Berlin — Panorama einer Weltstadt - 04

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einzurücken. Vor der Auswahl von jungen Leuten, die Eltern und Angehörige
"um Gotteswillen" der Verwaltung zu Gebote stellen, kann diese sich kaum
retten. Daher auf der Szene die überraschendste Massenentfaltung. Die
Kunst der Beleuchtung, der Glanz der Kostüme, der Geschmack der
Dekorationen ist aufs höchste getrieben. Da steigen Feentempel aus
der Erde, da senken sich Wolkenthrone mit allen Heerscharen des
orientalischen Himmels nieder, da leuchten und blitzen unterirdische
Grotten von Ede1steinen, da sprudeln natürliche Springbrunnen im
Mondenschein und fallen, vielfach gebrochen, in Bassins herab, an deren
Rändern die lieblichsten Gestalten schlummern. Jede Demonstration der
Szene ist ganz und vol1ständig. Nirgendwo erblickt man die Hilfsmittel
der bloßen Andeutung, die an andern Bühnen die Illusion vorzugsweise in
die ergänzende Phantasie der Zuschauer legt; hier ist die Schere der
Ökonomie verbannt, die aus Amazonenröcken von heute für morgen Pantalons
für Verschnittene macht. Hier fangen alle Schöpfungen immer wieder von
vorn an. Kein Kostümier und Dekorateur ist an die Wiederaufstutzung alter
Vorräte gewiesen; hier regieren jene Warenmagazine, wo es immer wieder
neue Seide, neuen Sammet und für die geschmackvol1sten Maler neue
Leinwand gibt.
Ein Ballett in Berlin zu sehen wie "Satanella" ist in vieler Hinsicht
lehrreich. Dem Ästhetiker macht vielleicht die Grazie und herausfordernde
Keckheit z.B. der jungen Marie Taglioni eine besondere Freude, aber die
Vorstellung im großen und ganzen mit allem, was dazu auch von Seiten des
Publikums gehört, ist kulturgeschichtlich merkwürdig. Dieser Marie
Taglioni sollte man eine Denktafel von Marmor mit goldenen Buchstaben und
mitten in Berlin aufstellen. Sie tanzt die Hölle, aber sie ist der wahre
Himmel des Publikums; sie tanzt die Lüge, aber sie verdient ein Standbild
als Göttin der Wahrheit. Denn man denke sich nur dies junge, reizende,
übermütige Mädchen mit ihren beiden Teufelshörnchen an der Stirn, mit dem
durchsichtigen Trikot, mit den allerliebsten behenden Füßchen, mit den
tausend Schelmereien und Neckereien der Koketterie, wie nimmt sie sich
unter den ehrwürdigen Tatsachen des gegenwärtigen Berlins aus! Dieser
kleine Teufel da, im rosaseidenen, kurzen Flatterröckchen, ist sie etwa
die in der Vorstadt tanzende Pepita? Nein, sie ist das enfant chérie der
Berliner Balletts, und das Berliner Ballett ist das enfant chérie der
Stadt, des Hofs, ist die Kehrseite der frommen Medaillen, die hier auf
der Brust der Heuchelei von Tausenden getragen werden. Büchsel,
Krummacher, Bethanien, Diakonissen, Campo-Santo, Sonntagsfeier, Innere
Mission--was ist das alles gegen einen Sonntagabend, wenn Berlin in
"Satanella" seine wahre Physiognomie zeigt! Die Prinzen und Prinzessinnen
sind anwesend. Hinten auf der Szene funkelt ein Ordensstern neben dem
andern, jede Kulisse ist von einem Prinzen besetzt, der sich mit den
kleinen Teufelchen des Corps de ballet unterhält. Der erste Rang zeigt
die Generale und Minister, das Parkett den reichen Bürgerstand, die
Tribüne und der zweite Rang die Fremden, die den Geist der Residenz in
der Provinz verkünden werden, die obern Regionen beherbergen die
arbeitenden Mittelklassen und selbst die halbe Armut, der man sonst nur
Traktätchen in die Hand gibt, hat hier das Frivo1ste aller Textbücher
mühsam nachzustudieren, um die stumme Handlung der Szene zu verstehen.
