Griechischer Frühling - 4

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überfeinerten Nerven zu tun, und ebensowenig, wie sie, ihre Dichter --
am allerwenigsten aber ihr Publikum. Trotzdem aber keiner der Zuschauer
jener Zeiten, etwa wie viele der heutigen, beim Hühnerschlachten
ohnmächtig wurde, so blieb, nachdem die Gewalt der Tragödie über ihn
hingegangen war, die Komödie eines jeden unabweisliche Gegenforderung:
und das ist gesund und ist gut.
Die ländlichen Dionysien wurden an der Südseite der Akropolis, im
Lenäon, nach beendeter Weinlese abgehalten. Was hindert mich, trotzdem,
das sogenannte Schlauchspringen mir unten in der Orchestra meines
Theaters vorzustellen? Man sprang auf einen geölten, mit Luft gefüllten
Schlauch, und suchte, einbeinig hüpfend, darauf Fuß zu fassen. Das ist
der Ausdruck überschäumender Lustigkeit, ein derber überschüssiger
Lebensmut. Und nicht aus dem Gegenteil, nicht aus der Schwäche und
Lebensflucht entstehen Tragödie und Komödie!
Ein deutscher Kegelklub betritt, von einem schreienden Führer belehrt,
den göttlichen Raum. Man sieht es den hilflos tagblinden Augen der
Herren an, daß sie vergeblich hier etwas Merkwürdiges suchen. Ich würde
ihren gelangweilten Seelen gönnen, sich wenigstens an der Vorstellung
aufzuheitern, dem tollen Sprung auf den öligen Schlauch, die mich
ergötzt.

Heut betrete ich, ich glaube zum viertenmal, die Akropolis. Es ist
länger als fünfundzwanzig Jahre her, daß mein Geist auf dem Götterfelsen
heimisch wurde. Damals entwickelte uns ein begeisterter Mann, den
inzwischen ein schweres Schicksal ereilt hat, seine Schönheiten. Es ist
aber etwas anderes, von jemand belehrt zu werden, der mit eigenen Augen
gesehen hat, oder selber die steilen Marmorstufen zu den Propyläen
hinaufzusteigen und mit eignen Augen zu sehn.
Ich finde, daß diese Ruinen einen spröden Charakter haben, sich nicht
leicht dem Spätgeborenen aufschließen. Ich habe das dunkle Bewußtsein,
als ob etwa über die Säulen des Parthenon von da ab, als man sie wieder
zu achten anfing, sehr viel Berauschtes verfaßt worden wäre. Und doch
glaube ich nicht, daß es viele gibt, die von den Quellen der Berauschung
trunken gewesen sind, die wirklich im Parthenon ihren Ursprung haben.
Wie der Parthenon jetzt ist, so heißt seine Formel: Kraft und Ernst!
Davon ist die Kraft fast bis zur Drohung, der Ernst fast bis zur Härte
gesteigert. Die Sprache der Formen ist so bestimmt, daß ich nicht einmal
glauben kann, es sei durch die frühere, bunte Bemalung ihrem Ausdruck
etwas genommen worden.
Ich habe das schwächliche Griechisieren, die blutlose Liebe zu einem
blutlosen Griechentum niemals leiden mögen. Deshalb schreckt es mich
auch nicht ab, mir die dorischen Tempel bunt und in einer für manche
Begriffe barbarischen Weise bemalt zu denken. Ja, mit einer gewissen
Schadenfreude gönne ich das den Zärtlingen. Ich nehme an, es gab dem
architektonischen Eindruck eine wilde Beimischung. Möglicherweise
drückte das Grelle des farbigen Überzugs den naiven Stand der
Beziehungen zwischen Göttern und Menschen aus, indem er fast
marktschreierisch zu festlichen Freuden und damit zu tiefer Verehrung
einfing.
