Berlin — Panorama einer Weltstadt - 03

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plötzlich das Krollsche Etablissement hat auftauchen können. Ich gestehe,
als ich diesen von allen Zeitungen für einen Feenpalast ausgegebenen Ort
besuchte, konnte ich den störenden Gedanken, daß diese Schöpfung sehr mal
à propos gekommen, nicht unterdrücken. Zum Glück bleibt auch dieser
"Feenpalast" hinter seinem Rufe zurück. Schon in der Ferne, wenn man
durch Staubwolken durchzudringen vermag, sieht das Ganze wie eine große
Ziegelhütte aus. Man sieht ein Konglomerat von Schornsteinen und
hervorspringenden Hausecken und fühlt sich durch den ersten Eindruck eher
abgestoßen als angezogen. Dabei ärgert man sich über die Idee, ein
solches von allen Fremden zu besuchendes Lokal auf die Achillesferse
Berlins, die Sandwüste Sahara, auf den Exerzierplatz zu bauen. Der
Berliner Staub, vergessen gemacht durch die freundlichen Anlagen des
Tiergartens, tritt wieder beizend, augenverderbend, unausstehlich in den
Vordergrund; denn recht in den Mutterschoß dieses Staubes ist das neue
Gebäude gelegt worden. Man betritt es. Alles erscheint daran lückenhaft,
hölzern, durchsichtig, leichte Ware, berechnet auf einen kurzen Effekt.
Mit einem Blick übersieht man die gewaltige Reitbahn des Vergnügens.
Keine Abwechslung, kein lauschiges Versteck, keine Möglichkeit des
Alleinseins. Die nackten weißen Holzwände, mit Goldleisten zwar verziert
und hier und da bemalt, aber keine Draperien, keine Vorhänge, das ganze
Lokal auf einen Blick in die flache Hand gegeben. Das Unterhaltende an
den Maskenbällen in der großen Oper zu Paris ist nicht der große
Tanzraum, sondern das bunte Gewühl auf den Treppen, Korridoren, in den
Foyers, in Einrichtungen, die hier, bis auf einige wenige Logen, nicht
getroffen sind. Man kann allerdings sagen, Paris besitzt ein solches
Etablissement nicht; aber man muß hinzufügen: Wenn man in Paris so
oberflächlich wäre, zum bloßen Dasitzen, Gaffen und Begafftwerden eine
solche Unterhaltungsanstalt zu begründen, so würde sie großartiger,
geschmackvoller, charakteristischer sein. Im Kellergeschoß dieses Tempels
der Langeweile befindet sich ein so genannter "Tunnel", eine Lokalität
zum Rauchen, wie sie finsterer, schmutziger, erstickender kaum in London
gefunden werden kann. Man glaubt, daß die "Mystères de Paris" hier ihren
Anfang hätten nehmen können. Man glaubt den tapis franc zu betreten und
sieht sich unwillkürlich nach der Ogresse um. Aber auch die "Mystères de
Berlin" könnten hier anfangen. Gibt es solche? Gedruckt schon eine große
Anzahl, und die zuerst kamen, von Schubar, schon in dritter Auflage ...
Schade, daß sich originelle Köpfe nicht leicht entschließen werden, in
die Fußstapfen eines andern zu treten; wohl aber bliebe es wünschenswert,
daß sich jemand der deutschen Zustände so bemächtigen könnte, wie Eugène
Sue der französischen. Hat nicht am Ende auch Sue den Boz nachgeahmt, und
Boz wieder die alten humoristischen Romane der vorigen Jahrhunderte?
Mysterien von Berlin müßten grelle Schlaglichter auf Deutschlands
sittliche, gesellschaftliche und intellektuelle Zustände fallen lassen,
müßten die Fackel der Aufklärung nicht nur in die Kellergewölbe der Armut
und des Verbrechens tragen, sondern auch in die trübe Dämmersphäre der
Schein- und Überbildung, der Lüge und Heuchelei....