Welche Wahrheit deckst du doch auf, du echte Berliner, in der
Treibhauswärme der speziel1sten, königlich preußischen Haus-Traditionen
großgezogene Pflanze, Marie Taglioni geheißen! O so werft doch, ihr
besternten Herren, eure Masken ab! Verratet doch nur, daß euer
Privatglaube nichts mehr liebt als die Götter Griechenlands und daß nicht
etwa hier der Kultus des Schönen, sondern draußen euer offizielles System
eine Komödie ist.
Satanella verführt einen jungen Studenten, dem das Repetieren seiner
Collegia bei Stahl und Keller zu langweilig scheint. Er hat eine
Verlobte, die vielleicht Geibel und "Amaranth" liest, aber niemand wird
zweifelhaft sein, daß der junge, künftige Referendar besser tut, sich an
Heinrich Heine, an die schöne Loreley und die Taglioni zu halten. Wie
kalt und nüchtern ist auch die Liebe eines Fräulein Forti gegen die Liebe
einer Satanella! Es geht mit letzterer allerdings bergab und geradewegs
in die Hölle, aber welcher Zuschauer wird der Narr sein und nicht
einsehen, daß der Satan den jungen Lebemann nur anstandshalber holt! Kann
das eine echte Hölle sein, in der sogar schon kleine Kinder tanzen, schon
kleine Kinder mit Satanshörnern umherspringen und, wie von Selma Bloch
geschieht, ein recht widerliches Solo tanzen? Kann das die echte Hölle
sein, deren Vorhof die wunderbarste Mondscheinnacht von Gropius mit dem
reizendsten Château d'eau und der stillschlummernden antiken Marmorwelt
ist? Wird irgend ein Vernünftiger einräumen, daß die Konsistorialräte
Recht haben, wenn sie die Venus von Milo eine schöne "Teufelinne", die
Antiken des Vatikan überhaupt, wie Tholuck getan, "schöne Götzen" nennen?
Verwandelt sich all' diese Lust und Liebe, all' diese Freude und
Behaglichkeit nicht vielmehr nur rein "anstandshalber", d.h. um dem
Vorurteil zu genügen, in Pech und Schwefel, und wird irgend jemand eine
solche Vorstellung, wo besternte Prinzen jede Attitüde der
Solotänzerinnen beklatschen, mit einer andern Meinung verlassen als der:
Ich fühle wohl, es muß einen Mittelweg zwischen Elisabeth Fry und Marie
Taglioni, einen Mittelweg zwischen Bethanien und dem Opernhause, einen
Mittelweg zwischen den Konzerten des Domchors und Satanella geben? Diese
Berliner Ballettabende wecken einen ebenso großen Abscheu vor der
mätressenhaften Sinnlichkeit, die durch sie hindurchblickt, wie vor der
Kasteiung des Fleisches in der neuen Lehre vom Gefangengeben der Vernunft
und dem fashionablen Büßertum, dessen neupreußische Früchte wir
hinlänglich kennen.
Beide Extreme gehen in Berlin auf eine erschreckende Art nebeneinander.
Sie gehen nicht etwa getrennt nebeneinander, sondern im Durchschnitt in
denselben Personen. Die Heuchelei und die Rücksicht auf Karriere mietet
sich einen "Stuhl" in der Matthäuskirche, nur damit an dem Schilde
desselben zu lesen ist: "Herr Assessor N. N." und die stille Sehnsucht
des wahren innern Menschen ist hier doch allein--der Genuß. Dem Genuß
bauen auch andere Städte Altäre; die buntesten, mit Rosen geschmückten
Altäre baut z.B. Wien. Aber Berlin ergibt sich immer mehr einer Form des
Genusses, die nur ihm ganz allein angehört. Es ist dies die Genußsucht
eines Fremden, der in vierzehn Tagen durch seine gefüllte Börse alles
bezahlt, was man in einer Residenz, die er vielleicht in Jahren nicht
wiedersieht, für Geld bekommen kann. Es ist die Genußsucht des
Gutsbesitzers, der seine Wolle in die Stadt fährt und sich mit vierzehn
Tagen Ausgelassenheit für ein Jahr der Entbehrung auf seiner Scholle
entschädigt. Dies Berliner Lecken und Schlecken hat die Bevölkerung so
angesteckt, daß man mit Austernschalen die Straßen pflastern könnte.
