Berlin — Panorama einer Weltstadt - 11

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Das Wahre daran sei dahingestellt. Soviel steht fest, Härings, des
unglücklichen Mannes, dem wir das innigste Andenken bewahren, Entwicklung
ging nicht mit so ausgedehnten Schwingen, nicht mit solchen Adlerflügeln.
Niedrig war der Strich seines Fluges niemals. Niemals--um ebenfalls
märkisch zu reden--glich er dem Kiebitz, der bald links, bald rechts die
Beine verschränkend am Meeresstrande dahinstreicht. Nein, was konnte an
sich kühner sein, als ein Erstlingswerk mit dem Namen Walter Scotts
einzuführen? Eine Tat, die man damals als Eulenspiege1streich belachte.
Jetzt hat uns die "Kritik des gesunden Menschenverstandes" so
gewissensstreng gemacht, daß wir in der Wiederholung eines solchen alten
Literaturspaßes einen bedenklichen Kasus verletzter Moral--"Zuchtlosigkeit"
sagten ja wohl die alten "Grenzboten"--erblicken würden! Aber der
belletristische Trieb des jungen Exreferendars tastete lange bald nach
diesem, bald jenem Gebiete hin, folgte allerlei Impulsen, künstlich
gepflegten Neigungen. Seine Natur ließ nichts frei aus einem übervollen
Innern hervorströmen. Selbst die Chronik der Bühnen Berlins weist einige
dramatische Anläufe auf, die schnell wieder aufgegeben wurden. Die "Allg.
Ztg." bucht einmal die Ereignisse. So darf sie auch die Zeiten nicht
überspringen und die Tage nicht vergessen, wo Häring noch zu den
Unentschlossenen gehörte, wo Ludwig Börne jenen mit gutem Essig und gutem
Öl (beim Salat will das alles sagen) angerichteten "Härings-Salat"
schrieb, Erinnerungen an die Zeit, wo Wilhelm Häring und Ludwig Robert,
damals zensurgemäße Belletristen der Restaurationsperiode, den zum Besuch
nach Berlin gekommenen Frankfurter Humoristen, der einen allbewunderten
Aufsatz über die Sontag geschrieben hatte, durch die Straßen und
Gesellschaften Berlins führten, worauf bei jeder Vorstellung eines
eilends vorüberschießenden Bekannten regelmäßig derselbe Dialog
hervorgebracht wurde. Vorstellung: "Hofrat! Börne!" Verwunderung und
Entzücken: "Börne? Sontag? Göttlich!" Es war die Zeit nach der
Julirevolution, wo so mancher in Liberalismus gar so weise und vorsichtig
machte und nur den Anschauungen des Polizeistaates verfiel. In jenen
Tagen bot besonders die Haltung einer großen Leipziger Buchhandlung mit
ihren einflußreichen Blättern und Sammelwerken, die im literarischen
Verkehr wenigstens Nord- und Mitteldeutschlands entschieden den Ton
angaben, den Mittelpunkt für eine Richtung, der sich auch Häring allzu
eng anschloß. Die junge aufstrebende Bewegung der Geister innerhalb der
schönen Literatur, dann die sich vorzugsweise aus dem Universitätsleben
entwickelnde philosophische Kritik wurden von dorther bekämpft. Aus jener
Zeit stammt der "Neue Pitaval", wo schon der Name des Mitherausgebers,
Kriminaldirektors Hitzig, auf diejenige Berliner Sphäre schließen läßt,
wo man freisinnig am Teetisch war, im Büro aber tat, was die
Obern wollten.
Und auch darin irren sich unsere schnell zusammenfassenden, nur aus dem
Konversationslexikon orientierten Nekrologe, daß sie schon von "großen
Erfolgen" z.B. des "Cabanis" sprechen. Nein, unser wackerer Freund hat
sich redlich mühen, gegen eine "See von Plagen" und "die Pfeile des
Geschicks" rüsten müssen. Ein junger Verleger namens Fincke wollte das
Manuskript des "Cabanis" durchaus in sechs Teilen bringen. Da mußte der
letzte und vorletzte Band jeder kaum 100 Seiten betragen! Diese
unglückliche Idee, die ein warmes, spannendes Interesse bei einem
sprunghaft, abgerissen gearbeiteten Werk nicht aufkommen ließ, wurde nur
durch eine für jene Zeit des bedruckten Löschpapiers überraschend
geschmackvolle Ausstattung einigermaßen wiedergutgemacht. Mißmutig über
die Art, wie sich die Buchhändler zu den Autoren zu stellen pflegen,
begründete Häring selbst eine Buchhandlung. Die Operationen seines
Kapitals deckte ein anderer Name. Auch hier traten Mißerfolge,
Bekümmernisse, Verwicklungen aller Art ein. Die Hoffnung auf eine
Würdigung seiner märkischen Romane, die zunächst durch Härings mächtig
pulsierendes Heimatgefühl und vielleicht auch durch Nachahmung des
vielgepriesenen Kleistschen "Kohlhaas" hervorgerufen wurden, betrog ihn
nur innerhalb Berlins nicht. Nach außen hin fand sich kein Interesse. Nur
die "Inexpressibles" des Hrn. v. Bredow belustigten....