Jeder echte Tempel ist volkstümlich. Trotz unserer europäischen Kirchen
und Kathedralen glaube ich, gibt es bei uns keine echten Tempel in
diesem Betrachte mehr. Vielleicht aus dem Grunde, weil sich bei uns die
Lebensfreude von der Kirche geschieden hat, die nur noch gleichsam den
Tod und die Gruft verherrlicht. Die Kirchen bei uns sind Mausoleen:
wobei ich nur an die katholischen denke. Einen protestantischen Tempel
gibt es nicht. Da nun aber das Leben lebt und lebendig ist, so erzeugt
sich auch immer unfehlbar wieder der Trieb zur Freude. Und er ist es,
der heute das Theater, den gefährlichsten Konkurrenten der Kirche,
geschaffen hat. Ich behaupte, was heut die Menschen zur Kirche treibt,
ist entweder Todesangst oder Suggestion. Das Theater bedarf solcher
Mittel nicht, um Menschen in seine Räume zu bringen. Dorthin drängen sie
sich vielmehr, wie Spatzen, von einem fruchtbeladenen Kirschbaume
angelockt.
Wenn heut bei uns eine Gauklergesellschaft auf dem Dorfplan Zelte
errichtet, herrscht sogleich unter der Mehrzahl der Dörfler, vor allem
aber unter den Kindern, festliche Aufregung. Kunstreiter oder
Bänkelsänger mit der neuesten Moritat, sie genießen, obgleich in Acht
und Bann seit Jahrtausenden, immer die gleiche, natürliche Zuneigung.
Der Karren des Thespis war nicht in Acht und Bann getan; ja, Thespis
erhielt im Theater, im heiligen Bezirk des Dionysos, seine Statue, und
doch scheint er auch nur mit der Moritat von Ikarios umhergezogen zu
sein. Kurz, was heute in Theater und Kirche zerfallen ist, war damals
ganz und eins; und, weit entfernt ein memento mori zu sein, lockte der
Tempel ins höhere, festliche Leben, er lockte dazu, wie ein buntes,
göttliches Gauklerzelt.
Während unsre Kirchen eigentlich nur den Unterirdischen geweiht zu sein
scheinen, galten die griechischen Tempel als Wohnung der Himmlischen.
Deshalb senkten sie lichte Schauder ins Herz, statt der dunklen, und die
Pilger ergriff zugleich, in der olympischen Nähe, Furcht, Seligkeit,
Sehnsucht und Neid.

Starker Wind. Gesundes, sonniges Wetter. In der Luft wohnt deutscher
Frühling. Der Parthenon: stark, machtvoll, ohne südländisches Pathos,
rauscht im Winde laut, wie eine Harfe oder das Meer. Ein deutscher
Grasgarten ist um ihn herum. Frühlingsblumen beben im Luftzug. Um alle
die heiligen Trümmer auf dem grünen Plateau der Akropolis weht
Kamillen-Arom. Es ist ein unsäglich entzückender Zustand, zwischen den
schwankenden Gräsern auf irgendeinem Stück Marmor zu sitzen, die Augen
schweifen zu lassen, über die blendend helle, attische Landschaft hin.
Hymettos zur Linken, Penthelikon, als Begrenzung der Ebene. Der Parnes,
bei leichter Rückwärtswendung des Kopfes sichtbar. Silbergraue
Gebirgswälle, im weiten Kreisbogen um Athen und den Götterfelsen
gelagert, der mit dem Parthenon auf dem Scheitel alles beherrscht. Hier
stand Athene, aufrecht, mit der vergoldeten Speerspitze. Vom Parnes
grüßte der Zeus Parnethios, vom Hymettos grüßte der Zeus Hymethios. Vom
Penthele ein zweites Bild der Athene. Attika war von Göttern bewohnt,
von Göttern auf allen umliegenden Höhen bewacht, die einander mit
göttlichen Brauen zuwinkten. Geradeaus, unter mir, liegt tiefblau, in
die herrliche Bucht geschmiegt, das Meer. Aegina und Salamis grüßen
herüber ... Ich atme tief! ...

Ich sitze auf einem Priestersessel im Theater des Dionysos. Hähne
krähen; es ist, als ob Athen und die Demen nur von Hähnen bewohnt wären.
Der städtische Lärm tritt heut ein wenig zurück, und das Geschrei der
Ausrufer ist durch das oft wiederholte Geschrei von weidenden Eseln
abgelöst. Brütende Sonne erwärmt die gelblichen Marmorsessel und
Marmorstufen.
Etwa 30000 Zuschauer wurden auf diesen Stufen untergebracht, von denen
nicht allzuviele Reihen erhalten sind; und hinter und über der letzten,
obersten Reihe thronten die Götter: denn dort überragt das ganze Theater
die rötliche Felswand der Akropolis, gewiß noch heut der seltsamste,
rätselvollste und zugleich lehrreichste Fels der Welt.