Wohlleben und Vergnügen ist die Devise des hiesigen Vegetierens geworden,
nirgend wird man z. B. den Begriff "Bowle machen" jetzt so schleckerhaft
ausgesprochen finden. Die Betriebsamkeit wird durch den Luxus wohl eine
Weile gestachelt werden, an Großstädtigkeit der Unternehmungen fehlt es
nicht; aber wenn die natürlichen Kräfte versagen, tritt das Raffinement
ein und das Raffinement des Verkehrs, gewöhnlich Schwindel genannt, soll
hier in einem Grade herrschen, der keine Grenzen mehr kennt. Denn was ist
die Grenze, die man Bankrott nennt? Aus Nichts werden die glänzendsten
Unternehmungen hervorgerufen. Mit einem Besitze von einigen tausend
Talern mutet man sich die Stellung eines Kapitalisten zu. Der Kredit gibt
nicht dem Redlichen mehr Vorschub, sondern dem Mutigen. Die
Entschlossenheit des industriellen Waghalses leistet das Unglaublichste.
Wo die größten Spiegel glänzen, wo die goldenen Rahmen tief bis zur Erde
niedergehen, wo in den Schaufenstern der Butiken die fabelhafteste
Scheinfülle des Vorrats mit dem Geschmack der Anordnung zu wetteifern
scheint, kann man gewiß sein, auf hundert Fälle bei neunzig nur eine
Grundlage anzutreffen von eitel Luft und windiger Leere.
Es ist mannigfach schon eine Aufgabe der neuern Poesie, der sozialen
Romantik geworden, den Lebenswirren, die sich aus solchen Zuständen
ergeben müssen, nachzuspüren. Der Totenwagen rasselt still und ernst
durch dies glänzende Gewühl. Rauschende Bälle, in der Faschingsnacht ein
Wagendonner bis zum frühen Morgen und die Chronik der Verbrechen, die
Statistik der Selbstmorde gibt dem heitern Gemälde doch eine dämonische
Beleuchtung. Erschütternd war mir z.B. die Nachricht, daß der Philosoph
Beneke von der Universität plötzlich vermißt wurde und wahrscheinlich
sich entleibt hat. Erst jetzt kam zur Sprache, daß dieser redliche
Forscher, der sich in der Erfahrungsseelenkunde einen Namen erworben und
besonders auf die neuere Pädagogik einen nützlichen Einfluß gehabt hat,
seit länger als zwanzig Jahren nicht endlich ordentlicher Professor
werden konnte und sich mit einem jährlichen Gehalte von 200 Talern
begnügen mußte! Zweihundert Taler jährlich für einen Denker, während es
hier Geistliche gibt, die es auf jährlich 5000 Taler bringen! Beneke war
ein Opfer des Ehrtriebes, der hier noch zuweilen einen edeln Menschen
ergreift, nicht auf der allgemeinen Bahn des Schwindels gehen zu wollen.
Des Mannes Erscheinen war einfach, war fast pedantisch. Er hatte vor
zwanzig Jahren die etwas steifen Manieren eines Göttinger Professors nach
Berlin gebracht. Seine Vorträge waren etwas ängstlich, seine Perioden
allzu gewissenhaft, sein System knüpfte wieder an Hume und Kant an, er
ging über die endlichen Bedingungen unsers Denkens nicht tollkühn in die
Unendlichkeit; was sind Kennzeichen solcher altbackenen Solidität in
einer Stadt wie Berlin, wo nur die glänzende Phrase, der saillante Witz
und Esprit, das kecke Paradoxon und jener doktrinäre Schwindel etwas
gilt, den Hegel aufbrachte, Hegel, der jahrelang die trivia1sten Köpfe,
die nur in seiner Tonart zu reden wußten oder die es verstanden, ihrem
sogenannten Denken eine praktische Anwendung auf beliebte Religions- und
Staatsauffassungen zu geben, zu ordentlichen Professoren befördern
konnte! Hamlet ist auch darin das große und Shakespearen auf den Knien zu
dankende Vorbild aller mit der Welt verfallenen Geistesfreiheit, daß er
auf des Königs Frage, wie es ihm ginge, antwortet: "Ich leide am Mangel
der Beförderung."
--Wer ertrüge Den Übermut der Ämter und den Kummer Den Unwert
(schweigendem Verdienst erweist!)