Das Jahr 1848 überraschte unsern rastlos tätigen, immer geistesfrischen
Wilhelm Häring in Italien. Eine Stellung, die er zur "Vossischen Zeitung"
antrat, führte ihn rasch in die richtige Straße der Bewegung, bewahrte
ihn vor unklarem Wählen und Handeln in Tagen, wo so viel geirrt, so viel
bereut worden ist. Diesem Entschluß, einem viel gelesenen Blatte seinen
emsigen Fleiß, seine gewandte Federführung, sein reiches Wissen auf allen
Gebieten nutzbar zu machen, widmete er sich mit voller Hingebung. Er tat
es mit befreitem, von Vorurteilen erlöstem Sinn. So vieles, worauf auch
er in den vormärzlichen Tagen noch Nachdruck gelegt hatte, war ja
vergessen. Alles Mehr oder Minder, alles So oder So hatte neuen, größeren
Geschenken des Jahrhunderts Platz gemacht. Jene vormärzliche Annäherung
an einen Fürsten, von welchem er Anerkennung seiner patriotischen
Vorliebe für märkische Dörfer, Sandwege mit einsam frierenden Halmen,
Tannenwälder mit Eichhörnchen und gewissen wie schon gedörrt auf die Welt
kommenden Blüten, speziell märkischen Rispengattungen (ich charakterisiere
eine Naturbetrachtung, die uns mit Adalbert Stifter im Salzkammergut
entzücken, zwischen "Schierke und Elend" nur zur Verzweiflung bringen
kann)--diese Annäherung konnte ihm keine Demütigung, keine öffentlich
auferlegte Kränkung mehr bringen. In den vormärzlichen Tagen besuchte ich
ihn in Berlin. Wie leise hauchte er jedes Wort! Wie spionenhaft belauscht
fühlte sich all sein Tun! Ganz in Varnhagens Weise spürte er überall
Ungewitter und Heimliches in der Luft. Dieser Druck war endlich gefallen
und die schönste Frucht der Erhebung durch die Zeit wurde Härings bester
Roman: "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht." In diesem ausgezeichneten
Gemälde hatte man nichts von den weglosen Längen seiner märkischen Walter
Scottiaden, von den langen Konversationen nicht mithandelnder Personen,
von den gewissen Theater-Reminiszenzen in den Situationen und Charakteren.
Hier waren die historisch erwiesenen Persönlichkeiten wie im Portraitstil
gehalten. Haugwitz, Lucchesini, die Pioniere des preußischen Unterganges,
traten so greifbar und in so spannend verbundenen Situationen vor unser
Auge, daß uns noch jetzt, jedesmal wenn die Droschke gemütlich durch die
Linden- oder Brüderstraße schlendert, die in den historischen Häusern
derselben (wenn sie nicht schon demoliert sind) spielenden Begebenheiten
dieses Romans einfallen. Preußen war durch Olmütz auf die abschüssige
Seite der schiefen Ebene geraten. Über dem ganzen Gemälde lag das bange
Vorgefühl neuer verhängnisvoller Stürme, die für das damals von
Manteuffel regierte Preußen heraufziehen müßten....


