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Berlin — Panorama einer Weltstadt - 04

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  einzurücken. Vor der Auswahl von jungen Leuten, die Eltern und Angehörige
  "um Gotteswillen" der Verwaltung zu Gebote stellen, kann diese sich kaum
  retten. Daher auf der Szene die überraschendste Massenentfaltung. Die
  Kunst der Beleuchtung, der Glanz der Kostüme, der Geschmack der
  Dekorationen ist aufs höchste getrieben. Da steigen Feentempel aus
  der Erde, da senken sich Wolkenthrone mit allen Heerscharen des
  orientalischen Himmels nieder, da leuchten und blitzen unterirdische
  Grotten von Ede1steinen, da sprudeln natürliche Springbrunnen im
  Mondenschein und fallen, vielfach gebrochen, in Bassins herab, an deren
  Rändern die lieblichsten Gestalten schlummern. Jede Demonstration der
  Szene ist ganz und vol1ständig. Nirgendwo erblickt man die Hilfsmittel
  der bloßen Andeutung, die an andern Bühnen die Illusion vorzugsweise in
  die ergänzende Phantasie der Zuschauer legt; hier ist die Schere der
  Ökonomie verbannt, die aus Amazonenröcken von heute für morgen Pantalons
  für Verschnittene macht. Hier fangen alle Schöpfungen immer wieder von
  vorn an. Kein Kostümier und Dekorateur ist an die Wiederaufstutzung alter
  Vorräte gewiesen; hier regieren jene Warenmagazine, wo es immer wieder
  neue Seide, neuen Sammet und für die geschmackvol1sten Maler neue
  Leinwand gibt.
  Ein Ballett in Berlin zu sehen wie "Satanella" ist in vieler Hinsicht
  lehrreich. Dem Ästhetiker macht vielleicht die Grazie und herausfordernde
  Keckheit z.B. der jungen Marie Taglioni eine besondere Freude, aber die
  Vorstellung im großen und ganzen mit allem, was dazu auch von Seiten des
  Publikums gehört, ist kulturgeschichtlich merkwürdig. Dieser Marie
  Taglioni sollte man eine Denktafel von Marmor mit goldenen Buchstaben und
  mitten in Berlin aufstellen. Sie tanzt die Hölle, aber sie ist der wahre
  Himmel des Publikums; sie tanzt die Lüge, aber sie verdient ein Standbild
  als Göttin der Wahrheit. Denn man denke sich nur dies junge, reizende,
  übermütige Mädchen mit ihren beiden Teufelshörnchen an der Stirn, mit dem
  durchsichtigen Trikot, mit den allerliebsten behenden Füßchen, mit den
  tausend Schelmereien und Neckereien der Koketterie, wie nimmt sie sich
  unter den ehrwürdigen Tatsachen des gegenwärtigen Berlins aus! Dieser
  kleine Teufel da, im rosaseidenen, kurzen Flatterröckchen, ist sie etwa
  die in der Vorstadt tanzende Pepita? Nein, sie ist das enfant chérie der
  Berliner Balletts, und das Berliner Ballett ist das enfant chérie der
  Stadt, des Hofs, ist die Kehrseite der frommen Medaillen, die hier auf
  der Brust der Heuchelei von Tausenden getragen werden. Büchsel,
  Krummacher, Bethanien, Diakonissen, Campo-Santo, Sonntagsfeier, Innere
  Mission--was ist das alles gegen einen Sonntagabend, wenn Berlin in
  "Satanella" seine wahre Physiognomie zeigt! Die Prinzen und Prinzessinnen
  sind anwesend. Hinten auf der Szene funkelt ein Ordensstern neben dem
  andern, jede Kulisse ist von einem Prinzen besetzt, der sich mit den
  kleinen Teufelchen des Corps de ballet unterhält. Der erste Rang zeigt
  die Generale und Minister, das Parkett den reichen Bürgerstand, die
  Tribüne und der zweite Rang die Fremden, die den Geist der Residenz in
  der Provinz verkünden werden, die obern Regionen beherbergen die
  arbeitenden Mittelklassen und selbst die halbe Armut, der man sonst nur
  Traktätchen in die Hand gibt, hat hier das Frivo1ste aller Textbücher
  mühsam nachzustudieren, um die stumme Handlung der Szene zu verstehen.