Neues Museum--Schloßkapelle--Bethanien (1854)

Eine derjenigen Schöpfungen des Königs, in denen man unbehindert von
irgendeiner drückenden Nebenempfindung atmet, ist und bleibt das Neue
Museum. Der Fremde wird es bei jedem Besuche wiederzusehen sich beeilen,
er wird sich der Fortschritte freuen, die die Vollendung des Ganzen
inzwischen gemacht hat, er wird sich in diesen Räumen aller lästigen
Beziehungen auf lokale Absichten und Einbildungen erwehrt fühlen und im
Zusammenhange wissen nur mit jenen allgemeinen deutschen
Kunstbestrebungen, die uns die Schönheit und Pracht von München, die
Ausschmückung des königlichen Schlosses in Dresden, die neuen Pläne für
Weimar und Eisenach, unsere neuen Denkmäler, Kunstausstellungen,
Kunstvereine und den Aufschwung unserer Akademien geschaffen haben. Das
Neue Museum liegt in einem versteckten, zur Stunde noch beengten,
unfreundlichen Winkel der Stadt, aber es ist die traulichste Stätte der
Begrüßung, das heiterste Stelldichein des Geschmacks und der prüfenden,
immer mehr wachsenden Neugier der Einheimischen und der Fremden, die
sogleich hierher eilen. Es entwickelt sich langsam, aber reich und
gefällig. Es entwickelt sich unter Auffassungen, die uns wahlverwandt
sind. Wir sind in Italien und in München vorbereitet auf das, was wir
hier wiederfinden. Diese Räume hat mit den Eingebungen seines Genius
vorzugsweise eine große, freie Künstlernatur zu beleben, ein Dichter mit
dem Pinsel, ein Denker nach Voraussetzungen, die nicht aus dem märkischen
Sande stammen. So stört uns denn auch hier kein beliebter byzantinischer
Schwu1st, keine russischen Pferdebändiger, oder Athleten oder Amazonen
erfüllen uns, während wir an Athen denken wollen, mit lakedämonischen
Vorstellungen; selbst die hier in Berlin überall aushängende Devise:
"Nach einem Schinkelschen Entwurf", stört uns nicht. Man muß Schinkel
einen erfindungsreichen und sinnigen Formendichter nennen, aber er schuf
doch wahrlich zu viel auf dem Papiere, er zeichnete zu viel abends bei
der Lampe; es waren geniale Studien und Ideen, die er ersann von
Palastentwürfen an bis zu Verzierungen von Feilnerschen Öfen; aber es
fehlte ihm doch wohl eine gewisse Kraft, Reinheit und Einfachheit
des Stils....
Eine zweite große Schöpfung des Königs ist die (Kuppeldachkapelle des
Schlosses). Sie hat eine halbe Million gekostet und ist unstreitig eine
Zierde des Schlosses nach dem ihm eigentümlichen Geschmack, wenn auch
eben keine Bereicherung der Kunst. Der Baumeister Schadow errichtete die
gewaltige Wölbung auf einem Platze, der bisher im Schlosse unbeachtet
gewesen war, verfallene Wasserwerke enthielt, altem Gerümpel, freilich
aber auch den vortrefflichen Schlüterschen Basreliefs, die jetzt die
Treppe zieren, als Aufbewahrungsort diente. Die Spannung des mehr ovalen
als runden Bogens ist meisterhaft ausgeführt. Einen überraschenden
Eindruck wird der Eintritt in diesen Tempel jedem gewähren, der sich erst
im Weißen Saale an den schönen Formen der Rauchschen Viktoria geweidet
hat und zu ihm dann auf Stiegen emporsteigt, die mit lebenden Blumen
geschmückt sind und mit Kronleuchtern, die nur etwas zu salonmäßig durch
Milchglasglocken ihre Flammen dämpfen sollen. Man erwartet in der Kapelle
weder diese Größe noch diese Pracht. Bei längerer Betrachtung schwindet
freilich der erste Eindruck. Das steinerne, mit Marmor und Bildern auf
Goldgrund überladene Gebäude wird dem Auge kälter und kälter. Der Altar,
wenn auch mit einem aus den kostbarsten Ede1steinen zusammengesetzten
Kreuze geziert, die Kanzel, der Fußboden, alles erscheint dann plötzlich
so nur für die Schwüle der südlichen Luft berechnet, daß man das
lebendige Wort Gottes hier weder recht innerlich vorgetragen noch recht