Impressionen--z.B.: Borsig (1854)

Berlin wächst an Straßen, mehrt sich an Menschen, aber man kann des
Abends um neun Uhr doch im Anhaltischen Bahnhofe ankommen und wird, mit
einer Droschke von der Wilhelmstraße zu den Linden fahrend, glauben, in
Herculaneum und Pompeji zu sein; denn selbst die große Friedrichstraße
gleicht dann schon einer verlängerten Gräberstraße. Auf fünf von der
Eisenbahn herwackelnde Droschken zwei Menschen zu Fuß, einer auf dem
Trottoir rechts, einer auf dem Trottoir links. Doch es ist eigen mit der
Stille einer großen Stadt. Am Gensdarmenmarkt feierliche Ruhe und in dem
so gespenstisch einsam daliegenden Schauspielhause stürmte vielleicht
eben ein vielhundertstimmiges da capo. In seinem Konzertsaale sang
wenigstens Jenny Goldschmidt-Lind.
Wenn man nicht in der Lage ist, seine Ankunft in Berlin vermittels
telegraphischer Depesche irgendeinem Hotelier Unter den Linden anzeigen
und sich eine Suite Zimmer im ersten Stock zweckmäßig vorrichten zu
lassen, so wird man in der Hauptstadt der Intelligenz immer einige Mühe
haben, sich in seinem Absteigequartier mit dem Wahlspruche auszusöhnen:
Ländlich, sittlich. Die Rechnungen der Hotels bleiben gewiß hinter den
Fortschritten der Zeit nicht zurück, aber die Ärmlichkeit der
Zimmerausstattungen, das Gepräge der auf allen möglichen Auktionen
zusammengekauften Möblierung und die scheinbare Halbeleganz gewisser,
durch übermäßige Ausnutzung halbverwitterter Verzierungen, z.B. des
unvermeidlichen Wachstuchs auf den Fußböden, stellt immer wieder die
Ärmlichkeit des Berliner Komforts heraus, von den Betten, ihrer Enge,
ihren zentnerschweren Federpfühlen nicht zu reden. Von Doppelfenstern ist
in der lichtliebenden Stadt wenig die Rede. Man erkennt auf diesem
Gebiete immer wieder in Berlin seine alten Pappenheimer und läßt sich's
an ihnen genügen, wenn nur dafür die Ausbeute an geistiger Anregung desto
belohnender zu werden verspricht.
Regen und Schnee, Sturm und Kälte lassen die großen Schmutzflächen der
Berliner Plätze und Straßen doppelt schauerlich erscheinen. Unabsehbar
sind diese Wasserspiegel. Unter den Linden fegen die Straßenkehrer eine
ganz eigentümliche breiige Masse zusammen, ein fünftes Element, das
bekanntlich auch nur in oder doch bei Berlin die Erfindung einer gewissen
Plastik aus Straßenkot möglich gemacht hat. Ob sich nicht auch aus der
flüssigen und kaltgewordenen Lava, die von Kranzler bis zum Victoriahotel
stündlich zusammengekehrt wird, wie aus Chausseestaub eine Terra cotta
für Eichlers plastisches Kabinett bilden ließe? An Ordnung in der
Handhabung der das Eis, den Schnee und den Schmutz betreffenden
polizeilichen Vorschriften fehlt es nicht. An jeder Straßenecke der
belebten Gegenden steht ein Konstabler, der nach dem Charakter der
preußischen Monarchie, als einer vorzugsweise spartanischen, auch nur im
Helme des Kriegers für den öffentlichen Frieden sorgt. Man hätte aber die
Neuerung des Helms nicht zu weit sollen um sich greifen lassen. Von der
Ehre, ihn tragen zu dürfen, hat man jetzt die Droschkenkutscher
glücklicherweise wieder ausgeschlossen.