  Welche Wahrheit deckst du doch auf, du echte Berliner, in der
  Treibhauswärme der speziel1sten, königlich preußischen Haus-Traditionen
  großgezogene Pflanze, Marie Taglioni geheißen! O so werft doch, ihr
  besternten Herren, eure Masken ab! Verratet doch nur, daß euer
  Privatglaube nichts mehr liebt als die Götter Griechenlands und daß nicht
  etwa hier der Kultus des Schönen, sondern draußen euer offizielles System
  eine Komödie ist.
  Satanella verführt einen jungen Studenten, dem das Repetieren seiner
  Collegia bei Stahl und Keller zu langweilig scheint. Er hat eine
  Verlobte, die vielleicht Geibel und "Amaranth" liest, aber niemand wird
  zweifelhaft sein, daß der junge, künftige Referendar besser tut, sich an
  Heinrich Heine, an die schöne Loreley und die Taglioni zu halten. Wie
  kalt und nüchtern ist auch die Liebe eines Fräulein Forti gegen die Liebe
  einer Satanella! Es geht mit letzterer allerdings bergab und geradewegs
  in die Hölle, aber welcher Zuschauer wird der Narr sein und nicht
  einsehen, daß der Satan den jungen Lebemann nur anstandshalber holt! Kann
  das eine echte Hölle sein, in der sogar schon kleine Kinder tanzen, schon
  kleine Kinder mit Satanshörnern umherspringen und, wie von Selma Bloch
  geschieht, ein recht widerliches Solo tanzen? Kann das die echte Hölle
  sein, deren Vorhof die wunderbarste Mondscheinnacht von Gropius mit dem
  reizendsten Château d'eau und der stillschlummernden antiken Marmorwelt
  ist? Wird irgend ein Vernünftiger einräumen, daß die Konsistorialräte
  Recht haben, wenn sie die Venus von Milo eine schöne "Teufelinne", die
  Antiken des Vatikan überhaupt, wie Tholuck getan, "schöne Götzen" nennen?
  Verwandelt sich all' diese Lust und Liebe, all' diese Freude und
  Behaglichkeit nicht vielmehr nur rein "anstandshalber", d.h. um dem
  Vorurteil zu genügen, in Pech und Schwefel, und wird irgend jemand eine
  solche Vorstellung, wo besternte Prinzen jede Attitüde der
  Solotänzerinnen beklatschen, mit einer andern Meinung verlassen als der:
  Ich fühle wohl, es muß einen Mittelweg zwischen Elisabeth Fry und Marie
  Taglioni, einen Mittelweg zwischen Bethanien und dem Opernhause, einen
  Mittelweg zwischen den Konzerten des Domchors und Satanella geben? Diese
  Berliner Ballettabende wecken einen ebenso großen Abscheu vor der
  mätressenhaften Sinnlichkeit, die durch sie hindurchblickt, wie vor der
  Kasteiung des Fleisches in der neuen Lehre vom Gefangengeben der Vernunft
  und dem fashionablen Büßertum, dessen neupreußische Früchte wir
  hinlänglich kennen.
  Beide Extreme gehen in Berlin auf eine erschreckende Art nebeneinander.