innerlich empfangen sich denken kann. Das Auge ist zerstreut durch das
Spiel aller hier zur Verzierung der Wände aufgebrachten Marmorarten. Da
gibt es keine Farbe, keine Zeichnung des kostbarsten Bausteins, von der
nicht eine Platte sich hier vorfände wie in einer mineralogischen
Sammlung. Zu dieser durch die Steine hervorgerufenen Unruhe gesellt sich
die Ungleichartigkeit der Bilder. Sie scheinen alle nach dem Gedanken
zusammengestellt, die Förderer der Religion und des Christentums zu
feiern. Aber auch dies ist ein Galerie- oder Museumsgedanke, kein reiner
Kirchengedanke. Huß, Luther, die Kurfürsten von Brandenburg stehen
vis-à-vis den Patriarchen und den Evangelisten. Da muß es an der einigen
Stimmung fehlen, die Andacht hebt sich nicht auf reinen Schwingen, man
kann in einem solchen Salon nur einen konventionellen Gottesdienst
halten. Ach, und dieser Fanatismus für das konventionell Religiöse sitzt
ja wie Mehltau auf all' unsern Geistesblüten! Man denkt nicht mehr, man
prüft nicht mehr, man übt Religion nur um der Religion willen. Man ehrt
sie um ihrer Ehrwürdigkeit, man ehrt sie wie man Eltern ehrt, deren
graues Haar unsere Kritik über die Schwächen, die sie besitzen,
entwaffnen soll. Das ist der Standpunkt der Salon-Religion. Man will
nicht prüfen, man will nicht forschen, man umrahmt mit Gold und Ede1stein
die Tradition, die man auf sich beruhen läßt. Man schlägt sein
rauschendes Seidenkleid in künstlerische Falten, wenn man im Gebetstuhl
niederkniet; man schlägt sein goldenes Gebetbuch auf, liest halb
gedankenlos, was alte Zeiten dachten, denkt vielleicht mit Rührung dieser
Zeiten, wo der Glaube von so vielem Blute mußte besiegelt werden, gesteht
wohl auch seine eigenen sündigen Einfälle und Neigungen ein, gibt sich
den Klängen einer vom Chor einfallenden Musik mit einigen quellenden
Tränen der Nervenschwäche und Rührung hin und verläßt die Stätte der
Andacht mit dem Gefühl, doch dem Alten Rechnung getragen, doch eine
Demonstration gegeben zu haben gegen die anstößige und in allen Stücken
gefährliche neue Welt! Das ist die Religions-Mode des Tags. Für diese
Richtung eines vornehmen Dilettierens auf Religion kann man sich keinen
zweckentsprechendern Tempel denken als die neue Berliner Schloßkapelle.
Sie erleichtert vollkommen die manchmal auch wohl lästig werdenden
Rücksichten einer solchen Art von Pietät.
Weitentlegen vom Geräusch der Stadt und nur leider in einer zu kahlen,
baumlosen Gegend liegt Bethanien, die seit einigen Jahren errichtete
Diakonissenanstalt. Man fährt an einer neuen, im Bau begriffenen
katholischen Kirche vorüber und bewundert die großartige Anlage dieses
vielbesprochenen Krankenhauses, das sich bekanntlich hoher Protektion zu
erfreuen hat. Dennoch soll die Stiftung eine städtische sein und ab und
zu wird man von Bitten in den Zeitungen überrascht, die Bethanien zu
unterstützen auffordern, Bitten, die wiederum dies Institut fast wie ein
privates hinstellen. Zweihundert Kranke ist die gewöhnliche Zahl, für
welche die nötigen Einrichtungen vorhanden sind. Dem fast zu luxuriös
gespendeten Raume nach könnten noch einmal soviel untergebracht werden.
Man hat hier ein Vorhaus, eine Kirche, einen Speisesaal, Wohnungen der
Diakonissen und Korridore von einer Ausdehnung, die fast den Glauben
erweckt, als wäre die nächste Bestimmung der Anstalt die, eine Art
Pensionat, oder Stift oder Kloster zu sein, das sich nebenbei mit
Krankenpflege beschäftigt. Ohne Zweifel ist auch die Anlage des
Unternehmens auf eine ähnliche Voraussetzung begründet. Bethanien soll
eine Demonstration der werktätigen christlichen Liebe sein; die Kranken,
mag auch für sie noch so vortrefflich gesorgt werden, nehmen
gewissermaßen die zweite Stelle ein.