Eine in die Augen springende Verschönerung der Stadt, die sie seit
einigen Jahren gewonnen, sind die nun endlich fertiggewordenen
Standbilder auf den großen Granitwürfeln der Schloßbrücke. Wohl über
zwanzig Jahre schon standen diese blanken Quadersteine und harrten ihrer
künftigen Bestimmung. Was hatte man nicht anfangs auf ihnen einst zu
erblicken gehofft? Heilige und Propheten, Panther und Löwen, berühmte
Divisionsgenerale und bewährte wachsame Residenz-Kommandanten. Jetzt ist
"Das Leben des Kriegers" daraus geworden in griechischer Auffassung. Ob
die vielen Klagen über allzu große Natürlichkeit dieser Gruppen einen
Grund haben, läßt sich noch nicht recht von dem heutigen Wanderer
beurteilen. Das Schneegestöber verdeckt alle Aussicht, der durch die
einfache Trottoirreihe ohnehin beengte Fußboden ist zu naß, um irgendwo
bequem nach dem ionischen Himmel aufblicken zu können, der sich über
diesen weißen Marmorgruppen ausspannen sollte. Die armen Krieger, wie es
scheint gewöhnt an die Ebenen von Griechenland, wo sie als Ringkämpfer
bei den Nemeischen Spielen den Preis gewannen, haben heute dicke
Epaulettes von Schnee auf ihren Achseln liegen. Man darf mit ihnen
einiges Mitleid haben, man darf annehmen, daß sie frieren; denn zu
ersichtlich sind sie nach Modellen der schönsten Grenadiere vom ersten
Garderegiment gemeißelt; zu ersichtlich ist ihre Nacktheit keine
gewohnte, sondern nur ein zufälliges Ausgezogensein bei einem
gutgeheizten Berliner Atelierofen; zu ersichtlich ist ihre nur auf die
allgemeine Militärpflicht, die ein- und dreijährige Dienstzeit, die
Manöverzeit und ein mobilisiertes Ausrücken nebst endlicher
Errungenschaft eines ehrenvollen Ordens oder einer Anstellung gehende
Allegorie. Die übergroßen Flügel der Viktorien sind schon für die
Harmlosigkeit einer Beziehung auf Griechenland zu verdächtig. Man hat
diese Flügel der Viktorien hier in neuerer Zeit schon zu stereotyp
neupreußisch, d.h. als Cherubimsschmuck, ausgebildet: Es sind dieselben
christlichen Viktorien, die auf Wachschen Bildern das Grab des Heilands
hüten, die den Eingang in die Kuppeldachkapelle des Schlosses bewachen
und auch sonst schon in die gewöhnlichen Verzierungen der Stadt
übergegangen sind, selbst bei gewerblichen Zwecken. Diese mehr
christlichen als antiken Cherubim wecken in der Bekränzung der Krieger
immer nur die Vorstellung eines seine Pflicht erfüllenden modernen jungen
Landesverteidigers, und darum scheint das Berliner Mitleid um die
erfrierenden jungen Konskriptionspflichtigen und der mehrfach geäußerte
Wunsch, ihnen warmhaltende Mäntel und Beinkleider zu schenken, nicht ganz
unmotiviert. Nur über die allzu natürliche Wiedergabe der Natur hat man
sich mit Unrecht beklagt. Die jungen Grenadiere stehen so hoch, die
Granitwürfel haben erst noch einen so ansehnlichen Überbau erhalten, daß
eine junge Dame schon sehr neugierig sein muß, wenn sie, aus einer
Predigt im Dom kommend, an dem modernen Griechentum auf der Schloßbrücke
ein Ärgernis nehmen will ...
Die Zunahme Berlins an Straßen, Häusern, Menschen, industriellen
Unternehmungen aller Art ist außerordentlich. Auf Stellen, wo ich mich
entsinne, mit Gespielen im Grase gelegen und an einer Drachenschnur
gebändelt zu haben, sitzt man jetzt mit irgendeiner Dame des Hauses,
trinkt Tee und unterhält sich über eine wissenschaftliche Vorlesung aus
der Singakademie. Wo sonst die blaue Kornblume im Felde blühte, stehen
jetzt großmächtige Häuser mit himmelhohen geschwärzten Schornsteinen. Die
Fabrik- und Gewerbstätigkeit Berlins ist unglaublich. Bewunderung erregt
es z.B., einen von der Natur und vom Glück begünstigten Kopf, den
Maschinenbauer Borsig, eine imponierende, behäbige Gestalt, in seinem
runden Quäkerhut in einer kleinen Droschke hin und her fahren zu sehen,
um seine drei großen, an entgegengesetzten Enden der Stadt liegenden
Etablissements zu gleicher Zeit zu regieren. Borsig beschäftigt 3000
Menschen in drei verschiedenen Anstalten, von denen das große
Eisenwalzwerk bei Moabit eine Riesenwerkstatt des Vulkan zu sein scheint.