  Sie gehen nicht etwa getrennt nebeneinander, sondern im Durchschnitt in
  denselben Personen. Die Heuchelei und die Rücksicht auf Karriere mietet
  sich einen "Stuhl" in der Matthäuskirche, nur damit an dem Schilde
  desselben zu lesen ist: "Herr Assessor N. N." und die stille Sehnsucht
  des wahren innern Menschen ist hier doch allein--der Genuß. Dem Genuß
  bauen auch andere Städte Altäre; die buntesten, mit Rosen geschmückten
  Altäre baut z.B. Wien. Aber Berlin ergibt sich immer mehr einer Form des
  Genusses, die nur ihm ganz allein angehört. Es ist dies die Genußsucht
  eines Fremden, der in vierzehn Tagen durch seine gefüllte Börse alles
  bezahlt, was man in einer Residenz, die er vielleicht in Jahren nicht
  wiedersieht, für Geld bekommen kann. Es ist die Genußsucht des
  Gutsbesitzers, der seine Wolle in die Stadt fährt und sich mit vierzehn
  Tagen Ausgelassenheit für ein Jahr der Entbehrung auf seiner Scholle
  entschädigt. Dies Berliner Lecken und Schlecken hat die Bevölkerung so
  angesteckt, daß man mit Austernschalen die Straßen pflastern könnte.
  Wohlleben und Vergnügen ist die Devise des hiesigen Vegetierens geworden,
  nirgend wird man z. B. den Begriff "Bowle machen" jetzt so schleckerhaft
  ausgesprochen finden. Die Betriebsamkeit wird durch den Luxus wohl eine
  Weile gestachelt werden, an Großstädtigkeit der Unternehmungen fehlt es
  nicht; aber wenn die natürlichen Kräfte versagen, tritt das Raffinement
  ein und das Raffinement des Verkehrs, gewöhnlich Schwindel genannt, soll
  hier in einem Grade herrschen, der keine Grenzen mehr kennt. Denn was ist
  die Grenze, die man Bankrott nennt? Aus Nichts werden die glänzendsten
  Unternehmungen hervorgerufen. Mit einem Besitze von einigen tausend
  Talern mutet man sich die Stellung eines Kapitalisten zu. Der Kredit gibt
  nicht dem Redlichen mehr Vorschub, sondern dem Mutigen. Die
  Entschlossenheit des industriellen Waghalses leistet das Unglaublichste.
  Wo die größten Spiegel glänzen, wo die goldenen Rahmen tief bis zur Erde
  niedergehen, wo in den Schaufenstern der Butiken die fabelhafteste
  Scheinfülle des Vorrats mit dem Geschmack der Anordnung zu wetteifern
  scheint, kann man gewiß sein, auf hundert Fälle bei neunzig nur eine
  Grundlage anzutreffen von eitel Luft und windiger Leere.
  Es ist mannigfach schon eine Aufgabe der neuern Poesie, der sozialen
  Romantik geworden, den Lebenswirren, die sich aus solchen Zuständen
  ergeben müssen, nachzuspüren. Der Totenwagen rasselt still und ernst
  durch dies glänzende Gewühl. Rauschende Bälle, in der Faschingsnacht ein
  Wagendonner bis zum frühen Morgen und die Chronik der Verbrechen, die
  Statistik der Selbstmorde gibt dem heitern Gemälde doch eine dämonische
  Beleuchtung. Erschütternd war mir z.B. die Nachricht, daß der Philosoph
  Beneke von der Universität plötzlich vermißt wurde und wahrscheinlich
  sich entleibt hat. Erst jetzt kam zur Sprache, daß dieser redliche
  Forscher, der sich in der Erfahrungsseelenkunde einen Namen erworben und
  besonders auf die neuere Pädagogik einen nützlichen Einfluß gehabt hat,
  seit länger als zwanzig Jahren nicht endlich ordentlicher Professor
  werden konnte und sich mit einem jährlichen Gehalte von 200 Talern
  begnügen mußte! Zweihundert Taler jährlich für einen Denker, während es
  hier Geistliche gibt, die es auf jährlich 5000 Taler bringen! Beneke war
  ein Opfer des Ehrtriebes, der hier noch zuweilen einen edeln Menschen
  ergreift, nicht auf der allgemeinen Bahn des Schwindels gehen zu wollen.