Die Oberin der Diakonissen ist ein Fräulein von Rantzau. Unter ihr stehen
etwa zwanzig "ordinierte" Diakonissen und eine vielleicht gleiche Anzahl
von Schwestern, die erst in der Vorbereitung sind. Einige der ordinierten
sind auf Reisen begriffen, um auswärts ähnliche Anstalten begründen zu
helfen. Die Tracht der größtenteils jungen und dem gebildeten Stande
angehörigen Damen ist blau, mit einem Häubchen und einer weißen, über die
Schulter gehenden Schürze. Wie gründliche Vorkenntnisse hier
vorausgesetzt werden, ersah ich in der Apotheke, die von zwei Diakonissen
allein bedient wird. Auch ein Lehrzimmer findet sich zu theoretischen
Anleitungen. Die groben Arbeiten verrichten gemietete Mägde, die im
Souterrain an den höchst entsprechenden praktischen Waschhaus- und
Küchenvorrichtungen beschäftigt sind. Auch Männer fehlen nicht. Die
Diakonissen sind überhaupt mehr bei den weiblichen Kranken beschäftigt
und müssen die schwerere Dienstleistung, die besonders im Heben und
Umbetten der Kranken besteht, dem stärkern Geschlechte überlassen. Man
bekommt auch hierdurch wieder die Vorstellung von einem gewissen Luxus,
der im Charakter der ganzen Anstalt zu liegen scheint. Man kann den damit
verbundenen Tendenzbeigeschmack nicht gut offen bekämpfen, da unfehlbar
ein zwangloses Behagen in der Nähe von Kranken und Sterbenden die ganze
Stimmung unsers Herzens für sich hat. Die Sauberkeit der Erhaltung, die
reine Luft, das Gefühl von Komfort und Eleganz kommt doch auch den
Kranken selbst zugute.
Einen Freund der Diakonissenanstalten frug ich: Aus welchem Geiste
erklären diese Frauen und Mädchen sich bereit, den Leidenden mit ihrer
Pflege beizustehen? Er erwiderte: Um der Liebe Gottes willen. Unstreitig
bedarf der Mensch, um sich zu seltenen Taten anzuspornen, des Hinblicks
auf einen höhern sittlichen Zweck. Dennoch hätt' ich lieber gehört: Diese
Institution wäre von der Menschenliebe hervorgerufen. Ich glaube, der Ton
würde inniger, die Haltung weniger kaltvornehm sein. Ein Zusammenhalt bei
gemeinschaftlichem Wirken ist nötig, eine gleiche Stimmung muß alle
verbinden. Ob aber dazu eine Kirche, ob Gesang und Gebet beim Essen, ob
das Herrnhuter, in "Gnadau" gedruckte Liederbuch, das ich auf dem Piano
aufgeschlagen fand, dazu gehört, möcht' ich bezweifeln. Ein anderes ist
der katholische Kultus von Barmherzigen Schwestern, die sich für
Lebenszeit diesem Berufe hingeben und von der Welt für immer getrennt
haben; ein anderes diese vorübergehende Wirksamkeit einer Diakonissin,
die nach vorhergegangener rechtzeitiger Anzeige ihren Beruf wieder
aufgeben und immer noch eine Frau Professorin oder Assessorin werden
kann. Für einen solchen Beruf reicht Herzensgüte, Menschenliebe und eine,
durch äußere Umstände hervorgerufene Neigung einen so schwierigen Platz
anzutreten, vollkommen aus. Und sollte denn wirklich im 19. Jahrhundert
die Bildung der Gesellschaft, die Humanität der Gesinnung, die Liebe zum
Gemeinwohl, die Sorge für die gemeinschaftlichen Glieder einer Stadt,
eines Staats und einer Nation noch nicht so weit als werktätiges
(Prinzip) durchgedrungen sein, daß man, um hier dreißig Frauen in einem
Geiste der Hingebung und Liebe zu verbinden, nötig hat, nach dem Gnadauer
Herrnhuter Gesangbuche zu greifen?