Es kommen dort Walzen von 120 Pferdekraft vor. Borsig baut gegenwärtig an
der fünfhundertsten Lokomotive. Man berechnet ein Kapital von sechs
Millionen Talern, das allein durch Borsigs Lokomotivenbau in Umsatz
gekommen ist. Es macht dem reichen Mann Ehre, daß er sich von den
glücklichen Erfolgen seiner Unternehmungen auch zu derjenigen Förderung
der Kunst gedrungen gefühlt hat, die im Geschmacke Berlins liegt und dem
Könige in seinen artistischen Unternehmungen sekundiert. Er hat sich eine
prächtige Villa gebaut und pflegt einen Kunstgarten, der schon ganz
Berlin einladen konnte, die Viktoria regia in ihm blühen zu sehen.
Für gewisse industrielle Spezialitäten gibt es in Berlin Betriebsformen,
die wenigstens auf dem Kontinente ihresgleichen suchen. Vor dem
Schlesischen Tore liegen die Kupferwerke von Heckmann. Hier werden jene
riesigen Vakuumpfannen geschmiedet, die man in den Rübenzuckerfabriken
nötig hat; hier werden die Kupferdrähte für die elektrischen Telegraphen
gezogen. Heckmann bezieht sein Material direkt aus England, Schweden und
vorzugsweise Rußland. Ebenso großartig ist Ravenés Handel mit
Schmiedeeisen, Blei, Messing, Zinn und allen metallischen Rohprodukten.
Es charakterisiert den Berliner Großkaufmann, der seine ursprünglichen
naiv-bürgerlichen Triebe nicht lassen kann, daß Ravené in einem Anfall
guter Laune sämtliche verkäufliche Weine in Bordeaux aufkaufte und sich
das Privatvergnügen machte, das Modell einer großartigen, aber soliden
Weinhandlung aufzustellen, an der es ihm in Berlin sehr nötig schien.
Goldschmidt und Dannenberger haben Kattunfabriken im Gange, die Tausende
von Menschen, die Bevölkerung kleiner Stadtbezirke, beschäftigen,
überdies ein pauperistisches Element enthalten, das eine umsichtige
Behandlung erfordert ...


Quatsch, Kroll und "Satanella" (1854)

Es gibt ein Wort, das man nur in Berlin versteht. Aber auch nur in Berlin
finden sich Erscheinungen, die man damit bezeichnen muß. Es ist dies der
Ausdruck: Quatsch.
Quatsch ist der Anlauf zum Witz, der, auf dem halben Wege stehen
bleibend, dann natürlich noch hinter dem halben Verstande zurückbleibt.
Denn man kann eine halbwegs vernünftige Meinung, ein halbwegs ernstes
Urteil noch immer als eine leidliche Manifestation gesunder Vernunft
gelten lassen. Der halbe Verstand gehört oft der Mystik an, die bis auf
einen gewissen Punkt auch gewöhnlich eine Art Logik für sich hat. Der
halbe Witz aber ist schrecklich. Er ist das absolut Leere. Er macht die
Voraussetzung, etwas Apartes bringen zu wollen und bleibt in der Grimasse
stecken. Er schneidet ein pfiffiges Gesicht und sagt eine Dummheit.
Quatsch ist nicht etwa der Unsinn. Es lebe unter Umständen der Unsinn!
Den Unsinn haben Ästhetiker göttlich genannt, den echten, wahren,
natürlichen Unsinn, der die Hälfte z.B. des Wiener Witzes ausmacht. "Ein
vollkommener Widerspruch fesselt Weise und Toren", sagt Goethe; aber der
relative Widerspruch ist das ewig Gesuchte, das niemals Zutreffende, das
herren- und ziellos Herumtaumelnde und Faselnde, mit einem Wort das
Quatsche.