  Des Mannes Erscheinen war einfach, war fast pedantisch. Er hatte vor
  zwanzig Jahren die etwas steifen Manieren eines Göttinger Professors nach
  Berlin gebracht. Seine Vorträge waren etwas ängstlich, seine Perioden
  allzu gewissenhaft, sein System knüpfte wieder an Hume und Kant an, er
  ging über die endlichen Bedingungen unsers Denkens nicht tollkühn in die
  Unendlichkeit; was sind Kennzeichen solcher altbackenen Solidität in
  einer Stadt wie Berlin, wo nur die glänzende Phrase, der saillante Witz
  und Esprit, das kecke Paradoxon und jener doktrinäre Schwindel etwas
  gilt, den Hegel aufbrachte, Hegel, der jahrelang die trivia1sten Köpfe,
  die nur in seiner Tonart zu reden wußten oder die es verstanden, ihrem
  sogenannten Denken eine praktische Anwendung auf beliebte Religions- und
  Staatsauffassungen zu geben, zu ordentlichen Professoren befördern
  konnte! Hamlet ist auch darin das große und Shakespearen auf den Knien zu
  dankende Vorbild aller mit der Welt verfallenen Geistesfreiheit, daß er
  auf des Königs Frage, wie es ihm ginge, antwortet: "Ich leide am Mangel
  der Beförderung."
  --Wer ertrüge Den Übermut der Ämter und den Kummer Den Unwert
  (schweigendem Verdienst erweist!)
  
  
  Neues Museum--Schloßkapelle--Bethanien (1854)
  
  Eine derjenigen Schöpfungen des Königs, in denen man unbehindert von
  irgendeiner drückenden Nebenempfindung atmet, ist und bleibt das Neue
  Museum. Der Fremde wird es bei jedem Besuche wiederzusehen sich beeilen,
  er wird sich der Fortschritte freuen, die die Vollendung des Ganzen
  inzwischen gemacht hat, er wird sich in diesen Räumen aller lästigen
  Beziehungen auf lokale Absichten und Einbildungen erwehrt fühlen und im
  Zusammenhange wissen nur mit jenen allgemeinen deutschen
  Kunstbestrebungen, die uns die Schönheit und Pracht von München, die
  Ausschmückung des königlichen Schlosses in Dresden, die neuen Pläne für
  Weimar und Eisenach, unsere neuen Denkmäler, Kunstausstellungen,
  Kunstvereine und den Aufschwung unserer Akademien geschaffen haben. Das
  Neue Museum liegt in einem versteckten, zur Stunde noch beengten,
  unfreundlichen Winkel der Stadt, aber es ist die traulichste Stätte der
  Begrüßung, das heiterste Stelldichein des Geschmacks und der prüfenden,
  immer mehr wachsenden Neugier der Einheimischen und der Fremden, die
  sogleich hierher eilen. Es entwickelt sich langsam, aber reich und
  gefällig. Es entwickelt sich unter Auffassungen, die uns wahlverwandt
  sind. Wir sind in Italien und in München vorbereitet auf das, was wir
  hier wiederfinden. Diese Räume hat mit den Eingebungen seines Genius
  vorzugsweise eine große, freie Künstlernatur zu beleben, ein Dichter mit
  dem Pinsel, ein Denker nach Voraussetzungen, die nicht aus dem märkischen
  Sande stammen. So stört uns denn auch hier kein beliebter byzantinischer
  Schwu1st, keine russischen Pferdebändiger, oder Athleten oder Amazonen
  erfüllen uns, während wir an Athen denken wollen, mit lakedämonischen
  Vorstellungen; selbst die hier in Berlin überall aushängende Devise:
  "Nach einem Schinkelschen Entwurf", stört uns nicht. Man muß Schinkel
  einen erfindungsreichen und sinnigen Formendichter nennen, aber er schuf
  doch wahrlich zu viel auf dem Papiere, er zeichnete zu viel abends bei
  der Lampe; es waren geniale Studien und Ideen, die er ersann von
  Palastentwürfen an bis zu Verzierungen von Feilnerschen Öfen; aber es
  fehlte ihm doch wohl eine gewisse Kraft, Reinheit und Einfachheit
  des Stils....