Man wird ein jedes Krankenhaus mit Rührung verlassen. Auch in Bethanien
sieht man des Wehmütigen genug. Ich trat in ein Krankenzimmer von
Kindern. Abgezehrte oder aufgedunsene kleine Gestalten lagen in ihren
Bettchen und spielten auf einem vor ihnen aufgelegten Brette mit
bleiernen Soldaten und hölzernen Häuserchen. Ein blasser Knabe, der an
der Zehrung litt und vielleicht in einigen Wochen stirbt, reichte
freundlich grüßend die Hand. Einen andern hatt' ich gut auf den
Sonnenschein, der lachend in die Fenster fiel, auf die Lerchen, die schon
draußen wirbelten, auf ein baldiges freies Tummeln im erwachenden
Frühling vertrösten, der Kleine litt am Rückenmark und wird nie wieder
gehen können. Ein Krankenhausbesuch ist eine Lehre, die nach "Satanella"
und Aladins "Wunderlampe" sehr nützlich, sehr heilsam sein kann. Aber
Bethanien verläßt man doch mit dem Gefühl, daß hier, wie in unserer Zeit
überhaupt, noch mehr Menschen krank sind, als die da offen eingestehen,
des Arztes bedürftig zu sein.


Zur Ästhetik des Häßlichen (1873)

Himmel! Berlin sei unschön? höre ich einen nationalliberalen Enthusiasten
ausrufen, wie kann man einen so unzeitgemäßen Begriff aufstellen! Sie
machen sich ja Treitschke, Wehrenpfennig und wen nicht alles zu
unerbittlichen Feinden! Jetzt, wo in Berlin alles vollendet, groß, selbst
die Zukunftsgärten von Steglitz und Lichterfelde arkadisch sein müssen!
Die Opportunität, die große deutsche Reichs- und deutsche Zentralisations-
frage bedingt den Satz: Berlin ist die Stadt der Städte! Die Stadt auch
der Schönheit! Höchstens im Sommer, wenn der Staub auch in Leipzig zu arg
wird und die Sauergurkenzeit eintritt, dann gehört ja Graubünden und die
Schweiz auch zu Berlin!
Beginnen wir bei alledem und umso zuversichtlicher, als die Pointe
unserer pessimistischen Klagen eben auch das Deutsche Reich sein wird.
(Paris), nach den Verheerungen der Kommune, habe ich nicht wiedergesehen.
Aber das alte Paris steht mir in seinem innern Straßengewühl, wenn es
gerade geregnet hatte oder noch das Straßenpflaster vom Morgentau
beschlagen war und Menschen und fabelhaft geformte Gefährte aller Art
sich zum Markte drängten, vollkommen als die alte Lutetia, die Kotstadt,
in der Erinnerung. Keineswegs aber findet dies statt von dem Bilde in
Paris in der mächtig ausgedehnten Peripherie des innern Kerns! Da ist es
auf Plätzen, Brücken, Verbindungswegen, Toren, Triumphbögen, selbst
Magazinen und Warenschuppen wie auf Bedürfnis nur nach dem Schönen
angelegt und konsequent durchgeführt!
Berlin dagegen (ich spreche gar nicht von der Schönheit Wiens) war die
Zentra1stadt eines kleinen Staates, der sich schon ein Jahrhundert lang
sehr fühlte. Er konnte zwar nicht wie Frankreich Millionen, den Schweiß
der Untertanen, auf seine Hauptstadt verwenden. Aber Herrscherlaune hat
auch an Berlin gearbeitet, geflickt, herumgeputzt, hat Wälder abgehauen
und kommandiert: Hier wird jetzt ein neues Stadtviertel angelegt! Alle
Mittel schienen dafür gerecht. Ja das Prinz Albrechtsche Palais in der
Wilhelmstraße entstand geradezu aus einem--verweigerten Heiratskonsense
des Despoten, den man gewöhnlich Friedrich den Großen nennt. Kolonisten
mußten nach dem Lineal bauen. Man sieht denn auch noch jetzt, teilweise
einstöckig, diese Hütten neben den neuerdings errichteten
Prachtzinshäusern auf der Friedrichstadt. Kurzum, es haben seit dem
Großen Kurfürsten immer in Berlin leitende Ideen gewartet, um Berlin zu
einem, dem Ehrgeiz der Hohenzollern würdigen Schemel an ihrem Throne zu
machen. Schlüter, Eosander von Goethe, Knobelsdorff mußten sich an
Holland, Versailles und Rom Muster nehmen. Potsdam schadete dann später
Berlin. Friedrich der Große, Egoist wie er war, baute lieber Paläste für
sich ganz allein. Die Kirchen, die er auf dem Gensdarmenmarkt erbaute,
waren gleichsam nur "ungern gegeben", halb Marzipan, halb Kommißbrot.