Berlin ist groß im Quatschen. Es kichert über jede Grimasse zum Witz,
wenn auch der Witz ausbleibt. Irgendeine zweimal wiederholte
absonderliche Redensart findet unverzüglich ihr Publikum. Man findet hier
Menschen, die für witzig gelten, weil sie keinen Satz enden wie andere
Menschen, jedes Ding mit einem andern Namen nennen, Begriffe verwechseln
und das Ernsteste im Tone der Ironie sagen. Es herrscht bei ihnen ein
ewiges Vermeiden der geraden Linie, die andere Menschen gehen; sie
fallen, sie stolpern über sich selbst; die Berliner nennen das alles
witzig, während ein Vernünftiger es Quatsch nennen muß. Ich sah "Müller
und Schultze bei den Zulu-Kaffern". Der Gegensatz war burlesk genug. Die
wilden Hottentotten mit ihrem rasenden Tanze, ihrem Kriegsgeschrei, ihrem
gellenden Pfeifen, mit Gebärden, die eine Hetze wahnsinniger Affen zu
zeigen schienen und im Grunde Furcht und Entsetzen, Grauen und Mitleid,
solches Gebaren menschlich nennen zu müssen, einflößte, und unter ihnen
die beiden Stereotypen des "Kladderadatsch", zwar ziemlich treu im
Äußern, aber in jedem Worte, das sie sprachen, Vertreter des absolut
Quatschen bis zum Ekel. "Schultze!" "Müller!" "Müller!" "Schultze!" "Bist
du et?" "Ja, ik bin et." "Hurrjeh!" usw. Man denke sich einen solchen
Scherz auf dem Palais-Royal-Théâtre in Paris, wir wollen nicht einmal
sagen mit Levassor und Ravel, sondern nur mit Sainville und Kalekaire!
Das Krollsche Theater mag die Mittel nicht besitzen, gute Komiker zu
bezahlen, aber der Text von Cormon, Clairville, Dennery und wie die
Fabrikanten solcher Gelegenheitsscherze in den kleinern Pariser Theatern
heißen, würde nicht so unbedingt nur fade sein. Man muß das Pariser Oh!
Oh! gehört haben bei jedem abblitzenden Einfall eines solchen
Unsinn-Textes, um zu verstehen, wie die Franzosen auch bei solchen
Veranlassungen witzig und geistreich sein können. Diese Berliner
Dramatisierung der Zulu-Kaffern war aber so widerwärtig, als wenn man
sich vorstellen wollte, der Naturgeist selbst erhübe einmal seine
gewaltige Stimme, finge zu reden an und verwechselte dabei mir und mich.
Das Quatsche ist doch wohl in den Berliner dadurch gekommen, daß sein
ursprünglich einfacher, sogar naiver und kindlicher Sinn den
Anforderungen einer immer mehr anwachsenden und über seine geistige Kraft
hinausgehenden Stadt nicht gleichkommt. Schon das verdorbene
Plattdeutsch, das den Volksjargon bildet, trägt den Stempel der
Unzulänglichkeit an sich. Es ist die absolute Sprache der Unterordnung,
der Beschränktheit; es ist die Sprache der Hausknechte, Hökerinnen,
kleinen Rentiers, der Kinder, des in die Stadt versetzten Bauers. Die
Sprechweise der Gebildeten trägt so sehr noch die Spuren vom Tonfall des
Volksdialekts, daß es zu einer ganz freien Sprachbehandlung im Sinne des
reinen Oberdeutschen hier nur bei sehr wenigen kommt. Wird nun ein so
beschränktes und in seiner Art doch wieder sehr scharf ausgeprägtes
Sprachmaterial bestimmt, dem großen Ideenkreise einer Stadt, die eine
Hauptstadt der deutschen Intelligenz sein will, zum Ausdruck zu dienen,
so entsteht dadurch jenes absolut Alberne, das man eine Art Geistespatois
nennen möchte. Diese Mißgeburt entstand erst mit der Zeit, wo Berlins
Trieb nach öffentlicher Bewährung wuchs. Seine Bevölkerung emanzipierte
sich zum Großstädtischen. Die Schusterjungen machten wohl die öffentliche
Meinung schon zu Friedrichs des Großen Zeit; der König sagte den
Katholiken, die das Fronleichnamsfest öffentlich feiern wollten: Er hätte
nichts dagegen, wenn die Schusterjungen es nicht hinderten. Allein die
literarische Vertretung des Schusterjungentums ist neu und schreibt sich
von den bekannten Eckensteherwitzen her. Dieser Fortschritt war an sich
nicht unwichtig. Es ist mit diesem Neu-Berlinertum viel gesunde Vernunft
zur Geltung gekommen und wer würde verkennen, daß "Kladderadatsch" ganz
Deutschland, von Saarlouis bis Tilsit, vorm Einschlafen geschützt hat?
Aber die "Gelehrten des Kladderadatsch" sind witzige Ausländer, die sich
nur berlinischer Formen bedienen. Ohne die Schärfe dieses Blattes würden
diese Formen, wie die Erfahrungen auf den neueröffneten hiesigen Bühnen
zeigen, ganz ins Quatsche zurückfallen.