Noch heute, jenseit von allem Aberglauben jener Art, wie er im Altertum
im Volke lebt und dichtet, empfinde ich doch die Kraft, die schaffende
Kraft dieses Glaubens tief, und wenn mein Wille allein es meistens ist,
der die ausgestorbene Götterwelt zu beleben sucht, hier, angesichts
dieses ragenden Felsens, erzeugt sich augenblicksweise, fast
unwillkürlich ein Rausch der Göttergegenwart. Zweifellos war es ein Grad
der Ekstase, der jene Dreißigtausend hier, auf dem geheiligten Grund des
Eleutherischen Dionysos, im Angesichte der heiligen Handlung des
Schauspiels befiel, den zu entwickeln dem glaubensarmen Geschlecht von
heut das Mittel abhanden gekommen ist. Und ich stehe nicht an, zu
behaupten, daß alle Tragiker, bis Euripides, so sehr sie sich von der
derb naiven Gläubigkeit der Menge gesondert haben mögen, von
Gottesfurcht oder Götterfurcht und vom Glauben an ihre Wirklichkeit,
besonders hier, am Fuße und im Bereich des Gespensterfelsens,
durchdrungen gewesen sind.
Die Akropolis ist ein Gespensterfelsen. In diesem Theater des Dionysos
gingen Gespenster um. In zahllosen Löchern des rotvioletten Gesteins
wohnten die Götter, wie Mauerschwalben. Es ist eine enggedrängte,
überfüllte, göttliche Ansiedelung: hatten doch, nach Pausanias, die
Athener für das Göttliche einen weit größeren Eifer, als die übrigen
Griechen. Die Art, wie sie allen möglichen Göttern Asyle und wieder
Asyle gründeten, deutet auf Angst. Während ich solchen Gedanken
nachhänge, höre ich hinter mir wiederum den Vogel der Pallas, aus einem
Felsloch, klägliche Laute in den Tag hineinwimmern und stelle mir vor,
wie wohl die atemlos lauschenden Tausende ein Schauer bei diesem Ruf
überrieselt hat.
Die Seelenverfassung der großen Tragiker wurde unter anderem auch von
dem Umstand bedingt, daß sie Götter als Zuschauer hatten. Daß es so war,
ist für mich eine Wirklichkeit. Die Woge des Glaubens, die ihnen aus
dreißigtausend Seelen entgegenschlug, verstärkt durch die Nähe
göttlicher Troglodyten und Tempelbewohner des Felsens, war allein schon
wie eine ungeheure Sturzwelle, und jede Skepsis wurde hinweggespült.
»An der sogenannten südlichen Mauer der Burg, dem Theater zugekehrt, ist
ein vergoldetes Haupt, der Gorgone Medusa geweiht, und um dasselbe ist
die Ägide angebracht. Am Giebel des Theaters ist im Felsen unter der
Burg eine Grotte; auch über dieser steht ein Dreifuß; in ihr sind Apollo
und Artemis, wie sie die Kinder der Niobe töten«, schreibt Pausanias.
Ein Heiligtum der Artemis Brauronia ist auf der Burg. Der große Tempel
der Pallas Athene, ein Heiligtum des Erechtheus, des Poseidon, Altäre
des Zeus, zahllose Statuen von Halbgöttern, Göttern und Heroen sind da,
Äskulap hat im Felsen sein Heiligtum, Pan seine Grotte, sogar Serapis
hat seinen Tempel. Zwei Grotten standen Apollon zu, dem »Apoll unter der
Höhe«. Ein tiefer Felsspalt ist der Ort, wo der Gott Creusa, die Tochter
Erechtheus', überraschte und den Stammvater aller Jonier mit ihr zeugte.
Hephästos besaß seinen Altar und so fort.
Alle diese Gottheiten lebten nicht nur auf der Burg. Sie durchwanderten
bei Nacht und sogar am Tage die Straßen der Stadt. Der Mann aus dem
Volke, das Weib aus dem Volke war nicht imstande, die Gebilde des
nächtlichen Traums von denen des täglichen Traums zu sondern. Beide
waren ihnen so gut, wie das, was sie sonst mit Augen wahrnahmen,
Wirklichkeit.
