich schmutziger Kinder umringt, die zumeist ein verkommenes
Ansehen haben und schlimm husten. Mit uns dem gesuchten Aussichtspunkt
zusteigend -- wir haben den Wagen verlassen! -- verfolgen uns die Kinder
in hellen Haufen. Eingeborene Männer versuchen es immer wieder, sie zu
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