  Eine zweite große Schöpfung des Königs ist die (Kuppeldachkapelle des
  Schlosses). Sie hat eine halbe Million gekostet und ist unstreitig eine
  Zierde des Schlosses nach dem ihm eigentümlichen Geschmack, wenn auch
  eben keine Bereicherung der Kunst. Der Baumeister Schadow errichtete die
  gewaltige Wölbung auf einem Platze, der bisher im Schlosse unbeachtet
  gewesen war, verfallene Wasserwerke enthielt, altem Gerümpel, freilich
  aber auch den vortrefflichen Schlüterschen Basreliefs, die jetzt die
  Treppe zieren, als Aufbewahrungsort diente. Die Spannung des mehr ovalen
  als runden Bogens ist meisterhaft ausgeführt. Einen überraschenden
  Eindruck wird der Eintritt in diesen Tempel jedem gewähren, der sich erst
  im Weißen Saale an den schönen Formen der Rauchschen Viktoria geweidet
  hat und zu ihm dann auf Stiegen emporsteigt, die mit lebenden Blumen
  geschmückt sind und mit Kronleuchtern, die nur etwas zu salonmäßig durch
  Milchglasglocken ihre Flammen dämpfen sollen. Man erwartet in der Kapelle
  weder diese Größe noch diese Pracht. Bei längerer Betrachtung schwindet
  freilich der erste Eindruck. Das steinerne, mit Marmor und Bildern auf
  Goldgrund überladene Gebäude wird dem Auge kälter und kälter. Der Altar,
  wenn auch mit einem aus den kostbarsten Ede1steinen zusammengesetzten
  Kreuze geziert, die Kanzel, der Fußboden, alles erscheint dann plötzlich
  so nur für die Schwüle der südlichen Luft berechnet, daß man das
  lebendige Wort Gottes hier weder recht innerlich vorgetragen noch recht
  innerlich empfangen sich denken kann. Das Auge ist zerstreut durch das
  Spiel aller hier zur Verzierung der Wände aufgebrachten Marmorarten. Da
  gibt es keine Farbe, keine Zeichnung des kostbarsten Bausteins, von der
  nicht eine Platte sich hier vorfände wie in einer mineralogischen
  Sammlung. Zu dieser durch die Steine hervorgerufenen Unruhe gesellt sich
  die Ungleichartigkeit der Bilder. Sie scheinen alle nach dem Gedanken
  zusammengestellt, die Förderer der Religion und des Christentums zu
  feiern. Aber auch dies ist ein Galerie- oder Museumsgedanke, kein reiner
  Kirchengedanke. Huß, Luther, die Kurfürsten von Brandenburg stehen
  vis-à-vis den Patriarchen und den Evangelisten. Da muß es an der einigen
  Stimmung fehlen, die Andacht hebt sich nicht auf reinen Schwingen, man
  kann in einem solchen Salon nur einen konventionellen Gottesdienst
  halten. Ach, und dieser Fanatismus für das konventionell Religiöse sitzt
  ja wie Mehltau auf all' unsern Geistesblüten! Man denkt nicht mehr, man
  prüft nicht mehr, man übt Religion nur um der Religion willen. Man ehrt
  sie um ihrer Ehrwürdigkeit, man ehrt sie wie man Eltern ehrt, deren
  graues Haar unsere Kritik über die Schwächen, die sie besitzen,
  entwaffnen soll. Das ist der Standpunkt der Salon-Religion. Man will
  nicht prüfen, man will nicht forschen, man umrahmt mit Gold und Ede1stein
  die Tradition, die man auf sich beruhen läßt. Man schlägt sein
  rauschendes Seidenkleid in künstlerische Falten, wenn man im Gebetstuhl
  niederkniet; man schlägt sein goldenes Gebetbuch auf, liest halb
  gedankenlos, was alte Zeiten dachten, denkt vielleicht mit Rührung dieser
  Zeiten, wo der Glaube von so vielem Blute mußte besiegelt werden, gesteht
  wohl auch seine eigenen sündigen Einfälle und Neigungen ein, gibt sich
  den Klängen einer vom Chor einfallenden Musik mit einigen quellenden
  Tränen der Nervenschwäche und Rührung hin und verläßt die Stätte der
  Andacht mit dem Gefühl, doch dem Alten Rechnung getragen, doch eine
  Demonstration gegeben zu haben gegen die anstößige und in allen Stücken
  gefährliche neue Welt! Das ist die Religions-Mode des Tags. Für diese
  Richtung eines vornehmen Dilettierens auf Religion kann man sich keinen
  zweckentsprechendern Tempel denken als die neue Berliner Schloßkapelle.