Die Tragiker hatten Götter als Zuschauer, und dadurch wurde nicht nur
die Grundverfassung ihrer Seele mit bedingt, sondern die Art des Dramas,
das sie hervorbrachten. Auch in diesem Drama traten Götter und Menschen
im Verkehr miteinander auf, und es ward damit, in einem gewissen Sinne,
das geheiligte Spiegelbild der ins Erhabene gesteigerten Volksseele. Was
wäre ein Dichter, dessen Wesen nicht der gesteigerte Ausdruck der
Volksseele ist!

Es ist der Vormittag des 20. April. Ich habe den Felsen des Areopag
erstiegen. Zwei Soldaten schlafen in einer versteckten Mulde. Esel
schreien; Hähne krähen. Der Ort ist verunreinigt. An einem Teile des
Felsens werden Vermessungen vorgenommen. Wieder liegt das weiße,
blendende Licht über der Landschaft.
Auf diesem Hügel des Ares, heißt es, ist über den Kriegsgott Gericht
gehalten worden, in Urzeiten, irgend eines vereinzelten Mordes wegen,
den er begangen hatte. Hier, sagt man, wurde Orestes gerichtet und
losgesprochen, trotzdem er die Mutter ermordet hatte. In nächster Nähe
soll hier ein Heiligtum der Erinnyen gewesen sein, der zürnenden
Gottheiten, die von den Athenern die Ehrwürdigen, oder ähnlich, genannt
wurden. Ihre Bildnisse sollen nicht schreckenerregend gewesen sein, und
erst Äschylos hat ihnen Schlangen ins Haar geflochten.
Es fällt wiederum auf, wie überladen mit Götterasylen der nahe
Burgfelsen ist: mit Nestern, Gottesgenisten könnte man sagen! Jeder
Spalt, jede Höhle, jeder Fußbreit Stein war für die oberirdischen,
unterirdischen oder auch für solche Gottheiten, die im Wasser leben,
ausgenützt. Es ist erstaunlich, daß sie hier untereinander Frieden
hielten. Vielleicht geschah es, weil Pallas Athene, als Höchstverehrte,
über den andern stand.
Man ist hier auf dem Areopag erhaben über der Stadt. Man übersieht einen
Teil von ihr und den Theseustempel. Man sieht gegenüber, durch ein Tal
getrennt, die Felsplatten der Pnyx. Man hört die zahllosen Schwalben des
nahen Burgfelsens zwitschern. Dies Zwitschern wird zu einer sonderbaren
Musik, wenn man sich an den ersten Gesang der Odyssee und an die
folgenden Verse erinnert:
»Also redete Zeus' blauäugigte Tochter, und eilend
Flog wie ein Vogel sie durch den Kamin ...«
und an die Neigung der Himmlischen überhaupt, sich in allerlei Tiere,
besonders in Vögel, umzuwandeln.
Ich lasse mich nieder, lausche und betrachte den zwitschernden
Götterfelsen, die Akropolis. Ich schließe die Augen und finde mich durch
das Zwitschern tief und seltsam aufgeregt. Es kommt mir vor, indem ich
leise immer wieder vor mich hinspreche: Der zwitschernde Fels! Die
zwitschernden Götter! Der zwitschernde Götterfels! als habe ich etwas
aus der Seele eines naiven Griechen jener Zeit, da man die Götter noch
ehrte, herausempfunden. Vielleicht, sage ich mir, ist, wenn man eine
abgestorbene Empfindung wieder beleben kann, damit auch eine kleine,
reale Entdeckung gemacht.
Und plötzlich erinnere ich mich der »Vögel« des Aristophanes, und es
überkommt mich zugleich in gesteigertem Maße Entdeckerfreude. Ich bilde
mir ein, daß mit dieser Empfindung: »der zwitschernde Fels, die
zwitschernden Götter«, im Anblick der Burg, der Keim jenes göttlichen
Werkes in der Seele des freiesten unter den Griechen zuerst ins Leben
getreten ist. Ich bilde mir ein, vielleicht den reinsten und
glücklichsten Augenblick, einen Schöpfungsakt seines wahrhaft
dionysischen Daseins, neu zu durchleben, und will es jemand bezweifeln,
so raubt er mir doch die heitere, überzeugte Kraft der Stunde nicht.
»... Tioto, tioto, tiotix!