Die Art, wie hier in neuerer Zeit Bühnen eröffnet worden sind (um diese
Fährte des Geschmacklosen weiter zu verfolgen), ist eine der
unglaublichsten Inkonsequenzen einer Regierung, die in allen andern
geistigen Fächern so außerordentlich schwierig ist. Das Ministerium
Ladenberg ging auf eine so gewissenhafte Revision der Theaterkonzessionen
aus, und in Berlin durften Kaffeehäuser und Tanzlokale sich in Theater
verwandeln! Es ist noch ein wahres Glück, daß unser Schauspielerstand
durch die sogenannten Tivolitheater nicht ganz verwildert ist, was
freilich in einigen Jahren immer mehr der Fall sein wird; es finden sich
immer noch einzelne Darsteller, die den Ehrgeiz besitzen, mit ihrer Kunst
nicht ganz zugrunde zu gehen. Kaum ist die nächste materielle Not
befriedigt, so werden sie bestrebt sein, den glücklicher gestellten
Kollegen an den Hof- und großen Stadttheatern gleichzukommen und Besseres
und Edleres zu spielen. So hat sich das hiesige Friedrich-Wilhelmstädtische
Theater, besonders durch die Bemühungen der trefflichen HH. Görner und
Ascher, zu einer überraschenden Geschmacksrichtung, die sich in den
schwierigsten ästhetischen Aufgaben versucht, emporgearbeitet, allein im
Sommer verwandelt es sich wieder in ein Parktheater und noch ist die
Bevölkerung zu sehr geneigt, an dem Ton Freude zu haben, der auf einigen
andern Theatern im Sinne des Quatsch angeschlagen wird. Theater über
Theater! Hier gehen Menschen herum, die, ohne die geringste geistige
Bildung, ohne Geldmittel sogar, eine Theaterkonzession in der Tasche
haben; andere glauben sie ohne weiteres durch ein geeignetes Fürwort an
hoher Stelle erlangen zu können. Einen Zirkus zu eröffnen oder eine Bühne
scheint nach den Gesetzen der Gewerbefreiheit einerlei und allerdings hat
jeder Spekulant recht, wenn er sich auf seine Vorgänger beruft und z.B.
fragt: Wie kommt der Cafétier Kroll zu einer Bühne, wie kommen zwei
Gebrüder Cerf, Handlungsbeflissene, dazu, wie kommt jener einst zum
Gespött der Vorstädte deklamatorische Vorstellungen gebende Rhetor
Gräbert dazu? Wer ist Herr Carli Callenbach, der auch ein Theater
besitzt? Diese Anarchie auf dem dramatischen Gebiete macht dem Freunde
der Literatur ganz denselben Eindruck, wie es dem Freunde militärischer
Ordnung peinlich war, sogenannte Bürgerwehr in rundem Hut und Überrock
die Armatur der königlichen Zeughäuser tragen zu sehen. Nicht daß die
Bürgerwehr als solche zu verwerfen war, aber sie bedurfte der
Organisation, sie bedurfte jener Haltung, die dem Waffendienste geziemt;
ebenso verletzt wendet sich die dramatische Muse ab, wenn man ihr opfert
wie dem Gambrinus in bayrischen Bierstuben. Man kann die treffliche
Organisation der Pariser Theater mit diesen Polkawirtschaften Thaliens in
keine Vergleichung bringen, man vergleiche wenigstens die Theater der
Wiener Vorstädte. Die Josephstädter Bühne ist vielleicht diejenige unter
ihnen, die am tiefsten steht und doch hat sie eine bestimmte Spezialität;
manches Talent, z.B. Mosenthals, entwickelte sich zuerst auf ihr,
"Deborah" erschien zuerst auf der Josephstädter Bühne.