Friedrich Wilhelm III. hatte Schinkels Begeisterung neben sich. Der
Monarch war in Paris und hatte sich in Petersburg verliebt, in
Petersburg, wo man auf die kuppelreichen Kirchen und langen prachtvollen
Straßenprospekte stolz sein durfte. Seinen Sohn würde die Geschichte am
besten Friedrich Wilhelm IV., den Kirchenerbauer nennen. Der gekrönte
Romantiker hat um seine zahlreichen neuen Berliner Kirchen herum sogar
trauliche Stellen geschaffen, die uns an San Ambrogio in Mailand, an eine
entlegene Votivkirche Roms erinnern könnten. Seitdem stockt die
Verschönerung Berlins. Die konstitutionellen Regenten tun nicht mehr, als
was ihre nächste Schuldigkeit ist. Was sich neuerdings an Verschönerung
Berlins geregt hat, wird überholt durch die riesenmäßig gesteigerte
Privat-Bauwut, deren Konsequenz denn auch der häßlichste Abbruch, Schutt,
ein trauriger Anblick wie Straßburg nach der Belagerung geworden ist.
Großartigkeit und in ihrer Art auch--Schönheit liegt in der Avenue vom
Brandenburger Tor bis zum Schloß; aber man könnte noch hundert Jahre so
fortbauen wie jetzt und brächte doch nicht den Eindruck permanenter
Unschönheit von Berlin fort, wenn nicht das Auge im großen und ganzen, in
der Nähe und in der Perspektive, durch einen größeren diktatorisch
befohlenen Schönheitskultus befriedigt wird. Freilich liegt hier der
Schaden. Berlin ist eine demokratische Stadt! Nirgends macht sich das
kleine Gewerbe so ausgedehnt geltend, wie hier! Eine Straße, wo nur
allein elegante Welt sichtbar würde, gibt es in ganz Berlin nicht!
Überall stemmt sich der vom Bau kommende Arbeiter, der Marktkorb der
Köchin, das Produkt des Handwerkers oder die Bürde des Lastträgers
zwischen die Eleganz hindurch. Das nur aus wenigen Fuß Breite bestehende
Granit-Trottoir, das vor jedem Hause gelegt ist, läßt einen am anderen
dicht vorüberstreifen. Der Gebildete kommt nirgends souverän auf, selbst
auf dem Asphalt-Trottoir der Linden nicht. Schon freiwillig weicht er den
Volksgestalten, die sich hier so frei bewegen, wie die Helden der Börse
oder des Kriegsheeres, aus, nur um eine Szene zu vermeiden. Fast jedes
neue Prachtzinshaus hat Kellergeschosse zu Kneipen, zu Lebensmittel-
Betriebslokalen, zu Werkstätten. So ist ganz Berlin durchzogen von einem
immerdar werkeltätigen Eindruck. Vorstadt und innere Stadt, die überall
geschieden sind, sind in Berlin eine Gesamt-Anschauung in eins.
Die Partie vom Brandenburger Tore bis zum Schloß ist ein Prospekt, der,
wir wiederholen es, seinesgleichen sucht. Bewundernd wird der Fremde bis
zum Dom gelangen und sich von dem Totaleindruck aufs mächtigste gehoben
fühlen. Selbst der Eindruck des Concordienplatzes und seiner Umgebung in
Paris möchte dagegen zurückstehen. Plötzlich aber am Dome sieht der
Wanderer eine kleine Brücke, die in die innere Stadt führt. Noch eben
denkt er an Paris, an die vom Quai des Louvre aus so zierlich
geschwungenen Brückchen, die über die Seine führen. Welcher Anblick wird
ihm aber hier in Berlin zuteil! Eine Holzbrücke, früher um sechs Pfennige
passierbar und jetzt dem Publikum freigegeben und schwerlich auf
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