Widerhallte der ganze Olympos.«

Frische, nordische Luft. Nordwind. Eine ungeheure Rauch- und Staubwolke
wird von Norden nach Süden über das ferne Athen hingejagt. Gegen den
Hymettos zieht der bräunliche Dunst, Akropolis und Lykabettos in
Schleier hüllend. Ich verfolge, vom Rande der phalerischen Bucht, ein
beinahe ausgetrocknetes Flußbett, in der Richtung gegen den Parnes.
Schwalben flattern über den spärlichen Wasserpfützen in lebhafter
Erwerbstätigkeit. Ich habe zur Linken die letzten Häuser und Gärten der
Ansiedelung von Neu-Phaleron, hinter einem Feld grüner Gerste, die in
Ähren steht. Zur Rechten, jenseit des Flußlaufs, gegen das ferne Athen
hin, sind ebenfalls ausgedehnte Flächen mit Gerste bebaut. Die Finger
erstarren mir fast, wie ich diese Bemerkung in mein Buch setze. Die
Landschaft ist fast ganz nordisch. Vereinzelte Kaktuspflanzen an den
Feldrainen machen den unwahrscheinlichsten Eindruck. Ich beschreite
einen Feldweg. Um mich, zu beiden Seiten, wogt tiefgrün die Gerste. Man
muß die Alten und das Getreide zusammendenken, um ganz in ihre sinnliche
Nähe zu gelangen, mit ihnen vertraut, bei ihnen heimisch zu sein.
Die Akropolis, mit dem Parthenon, erhebt sich unmittelbar aus der weiten
Prärie, aus der wogenden See grüner Halme, empor.
Ich kreuze die Landstraße, die von Athen in grader Linie nach dem Piräus
hinunter führt, und stoße auf eine niederländische Schänke, unter
mächtigen, alten Eschen, die an Ostade oder Breughel erinnert. Ich
erblicke, mich gegen Athen wendend, über dem Ausgangspunkt der Straße
wiederum die Akropolis mit dem Parthenon. Der Verkehr, mit Mäulern und
Pferden an hochrädrigen Karren, bewegt sich in zwei fast
ununterbrochenen Reihen von Athen zum Piräus hinunter und umgekehrt. Es
wird sehr viel Holz nach Athen geschafft. Unter vielen Mühen, in beinahe
undurchdringlichen Staubwolken, arbeite ich mich gegen eisigen Wind.
Hunde und Hühner bevölkern die Landstraße. Im Graben, im Grase, das eine
dicke Staubschicht überzieht, liegt, grau wie der Staub, ein todmüder
Esel und hebt seinen mageren Kopf mir zu. Kantine an Kantine begleitet
die Straße rechts und links in arger Verwahrlosung. Ich bin beglückt,
als ich einen tüchtigen Landmann, mit zwei guten Pferden, die Hand am
Pflug, seinen Acker bestellen sehe, ein Anblick, der in all diesem
jämmerlich verstaubten Elend erquickend ist.
Ich weiche dem Staub, verlasse die Straße, und bewege mich weiter, dem
Parnes zu, in die Felder hinein. Nun sehe ich die Akropolis wiederum und
zwar in einem bleichen, kreidigen Licht, zunächst über blühenden
Obstgärten auftauchen. Der Parthenongiebel steht, klein wie ein
Spielzeug, kreidig-bleich. In langen Linien schießen die Schwalben dicht
über das Gras der Auen und über die Ähren der Gerstenfelder hin. Ich muß
an den Flug der Götter denken, an den schemenhaft die ganze Landschaft
beherrschenden, zwitschernden Götterfels, und wie von Athene gesagt ist:
»Plötzlich entschwand sie den Blicken und gleich der Schwalbe von
Ansehn
Flog sie empor ...«
Wie muß dem frommen Landbewohner mitunter der Flug und der Ruf der
Schwalbe erschienen sein! Wie wird er seinen verehrenden Blick zuzeiten
bald gegen das Bild des Zeus auf dem nahen Parnes, bald gegen die ferne,
überall sichtbare, immer leuchtende Burg der Götter gerichtet haben! Von
dorther strichen die Schwalben, dorthin verschwanden sie in geschwindem
Flug. Und ähnlich, nicht allzuviel schneller, kamen und gingen die
Götter, die keineswegs, wie unser Gott, allgegenwärtig gewesen sind.