Das Repertoire des Königlichen Theaters fand ich im Schauspiel sehr wenig
anziehend, "Waise von Lowood", "Deutsche Kleinstädter", "Geheimer Agent"
usw. Es herrscht hier eine Unsitte, mit der sich kein noch so
wohlmeinender ästhetischer Sinn vereinbaren läßt, nämlich die Befolgung
der Spezialbefehle, welche die einheimischen und fremden höchsten
Herrschaften über die Stücke aussprechen dürfen, die sie zu sehen
wünschen. Es ist dies eine Form des Royalismus, die in der Tat etwas
auffallend Veraltetes hat und in dieser Form in keiner Monarchie der Welt
vorkommt. Bald heißt es: "Auf höchstes Begehren", bald: "Auf hohes
Begehren", bald: "Auf Allerhöchsten Befehl", bald nur einfach: "Auf
Befehl", unter welcher bescheidenem und auch seltener vorkommenden Form
sich die Wünsche des Königs zu erkennen geben. Was ist das aber für eine
Unsitte, daß die Kammerherren auch jeder durchreisenden, prinzlichen
Herrschaft die Stücke bestellen, welche diese zu sehen wünschen! Die
geistigen Armutszeugnisse, die sich Prinzen, Prinzessinnen, ab- und
zureisende kleine Dynasten und Dynastinnen mit ihren Wünschen um dieses
Ballet, um jene Oper, um eine kleine Posse geben dürfen, sind schon an
sich kläglich und fallen ganz aus der Rolle, welche die Monarchie
heutigen Tages zu spielen hat; aber der Gang der Geschäfte wird dadurch
auch auf eine Art unterbrochen, unter welcher Kunst und Publikum leiden.
Hat eine Prinzessin eine Empfehlung von auswärts bekommen, die ihr eine
Schauspielerin oder Sängerin überbrachte, so bestellt sie die Stücke, in
denen sie auftreten soll. Kommt der Hof aus Mecklenburg-Strelitz, so legt
man ihm die Stücke vor, die gerade leicht anzurichten sind, er streicht
sich einige an und man liest: "Auf höchstes Begehren: 'Der geheime
Agent'", ein Stück, das jetzt auf jedem Liebhabertheater gesehen werden
kann. Der König besitzt so viel Geist, daß ihm diese Manifestationen des
Privatgeschmacks seiner Brüder oder Neffen oder Vettern ohne Zweifel viel
Heiterkeit verursachen; er sollte aber einen Schritt weitergehen und
diesen Mißbrauch der von den Kammerherren veränderten Repertoires im
Interesse der Kunst und des Publikums verbieten. Es macht sich dies
öffentlich kundgegebene Denken und Mitreden der "Herrschaften" in einem
Staate, der ja doch wohl ein konstitutioneller sein soll, sehr wenig nach
dem Geiste der in ihm allein anständigen Öffentlichkeit.
Natürlich ergibt sich unter solchen Umständen, wo die Großen und
Mächtigen öffentliche Fingerzeige über ihren eigenen Geschmack geben
dürfen, die Förderung des Gedankenvollen und Notwendigen an einer Bühne
weit schwieriger. Wenn sich die Großen "Satanella" oder "Aladins
Wunderlampe" kommandieren, wenn Pferde auf dem Königsstädter Theater
agieren, Klischnigg, der Affenspieler, und die Zulu-Kaffern auf dem
Krollschen Theater ihr Wesen treiben, kann eine erste Aufführung eines
neuen Dramas im Schauspielhause nur ein kleines Publikum finden; vor
einem halbbesetzten Hause sah ich die erste Aufführung des "Demetrius"
von Hermann Grimm. Es war ein kleines Geheimratspublikum aus der Gothaer
Richtung; ein paar Offiziere, einige Professoren, wenig Studenten, auf
zehn Menschen immer ein bestallter Rezensent. Die Darstellung war ebenso
warm wie die Ausstattung glänzend. Das funkelte von Farbenpracht, Frische
und Neuheit der Kostümstoffe, überall, in den kleinsten Ausschmückungen
der Wände zeigte sich ein vorhergegangenes Studium der betreffenden
Geschichte, Sitten und Kleidertrachten der Zeit, in welcher die Handlung
spielte. Das Stück war eine Anfängerarbeit, die kaum Talent verriet (nur
aus Überfülle sprudelt der Quell einer geistigen Zukunft, nicht aus einer
Dürftigkeit, wo sich Armut den Schein der Einfachheit geben will), aber
die Darstellung ging von einem schönen Glauben an den Wert des Stückes
aus; nirgends sah man ihr eine Mißstimmung über die aufgebürdete,
undankbare und für die Zeit der besten Saison verlorene Aufgabe an und
mit dem halbunbewußten Pflichtgefühl verband sich die noch immer
außerordentlich ansprechende Natürlichkeit der Hendrichsschen Spielweise.