  Sie erleichtert vollkommen die manchmal auch wohl lästig werdenden
  Rücksichten einer solchen Art von Pietät.
  Weitentlegen vom Geräusch der Stadt und nur leider in einer zu kahlen,
  baumlosen Gegend liegt Bethanien, die seit einigen Jahren errichtete
  Diakonissenanstalt. Man fährt an einer neuen, im Bau begriffenen
  katholischen Kirche vorüber und bewundert die großartige Anlage dieses
  vielbesprochenen Krankenhauses, das sich bekanntlich hoher Protektion zu
  erfreuen hat. Dennoch soll die Stiftung eine städtische sein und ab und
  zu wird man von Bitten in den Zeitungen überrascht, die Bethanien zu
  unterstützen auffordern, Bitten, die wiederum dies Institut fast wie ein
  privates hinstellen. Zweihundert Kranke ist die gewöhnliche Zahl, für
  welche die nötigen Einrichtungen vorhanden sind. Dem fast zu luxuriös
  gespendeten Raume nach könnten noch einmal soviel untergebracht werden.
  Man hat hier ein Vorhaus, eine Kirche, einen Speisesaal, Wohnungen der
  Diakonissen und Korridore von einer Ausdehnung, die fast den Glauben
  erweckt, als wäre die nächste Bestimmung der Anstalt die, eine Art
  Pensionat, oder Stift oder Kloster zu sein, das sich nebenbei mit
  Krankenpflege beschäftigt. Ohne Zweifel ist auch die Anlage des
  Unternehmens auf eine ähnliche Voraussetzung begründet. Bethanien soll
  eine Demonstration der werktätigen christlichen Liebe sein; die Kranken,
  mag auch für sie noch so vortrefflich gesorgt werden, nehmen
  gewissermaßen die zweite Stelle ein.
  Die Oberin der Diakonissen ist ein Fräulein von Rantzau. Unter ihr stehen
  etwa zwanzig "ordinierte" Diakonissen und eine vielleicht gleiche Anzahl
  von Schwestern, die erst in der Vorbereitung sind. Einige der ordinierten
  sind auf Reisen begriffen, um auswärts ähnliche Anstalten begründen zu
  helfen. Die Tracht der größtenteils jungen und dem gebildeten Stande
  angehörigen Damen ist blau, mit einem Häubchen und einer weißen, über die
  Schulter gehenden Schürze. Wie gründliche Vorkenntnisse hier
  vorausgesetzt werden, ersah ich in der Apotheke, die von zwei Diakonissen
  allein bedient wird. Auch ein Lehrzimmer findet sich zu theoretischen
  Anleitungen. Die groben Arbeiten verrichten gemietete Mägde, die im
  Souterrain an den höchst entsprechenden praktischen Waschhaus- und
  Küchenvorrichtungen beschäftigt sind. Auch Männer fehlen nicht. Die
  Diakonissen sind überhaupt mehr bei den weiblichen Kranken beschäftigt
  und müssen die schwerere Dienstleistung, die besonders im Heben und
  Umbetten der Kranken besteht, dem stärkern Geschlechte überlassen. Man
  bekommt auch hierdurch wieder die Vorstellung von einem gewissen Luxus,
  der im Charakter der ganzen Anstalt zu liegen scheint. Man kann den damit
  verbundenen Tendenzbeigeschmack nicht gut offen bekämpfen, da unfehlbar
  ein zwangloses Behagen in der Nähe von Kranken und Sterbenden die ganze
  Stimmung unsers Herzens für sich hat. Die Sauberkeit der Erhaltung, die
  reine Luft, das Gefühl von Komfort und Eleganz kommt doch auch den
  Kranken selbst zugute.