Auf dem heiligen Wege, von Athen nach Eleusis hinüber, liegt an der
Paßhöhe, zwischen Bergen, das kleine griechische Kloster Daphni. Ich
weiß nicht, welches rätselhafte Glück mich auf der Fahrt hierher
überkommen hat. Vielleicht war es zunächst die Freude, mit jedem
Augenblick tiefer in ein Gebiet des Pan und der Hirten einzudringen.
Überall duftet der Thymian. Er schmückt, strauchartig, die grauen
Steinhalden, auch dort, wo die wundervolle Aleppo-Kiefer, der Baum des
Pan, nicht zu wurzeln vermag. Aber Kiefer und Thymian vermischen überall
ihre Düfte und füllen die reine Luft des schönen Bergtals mit
Wohlgeruch.
Der Hof des Klosters, in den wir treten, ist ebenfalls von
weihrauchartigen und von grunelnden Düften erfüllt. Am Grunde schmücken
ihn zahllose, weiße und gelbe Frühlingsblumen, die ihre Köpfchen den
warmen Strahlen des griechischen Frühlingsmorgens darbieten. An einem
gestutzten Baum ist die Glocke des Klosters aufgehängt, Sommers und
Winters den atmosphärischen Einflüssen preisgegeben und darum bedeckt
mit einer schönen, bläulichen Patina. Ein Hündchen, im Winkel des Hofes,
vor seiner Hütte, wedelt uns an. Trotzdem es nach Bienen und Fliegen
schnappen kann, deren wohlig schwelgerisches Gesumm allenthalben
vernehmlich ist, scheint es sich doch in dieser entzückenden, gleichsam
verwunschenen Stille zu langweilen.
Antike Säulenreste, Trommeln und Kapitale, liegen umher, auf denen sich
Sperlinge, pickend und lärmend, umhertreiben. Sie besuchen den Brunnen,
an dem eine alte, hohe Cypresse steht, türkischer Sitte gemäß, als
Wahrzeichen.
Das Innere der Klosterkirche bietet ein Bild der Verwahrlosung. Die
Mosaiken der Kuppel sind fast vernichtet, die Ziegelwände von Stuck
entblößt. Aber der häusliche Laut der immerfort piepsenden Sperlinge und
warme Sonne dringt vom Hofe herein, dazu der Ruf des Kuckuck herab aus
den Bergen, und der kleine Altar, von gläubigen Händen zärtlich
geschmückt, verbreitet mit seinem braunen Holzwerk, mit seinen Bildchen
und brennenden Kerzen, einen treuherzig-freundlichen Geist der
Einfachheit.
Unsern Weg durch die Hügel abwärts fortsetzend, haben wir eine Stelle zu
beachten, wo vor Zeiten ein Tempel der Venus stand. Nicht weit davon
bemerken wir, unter einer Kiefer, in statuarischer Ruhe aufgerichtet,
die Gestalt eines Hirten, dessen langohrige Schafe, im Schatten des
Baumes zusammengedrängt, um ihn her lagern und wie ein einziges Fließ
den Boden bedecken.
Was mich auf dieser heiligen Straße besonders erregt, ist das Hallende.
Überall zwischen den Bergen schläft der Hall. Die Laute der Stimmen, die
Rufe der Vögel, wecken ihn in den schlafenden Gründen. Ich stelle mir
vor, daß jemand, den eine unbezwingliche Sehnsucht treibt, sich in die
untergegangene Welt der Hellenen, wie in etwas noch Lebendiges
einzudrängen, auf ein besseres Mittel schmerzhaft-seliger Täuschung
nicht verfallen könnte, als durch das verwaiste Griechenland nur immer
geliebte Namen zu rufen, wie Herakles einst den Hylas rief. Gleichwie
nun die Stimme des Hylas, des Gestorbenen, im Echo gespenstisch, wie
eines Lebenden Stimme, antwortete, so, meine ich, käme dem Rufe des
wahren Pilgers jedweder heilige Name, aus dem alten, ewigen Herzen der
Berge, fremd, lebendig und mit Gegenwartsschauern zurück.