Rollen, die keine Schwierigkeiten der Dialektik bieten, wird Hendrichs
immer vorzüglich spielen. Dieser Künstler ist ein schwacher Hamlet, aber
ein liebenswürdiger und überredender Romeo. In seiner Passivität liegt
Poesie und da er nur die Konturen ausfüllt, die der Dichter ihm
vorzeichnet, so nimmt er durch die Treue und Einfachheit, mit der er sich
seinen Aufgaben unterzieht, überall für sich ein, wo einmal die Macht der
Gewöhnung ein Publikum für ihn gewonnen hat, wie in Berlin, Frankfurt und
Hamburg, wo er gewohnte Triumphe feiert.
Ich bedauerte, Dessoir nicht beschäftigter zu finden. Dieser geistvolle
Schauspieler leidet hier an der üblichen Abgrenzung unserer Rollenfächer.
Der Begriff eines Charakterspielers, den er zu vertreten hat, ist so
vieldeutig. Man kann Hamlet als Liebhaber spielen, man kann ihn aber
auch, wie Dawison und Dessoir tun, als Charakterzeichnung geben. Dessoir
ist einer jener Schauspieler, die zwar in jedem Ensemble eine Zierde sein
werden, selbst wenn sie nur zweite Rollen spielen, aber Dessoir hat den
ganzen Beruf, eine Stellung einzunehmen, die ihn zum Matador einer Bühne
macht und jede bedeutende Aufgabe, die nicht ganz dem Liebhaberfache
angehört, ihm zuweist. Alle die Rollen indessen, auf die ihn sein
künstlerischer Trieb hinführen muß, sind noch im Besitze der Herren Rott
und Döring. Es spricht für die geistige Anregung, die Berlin bietet, für
die Belohnung, die man im Beifall eines natürlich sich hingebenden
Publikums findet, daß Dessoir darum doch seinen hiesigen, höchst
ehrenvoll behaupteten Platz mit keinem andern vertauschen möchte.
Vom Schauspiel sagt man an der Verwaltungsstelle, es würde keineswegs
vernachlässigt und es hat sich seit Düringers Mitwirkung sehr gehoben;
dennoch muß man bei dem Vergleiche der unverhältnismäßigen Pracht, die
das Opernhaus umgibt, wünschen, es würde doch endlich ganz von der Musik
und dem Ballett getrennt, es verfolgte seine ernste und schwierige
Aufgabe für sich allein. Das Schauspiel kann nur ein Stiefkind erscheinen
gegen die Art, wie die Leistungen des Opernhauses nicht etwa von der
Verwaltung geboten, sondern vom Publikum empfangen werden. Neun glänzende
Proszeniumslogen ziehen fast ebensoviel Aufmerksamkeit auf sich wie die
Leistungen der Szene. Das Opernhaus ist das Stelldichein der höhern und
mittlern Gesellschaft, der stete Besuchsort der Fremden, die Sehnsucht
der allgemeinen Schaulust und ein Tempel des Genusses. Nicht Paris und
Wien finden im Ballett ihre speziel1sten sinnlichen Bedürfnisse so
befriedigt wie Berlin. "Satanella" und "Aladins Wunderlampe" sind die
Ballette des Tages, die jeder gesehen haben muß und die derjenige, der
die Mittel besitzt, nicht oft genug sehen kann. Welche Fülle von Licht,
Farbe, Glanz aller Art, von Jugend, Schönheit und Gefallsucht! Die
musikalischen Kräfte sind hier so groß, daß z.B. an einem Abend im
Opernhause der "Prophet" gegeben werden kann, im Schauspielhause die
Zwischenaktmusik zu "Egmont" vol1ständig da ist und noch in der
Singakademie ein Konzert mit der königl. Kapelle begleitet werden kann.
Es ist dies nur möglich durch die Unzahl von Akzessisten und
Exspektanten, die zwar nicht die Leistungen vorzüglich, aber alle Fächer,
auch die des Chors und des Ballettkorps so vol1ständig machen. Auf
dreißig Tänzerinnen, welche die Verwaltung besoldet, kommen ebensoviel
junge, hübsche, talentvolle Mädchen, die unentgeltlich mitwirken, nur um
der Anstalt anzugehören und vielleicht einmal in die besoldeten Stellen
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