Lyrisches aus dem Zeitungsviertel (1873)

... Für die bedeutendsten neuern Erscheinungen auf dem Gebiete der
gebundenen Rede gelten jetzt Hamerling und Scheffel, jener unter
österreichischen, dieser unter rheinischen Voraussetzungen--wozu die dem
norddeutschen Ohr unerträglichen falschen Reime (reiten und leiden)
gehören. Eingeführt sind hier beide--dieser durch Studenten, die in
Heidelberg studierten; jener durch Wienerinnen, die sich hieher
verheirateten. Schule, Salon, Konversation und Journalistik haben wenig
zu ihrer Verbreitung getan, und noch jetzt würde der gebildete Kalkulator
(Rechnungsrat), der einen gefühlvollen Sonntagmorgenspaziergang im
Tiergarten unternimmt, seine Stimmung ganz durch den Dichter Ferrand
befriedigt fühlen, der vor 30 Jahren in Berlin für einen klassischen
galt. Die Berliner Poeten, die sich später auf einem traurig
untergegangenen Schiffe "Argo" versammelten, sind teils aus dem Leben
geschieden, teils in andere Winde zerstreut oder an andere Berufszweige,
z.B. Theaterkritiken zu schreiben, übergegangen. Wir kommen hiebei, ohne
diese Metamorphose heute näher zu besprechen, der "Vossischen Zeitung"
sehr nahe, und nehmen vom Büchertisch ein in Goldschnitt gebundenes
zierliches Bändchen: "Gedichte von Hermann Kletke." (Berlin, Schröder
1873).
Wie ein Redakteur en Chef, der sechsmal in der Woche eine Zeitungsnummer
mit zuweilen 10 eng gedruckten Beilagen zu beschaffen hat, der von
hundert Gesuchen, Reklamationen, selbst Erwägungen technischer
Schwierigkeiten mit dem Umbrecher (metteur en pages) stündlich in
Anspruch genommen wird, noch Stimmung gewinnen und diese erhalten kann,
sich der lyrischen Muse zu widmen, begreift sich nur aus dem Gesetz der
Kontraste und dem selbst für das politische Gebiet zum Rechnungtragen,
zur Rücksichtnahme, zur Mäßigung gestimmten weichen Naturell des hier in
Frage stehenden Dichters selbst. Die heilige Nacht, die, ach! manchem
politischen Redakteur (glücklich, wer um 9 Uhr abschließen darf!) allein
zur Erholung übrig bleibt, spielt denn auch in Verbindung mit dem Mond
und den Sternen, dem Brunnengeplätscher, den Wächtern usw. in den
wohlgeformten, nur etwas zu epigrammatisch kurz gehaltenen Gedichten
Kletkes eine hervorragende Rolle. Im Gefolge der Nacht gehen Traum, Tod,
Jenseits, die vollkommenen Gegensätze des Leitartikels, der uns des
Morgens beim Kaffee an die Gegenwart fesselt. Für jede "Ente", die unser
Dichter in seiner Zeitung wider Willen hat schwimmen lassen müssen,
rudert hier ein Schwan. Die Schwäne, die Blumen, die Nachen, die Sonne
und besonders das sonst den Lyrikern wenig zuströmende Gold, der ganze
Apparat der deutschen Lyrik, sind vom Dichter umgesetzt in Situationen
anziehender Art, das Gold in Abendröten, ins Glühen der Mädchenwange, in
den Wellenspiegel des Sees, auch in die Tiefen eines gepriesenen edlen
Charakters. Kurz, es gibt sich ein in dieser nihilistischen Zeit, und
zumal auf dem Gebiete der Publizistik, in der Tat seltenes, kindlich
reines, weihevolles Leben in diesen Gedichten kund. Und keineswegs ist es
ein Leben nach der Richtschnur überlieferter Traditionen. Selbst den
Greis ergreift noch der Reiz des Schönen, die mächtig wieder auflebende
Erinnerung, der Ton geht zuweilen in die dem Saturn trotzende Weise des
Hafis über--aber bald (und vielleicht zu oft für diese immer gleiche
Pointe) naht Sturm, oder bricht Nacht herein, oder pocht der Tod an die
Tür und macht so dem vorgeführten Bild ein Ende. Wenn wir ferner als
tadelndes Wort noch von einer gewissen zuweit getriebenen Knappheit der
Form sprechen, so ist allerdings damit zunächst ein Lob ausgesprochen,
das des Entferntseins jeder phrasenhaften Prolixität; aber doch ist die
Übertragung der stündlichen Parole, die ein Redakteur en Chef im Munde
führen muß: "Nur kurz! Nur kurz!" auf den lyrischen Mitteilungsdrang
bedenklich. Bei Gedichten ist der Rotstift nicht angebracht. Es ist
diesen zarten Eingebungen schädlich, wenn man sie zweimal lesen muß, um
sie zu verstehen, wie die weiland Gubitzschen Rezensionen in der
"Vossischen Zeitung". In der Tat sind viele der Kletkeschen Gedichte so
kompreß in der Form gehalten, so zugleich von irgendeinem zufälligen, dem
Leser nicht sofort geläufigen Umstande veranlaßt, daß es ein längeres
Verweilen kostet, eine Vertiefung in die gebrauchten Bilder, um in die
Konstruktionen und ihren Sinn einzudringen. Am ungezwungensten bewegt
sich des Dichters Humor. Im Scherz, angeregt von Vorkommnissen des
täglichen Lebens, besonders der Familie, fließt die dichterische Sprache
mit kristallner Klarheit voll und mächtig. Den Gesellschaftsliedern läßt
sich unmittelbare Sangbarkeit und vor allem Geschmack nachrühmen.