Wir sind nun an den Rand der Eleusinischen Bucht gelangt, die durch die
Höhenzüge der Insel Salamis gegen das Meer hin geschützt, einem
friedlichen Landsee ähnlich ist. Ich habe niemals das Galiläische Meer
gesehen, und doch finde ich mich an Jesus und jene Fischer gemahnt, die
er zu Menschenfischern zu machen unternahm. Das biblische Vorgefühl
findet auf der weißen Landstraße längs des Seeufers unerwartet eine
Bestätigung, als das klassische Bild der Flucht nach Ägypten lebendig an
uns vorüberzieht: eine junge, griechische Bäuerin auf dem Rücken des
Maultiers, den Säugling im Arm, von ihrem bärtigen, dunkelhaarigen
Joseph begleitet.
Die Bucht liegt in einem weißlichen Perlmuttschimmer still und glatt und
die Augen blendend unter den schönkonturierten Spitzen von Salamis. Die
Landschaft, im Gegensatz zu dem Tale, aus dem wir kommen, ist offen und
weit, und scheint einem anderen Lande anzugehören. Dort wo ein seichter
Fluß, aus den Bergen kommend, sein Wasser mit dem der Bucht vermischt,
knieen eskimoartig vermummte Wäscherinnen, obgleich weder Haus noch
Hütte im weiten Umkreis zu sehen ist.
Wie sich etwa die Sinnesart eines Menschen erschließt, durch die
Scholle, die er bebaut, durch die Heimat, die er für sein Wirken erwählt
hat, oder durch jene, die ihn hervorbrachte, und festhielt, so
erschließt sich zum Teil das Wesen der Demeter im Wesen des
eleusinischen Bezirks. Denn dies ist den griechischen Göttern eigen, daß
sie mit innigen Banden des Gemüts weniger an den Olymp, als an die
griechische Muttererde gebunden sind. Kein Gott, der den Griechen
weniger liebte, als der Grieche den Gott -- oder weniger die griechische
Heimat liebte und in ihr heimisch wäre, als er!
Jesus, der Heiland und Gottessohn, Jesus der Gott, ist uns durch sein
irdisch-menschliches Schmerzensschicksal nahegebracht: ebenso den
Griechen Demeter. Man stelle sich vor, wie der Grieche etwa auf diesem
heiligen Boden empfand, der wirklich Demeters irdischen Wandel gesehen
hatte, wo ich, der moderne, skeptische Mensch, sogleich von besonderer
Weihe durchdrungen ward, als sich das Bild der Landschaft in mir mit
jener anderen Legende vermählt hatte, die mit einer Kraft ohnegleichen
heute Zweifler wie Fromme beherrscht.

Der heilige Bezirk, mit dem Weihetempel der Demeter, liegt nur wenig
erhaben über die Spiegelhöhe, am Rande der Bucht. Es sei ferne von mir,
dieses wärmste und tiefste Mysterium, nämlich das eleusinische,
ergründen zu wollen: genug, daß es für mich von Sicheln und schweren
Garben rauscht und daß ich darin das Feuer Apolls mit des Aidoneus
eisiger Nacht sich vermählen fühle. Übrigens ist ein wahres Mysterium,
das durch Mysten gepflegt und lebendig erhalten, nicht in Erstarrung
verfallen kann, ein ewiger Quell der Offenbarung, woraus erhellt, daß
eben das Unergründliche ganz sein Wesen ist.
Während ich auf den Steinfließen der ehemaligen Vorhalle des Pylon, als
wäre ich selbst ein Myste, nachdenklich auf und ab schreite, formt sich
mir aus der hellen, heißen, zitternden Luft, in Riesenmaßen, das Bild
einer mütterlichen Frau. Ihr Haarschwall, der die Schultern bedeckt und
herab bis zur Ferse reicht, ist von der Farbe des reifen Getreides. Sie
wandelt, mehr schwebend als schreitend, aus der Tiefe der fruchtbaren
eleusinischen Ebene gegen die Bucht heran, und ist von summsenden
Schwärmen häuslicher Bienen, ihren Priesterinnen, begleitet.
Die wahren Olympier leiden nicht, Demeter ist eine irdisch-leidende
Göttin, deren mütterliches Schmerzensschicksal selbst durch den
Richtspruch des Zeus nur gemildert, nicht aufgehoben ist. Auf ihren
Zügen liegt, unverwischbar, die Erinnerung ausgestandener Qual und es
kann eine größere Qual nicht geben, als die einer Mutter, die ihr
verlorenes Kind in grauenhafter Angst und Verzweiflung der Seele sucht.