  Einen Freund der Diakonissenanstalten frug ich: Aus welchem Geiste
  erklären diese Frauen und Mädchen sich bereit, den Leidenden mit ihrer
  Pflege beizustehen? Er erwiderte: Um der Liebe Gottes willen. Unstreitig
  bedarf der Mensch, um sich zu seltenen Taten anzuspornen, des Hinblicks
  auf einen höhern sittlichen Zweck. Dennoch hätt' ich lieber gehört: Diese
  Institution wäre von der Menschenliebe hervorgerufen. Ich glaube, der Ton
  würde inniger, die Haltung weniger kaltvornehm sein. Ein Zusammenhalt bei
  gemeinschaftlichem Wirken ist nötig, eine gleiche Stimmung muß alle
  verbinden. Ob aber dazu eine Kirche, ob Gesang und Gebet beim Essen, ob
  das Herrnhuter, in "Gnadau" gedruckte Liederbuch, das ich auf dem Piano
  aufgeschlagen fand, dazu gehört, möcht' ich bezweifeln. Ein anderes ist
  der katholische Kultus von Barmherzigen Schwestern, die sich für
  Lebenszeit diesem Berufe hingeben und von der Welt für immer getrennt
  haben; ein anderes diese vorübergehende Wirksamkeit einer Diakonissin,
  die nach vorhergegangener rechtzeitiger Anzeige ihren Beruf wieder
  aufgeben und immer noch eine Frau Professorin oder Assessorin werden
  kann. Für einen solchen Beruf reicht Herzensgüte, Menschenliebe und eine,
  durch äußere Umstände hervorgerufene Neigung einen so schwierigen Platz
  anzutreten, vollkommen aus. Und sollte denn wirklich im 19. Jahrhundert
  die Bildung der Gesellschaft, die Humanität der Gesinnung, die Liebe zum
  Gemeinwohl, die Sorge für die gemeinschaftlichen Glieder einer Stadt,
  eines Staats und einer Nation noch nicht so weit als werktätiges
  (Prinzip) durchgedrungen sein, daß man, um hier dreißig Frauen in einem
  Geiste der Hingebung und Liebe zu verbinden, nötig hat, nach dem Gnadauer
  Herrnhuter Gesangbuche zu greifen?
  Man wird ein jedes Krankenhaus mit Rührung verlassen. Auch in Bethanien
  sieht man des Wehmütigen genug. Ich trat in ein Krankenzimmer von
  Kindern. Abgezehrte oder aufgedunsene kleine Gestalten lagen in ihren
  Bettchen und spielten auf einem vor ihnen aufgelegten Brette mit
  bleiernen Soldaten und hölzernen Häuserchen. Ein blasser Knabe, der an
  der Zehrung litt und vielleicht in einigen Wochen stirbt, reichte
  freundlich grüßend die Hand. Einen andern hatt' ich gut auf den
  Sonnenschein, der lachend in die Fenster fiel, auf die Lerchen, die schon
  draußen wirbelten, auf ein baldiges freies Tummeln im erwachenden
  Frühling vertrösten, der Kleine litt am Rückenmark und wird nie wieder
  gehen können. Ein Krankenhausbesuch ist eine Lehre, die nach "Satanella"
  und Aladins "Wunderlampe" sehr nützlich, sehr heilsam sein kann. Aber
  Bethanien verläßt man doch mit dem Gefühl, daß hier, wie in unserer Zeit
  überhaupt, noch mehr Menschen krank sind, als die da offen eingestehen,
  des Arztes bedürftig zu sein.