Letzterer wird doch wohl bei den Trinkliedern unserer Zeit nicht immer
eingehalten? Man glaubt jetzt manches derartige, das dem Jahrhundert
besonders zu gefallen scheint, nur für eine Tafelrunde geröteter
Nasen bestimmt.


Louise Mühlbach und die moderne Romanindustrie (1873)

Heute ist Auktion des Louise Mühlbachschen Nachlasses! Nicht ihrer
Manuskripte--denn diese gingen mit noch nicht getrockneter Tinte sofort
in die Druckereien--sondern ihrer Möbel, Teppiche, Vorhänge, Pendülen,
Gemälde, Vasen und der ägyptischen Andenken, die alle in einer Etage der
Potsdamer Straße charakteristisch gruppiert standen! Hoffentlich hat die
enthusiastische Überschätzung, die der so plötzlich der Welt Entrückten
jenseits des Ozeans zuteil wurde, ein reiches Kontingent von
amerikanischen Steigerern herbeigeführt, das auch für eine alte
Stahlfeder, die von ihr gebraucht wurde, fünfzig Dollars zu zahlen bereit
ist! Denn ganz Berlin ist erstaunt über die Zerrüttung der Louise
Mühlbachschen Vermögensverhältnisse! Die Verstorbene hatte die
glänzendsten Honorare bezogen. Sie soll vom Khedive außergewöhnliche
Geldspenden erhalten haben. Sie gab Diners und Soupers von lukullischer
Fülle. Sie reiste ohne die mindeste Einschränkung wie eine Fürstin. Bei
alledem soll für ihre noch unversorgte Tochter nichts als eine
Schuldenlast vorhanden sein, wodurch die Bedauernswerte vielleicht
genötigt sein dürfte, die Erbschaft nur "unter der Wohltat des Inventars"
anzutreten.
Mitten aus angefangenen Romanen, die des Morgens gegen 10 Uhr einer
Stenographin zwei bis drei Stunden lang diktiert wurden, ist die
merkwürdige Frau durch den Tod abgefordert worden, den unerbittlichen
Tod, den sie durch kein Zeichen ihres Lebens und Verhaltens als auch für
sie schon herannahend geahnt hatte. Wenn es vol1ständig "diesseitige"
Menschen gibt, Individuen, für die man sich im Jenseits, falls man nicht
mit den alten Ägyptern an die Seelenwanderung glauben wollte, nirgends
eine passende Unterkunft und Anknüpfung denken kann, so sind dies die
reinen Lebens- und Genußnaturen. Louise Mühlbach war eine solche. Sie war
die ewig Unerschrockene, immer Mutige, immer auf der Bresche Stehende.
Imperterrita hätte sie irgendein Romantiker der Spanier in einem Drama
genannt, das sich vielleicht aus ihrem frühern romantischen Leben selbst
hätte formen lassen. Ihren Freunden wird der resolute, mutige, keine
Gefahr oder Anstrengung scheuende, etwas breit-mecklenburgische Klang
ihrer Stimme unvergeßlich bleiben. Keine Niederlage drückte sie zu Boden.
Die freudigste Zuversicht, Siegesgewißheit, Trotz bei jedem Unternehmen
lag in ihren Zügen, in ihren Worten. Widersprachen die Tatsachen, so
hatte sie der Auswege so viele wie ein Feldherr, der nach einer verlornen
Schlacht doch noch seinen Rückzug imposant zu maskieren versteht.