Sie hat Persephoneia wieder gefunden und hier zu Eleusis, der
Weihetempel, auf dessen Boden ich stehe, ist der Ort, von dem aus sie
die Rückkunft der Tochter und ihre Befreiung aus den Fesseln des
Tartarus erzwang, und wo Mutter und Tochter das selige Wiedersehen
feierten. Aber sie genießt auch seither, wie gesagt, nicht das reine,
ungetrübte, olympische Glück. Nach leidender Menschen Art ist ihr Dasein
Genuß und Entbehren, Weh der Trennung und Freude der Wiedervereinigung.
Es ist unlöslich, für immer, gleichwie das Dasein der Menschen, aus
bitteren Schmerzen und Freuden gemengt.
Das ist es, was sie dem Menschengeschlecht und auch dem Spätgeborenen
nahebringt, und was sie mehr, als irgendeinen Olympier, heimisch gemacht
hat auf der Erde.
Es kommt hinzu, daß, während eines Teiles des Jahres, Aidoneus die
Tochter ins Innere der Erde fordert und dort gefangen hält, wodurch denn
die seligen Höhen des Olymps, die dem Kerker der Tochter ferne liegen,
den Füßen der Mutter, mit den eleusinischen Ufern verglichen, unseliger
Boden sind. Man ist überzeugt, daß Schicksalsschluß die Göttin in das
Erkenntnisbereich der Menschen verwiesen hat -- in ein beginnendes,
neues, höheres, zwischen Menschen und Göttern und zwar mit einem
Ereignis, das, unvergeßlich, das Herz ihres Herzens gleichsam an seinen
Schauplatz verhaftet hält.
Die »weihrauchduftende« Stadt Eleusis, die Stadt des Keleus, der Königin
Metaneira sowie ihrer leichtgeschürzten Töchter: Kallidike, Kleissidike,
Dämo und Kallithoa der »saffranblumengelockten« ist heut nicht mehr,
aber der Thymianstrauch, der überall um die Ruinen wuchert, verbreitet
auch heute um die Trümmer warme Gewölke von würzigem Duft. Und die
Göttin, die fruchtbare, mütterliche, umwandelt noch heut, in alter,
heiliger Schmerzenshoheit die Tempeltrümmer, die Ebene und die Ufer der
Bucht. Ich spüre die göttliche Erntemutter, die göttliche Hausfrau, die
göttliche Kinderbewahrerin, die Gottesgebärerin überall, die ewige
Trägerin des schmerzhaft süßen Verwandlungswunders.
Was mag es gewesen sein, was die offenen Kellergewölbe unter mir an
Tagen der großen Feste gesehen haben? Man verehrte hier neben Demeter
auch den Dionysos. Nimmt man hinzu, daß der Mohn, als Sinnbild der
Fruchtbarkeit, die heilige Blume der Demeter war, so bedeutet das, in
zwiefacher Hinsicht, ekstatische Schmerzens- und Glücksraserei. Es
bleibt ein seltsamer Umstand, daß Brot, Wein und Blut, dazu das
Martyrium eines Gottes, sein Tod und seine Auferstehung, noch heut den
Inhalt eines Mysteriums bilden, das einen großen Teil des Erdballs
beherrscht.

Ich liege, unweit von Kloster Daphni, unter Kiefern, auf einem
Bergabhange hingestreckt. Der Boden ist mit braunen Kiefernadeln
bedeckt. Zwischen diesen Nadeln haben sich sehr feine, sehr zarte Gräser
ans Licht gedrängt. Aber ich bin hierher gekommen, verlockt von zarten
Teppichen weißer Maßliebchen. Sie zogen mich an, wie etwa ein Schwarm
lieblicher Kinder anzieht, die man aus nächster Nähe sehen, mit denen
man spielen will. Nun liege ich hier und um mich, am Grunde, nicken die
zahllosen kleinen, weißen Schwestern mit ihren Köpfchen. Es ist kein
Wald. Es sind ganz winzige Hungerblümchen, unter denen ich ein
Ungeheuer, ein wahres Gebirge bin. Und doch strömen sie eine Beseligung
aus, die ich seit den Tagen meiner Kindheit nicht mehr gefühlt habe.
Und auch damals, in meiner Kindheit, schwebte eine Empfindung, dieser
ähnlich, nur feiertäglich durch meine Seele. Ich erinnere mich eines
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