Auf den "Berliner Büchertisch" könnte nur ihr letztes, von Flüchtigkeiten
wimmelndes Werk "Kaiser Wilhelm und seine Helden" gehören, verlegt von
einer hiesigen Buchhandlung (Werner Große), die nur einen massenhaften
Absatz in den mittlern und untern Regionen anstrebt. Es war eine schon
von ihren zerrütteten Finanzen herstammende Unsitte, daß sich die in den
Stoffen bedrängte Frau, die durchaus ihre alten Erfolge wieder erobern
wollte, an lebende mächtige Persönlichkeiten anschloß, schon den
Erzherzog Johann von Österreich als Romanstoff verarbeitete, während der
ehemalige Reichsverweser noch ruhig auf seinem Schloß in Steiermark saß,
an Napoleon schrieb (siehe die "Enthüllungen aus den Tuilerien"), weil
sie Hortense und die napoleonische Romantik verherrlichen, auch à tout
prix an den Feierlichkeiten bei Einweihung des Suezkanals beteiligt sein
wollte usw. Die Unsitte der "Aktualität" ist jetzt durch den ehemaligen
Welfenagitator Meding, genannt Samarow, so weit gediehen, daß wir Romane
zu lesen bekommen, wo in einer Szene Lasker mit Bismarck über einen
Kompromiß unterhandelt, Herr v. Keudell dabei eine Zigarre raucht und
Lothar Bucher, ans Fenster gelehnt, scheinbar gleichgültig eine englische
Zeitung liest. Die Poesielosigkeit, die Unbildung, das Yankeetum unseres
Zeitalters sind die Beförderer dieses ans Kindische streifenden
Mißbrauchs einer raschen und gewandten Feder geworden, die sogar nicht
mehr angesetzt wird. Die Phantasie, die nur den Bogen füllen will,
bedient sich der Stenographie. Yankeetum nennen wir hier jene fast an den
Urzustand von Wilden erinnernde maßlose Schausucht, die gierig durch die
Masse sich mit eingestemmten Armen Bahn bricht und alles anstaunt, alles
belorgnettiert, alles im Bild anschaulich gemacht sehen will,
Hinrichtungen, Schreckensvorfälle, Weltausstellungsspektakel usw. Ganz
Nordamerika leidet an diesem Sensationsfieber, während sich doch Europa,
nach einigen Aufregungen, längst, wenigstens in den Kreisen der Bildung,
beruhigt hat. Sollte man glauben, daß ein New-Yorker Blatt Louise
Mühlbach nicht bloß nach Wien, sondern auch nach Ems schickte, um dort
das diesjährige (so stille, friedliche, von nicht der mindesten
"Sensation" begleitete) Erscheinen des Kaisers an der Krähnchen-Quelle zu
beobachten und zu beschreiben! Sie flog von Wien nach Ems, machte dann
selbst in Marienbad eine Kur, erkältete sich, legte sich in Berlin ohne
die mindeste Ahnung ihres gefahrvollen Zustandes ins Bett und ist im
bewußtlosen Zustande, ohne Schmerzgefühl, aus dem Leben geschieden. Als
man ihre Leiche neben meinem alten Kampfgenossen Theodor Mundt in die
Grube senkte und manchem des würdigen Sydow Sargweihe-Rede als zu herb
noch im Ohre klang, hätte ich, wenn hier Laien-Grabreden Sitte wären, dem
Thema: "Richtet nicht--!" erwidern mögen: Auch diese Prunk- und
Prahlsucht, die du zu verurteilen scheinst--forsche nur nach,
Priester!--, es lag ihr bloß die weibliche Liebe zugrunde! Liebe zuerst
zu ihrem Gatten, der ihr bedeutender, anerkennenswerter erschien, als ihn
die schulmäßige Wissenschaft Berlins wollte aufkommen lassen, oder
diejenige Berliner Anerkennung, der man nur mit Titeln und Orden
imponieren kann! Die Liebe war es, die auch allmählich die
mephistophelische, satirische, ja zynisch verbitterte Verachtung der Welt
annahm, die sich allmählich des Gatten und zurückgesetzten Professors
bemächtigt hatte! Liebe, Liebe allein ließ den Schein entstehen, als wenn
die moderne Literatur mit dem Adel, mit der Kaufmannswelt, mit den
tausend Anmaßungen und hochgetragenen Nasen der Anmaßung ringsum
rivalisieren könnte! Es ist ein alter Satz, den George Sand nur
wiederholt hat, wenn man ihn als von ihr herrührend anführt, daß unsere
Fehler die Übertreibungen unserer Tugenden sind. Dies auf das allerdings
erschreckende Système de bascule angewandt, wie Louise Mühlbach
verstanden hat, sich bei den bekannten Lieferanten von Luxus- und
Genußgegenständen einen Kredit von Tausenden zu machen und zu erhalten,
gibt einen Einblick in die Stufenfolge der Entwicklung der Charaktere.
Die Verschwendung dieser Frau war nicht ganz die Folge der persönlichen
Eitelkeit, sondern eine Folge des Widerstandes, den der erlaubte Ehrgeiz
geistig Schaffender der breitspurigen, vom Glücke begünstigten
Alltagswelt leisten möchte. "Erlaubt"--? sagte ich von ihrem Ehrgeiz?
Nun, in Bezug auf "Friedrich der Große und die Seinen" und "Kaiser
Joseph" möchten wir in unsers Helmerding so köstlich vorgetragenes
Couplet mit dem Refrain: "Dazu gehört wahrhaftig doch Talent!" mit
einstimmen.
In fast allen Berichten über die Gegenwartsliteratur findet man den Satz
aufgestellt: daß der eigentliche poetische Ausdruck der Zeit der Roman
sei. Besonders bei Einleitungen zu einer Besprechung über einen neu
erschienenen Roman von N. N. begegnet man regelmäßig diesem Axiom von
fragwürdiger Tragweite. Hätte der betreffende Autor, dessen Zeltkamerad
und wahrscheinlicher täglicher Zigarrenkastengenosse der Rezensent zu
sein pflegt, zufällig ein Drama als epochemachend zu bezeichnen, so würde
ihm niemand, der die Unzahl der überall erstehenden Theater erwägt und
das trotz der "Krachs" wieder beginnende Billet-Rennen, widersprechen
können. Aber genau erwogen ist jener Satz weder für den Roman noch für
die Bühne erweislich. Wenn z.B. heute ein origineller, aus Kunst und
Naivität geschaffener Geist wie Robert Burns der deutschen Literatur,
die ähnliches nur in den Ansätzen einiger verschollener "Naturdichter"
besitzt, geschenkt werden könnte, warum sollte er nicht in den Vordergrund
treten und wieder auch für die Berechtigung der Lyrik zeugen können! Von
einem Hindurchgehenmüssen des ästhetischen Begriffs, wie Carrière sagen
würde, in "welthistorischer Entwicklung", ausschließlich durch den Roman,
scheint mir gar keine Rede. Macht gute Dramen, und alle Welt wird davon
erfüllt sein! Macht ein "reizendes" Epos (ich spreche berlinisch), und es
wird auf jedem Toilettentisch liegen!
Schon deshalb muß man jenen Einleitungssatz zu den Rezensionen über die
Romane von N.N. und N.N. ablehnen, weil die Ablagerung der
schriftstellerischen Impotenz im Roman eine Ausdehnung angenommen hat,
die schreckenerregend ist. Junge Mädchen ohne jede Lebenserfahrung, nur
von den Reminiszenzen ihrer Lektüre erfüllt, häufen Bogen auf Bogen und
finden Gelegenheit, ihre Konvolute drucken zu lassen. Frauen
"erfinden"--man kann wohl nach dem Sprichwort sagen: "auf Teufelholen"
--Geschichten von geraubten Kindern, unterdrückten Testamenten,
Brandstiftungen, Nichtanerkennungen illegitimer Kinder, Eindringlingen,
die sich, nachdem sie das Herz einer Gräfin gewonnen haben, als
Galeerensklaven entpuppen, oder sie nehmen Geschichtsstoffe, die in einer
Weise zusammengeknetet werden, die den Melangen der Küchenrezepte
entspricht. Gewisse Memoiren-Exzerpenten, die jahrein jahraus ihre 8-9
Bände zusammenbringen, die dann vorher schon in der Unzahl unserer
illustrierten Blätter verwertet worden waren, schreiben mit umso größerem
Vertrauen, als sie nur von Menschen gelesen oder als langweilig beiseite
gelegt werden, die nicht wieder schreiben. Kritik existiert für diese
Buchmacherei nicht. Wer soll sie üben, wer soll sie lesen, durchblättern,
als höchstens ein auf massenhaftes "Abtun" angewiesener Rezensent in den
"Blättern für literarische Unterhaltung"? Nur die Reklame hält sie,
worunter nicht die Anzeige "unterm Strich" zu verstehen ist, sondern die
den obern Zeilen ebenbürtige redaktionelle Meinungsäußerung, in der Regel
ein vom Autor oder von dem Verleger selbst besorgtes Referat, das jeden
Tadel ausschließt. Die Redaktionen der meisten hiesigen Zeitungen sind
froh, wenn sie nur irgendwie die Bücherstöße, die sich bei ihnen
namentlich gegen Weihnachten aufhäufen, in solcher Art erledigen können.
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