  
  
  Zur Ästhetik des Häßlichen (1873)
  
  Himmel! Berlin sei unschön? höre ich einen nationalliberalen Enthusiasten
  ausrufen, wie kann man einen so unzeitgemäßen Begriff aufstellen! Sie
  machen sich ja Treitschke, Wehrenpfennig und wen nicht alles zu
  unerbittlichen Feinden! Jetzt, wo in Berlin alles vollendet, groß, selbst
  die Zukunftsgärten von Steglitz und Lichterfelde arkadisch sein müssen!
  Die Opportunität, die große deutsche Reichs- und deutsche Zentralisations-
  frage bedingt den Satz: Berlin ist die Stadt der Städte! Die Stadt auch
  der Schönheit! Höchstens im Sommer, wenn der Staub auch in Leipzig zu arg
  wird und die Sauergurkenzeit eintritt, dann gehört ja Graubünden und die
  Schweiz auch zu Berlin!
  Beginnen wir bei alledem und umso zuversichtlicher, als die Pointe
  unserer pessimistischen Klagen eben auch das Deutsche Reich sein wird.
  (Paris), nach den Verheerungen der Kommune, habe ich nicht wiedergesehen.
  Aber das alte Paris steht mir in seinem innern Straßengewühl, wenn es
  gerade geregnet hatte oder noch das Straßenpflaster vom Morgentau
  beschlagen war und Menschen und fabelhaft geformte Gefährte aller Art
  sich zum Markte drängten, vollkommen als die alte Lutetia, die Kotstadt,
  in der Erinnerung. Keineswegs aber findet dies statt von dem Bilde in
  Paris in der mächtig ausgedehnten Peripherie des innern Kerns! Da ist es
  auf Plätzen, Brücken, Verbindungswegen, Toren, Triumphbögen, selbst
  Magazinen und Warenschuppen wie auf Bedürfnis nur nach dem Schönen
  angelegt und konsequent durchgeführt!
  Berlin dagegen (ich spreche gar nicht von der Schönheit Wiens) war die
  Zentra1stadt eines kleinen Staates, der sich schon ein Jahrhundert lang
  sehr fühlte. Er konnte zwar nicht wie Frankreich Millionen, den Schweiß
  der Untertanen, auf seine Hauptstadt verwenden. Aber Herrscherlaune hat
  auch an Berlin gearbeitet, geflickt, herumgeputzt, hat Wälder abgehauen
  und kommandiert: Hier wird jetzt ein neues Stadtviertel angelegt! Alle
  Mittel schienen dafür gerecht. Ja das Prinz Albrechtsche Palais in der
  Wilhelmstraße entstand geradezu aus einem--verweigerten Heiratskonsense
  des Despoten, den man gewöhnlich Friedrich den Großen nennt. Kolonisten
  mußten nach dem Lineal bauen. Man sieht denn auch noch jetzt, teilweise
  einstöckig, diese Hütten neben den neuerdings errichteten
  Prachtzinshäusern auf der Friedrichstadt. Kurzum, es haben seit dem
  Großen Kurfürsten immer in Berlin leitende Ideen gewartet, um Berlin zu
  einem, dem Ehrgeiz der Hohenzollern würdigen Schemel an ihrem Throne zu
  machen. Schlüter, Eosander von Goethe, Knobelsdorff mußten sich an
  Holland, Versailles und Rom Muster nehmen. Potsdam schadete dann später
  Berlin. Friedrich der Große, Egoist wie er war, baute lieber Paläste für
  sich ganz allein. Die Kirchen, die er auf dem Gensdarmenmarkt erbaute,
  waren gleichsam nur "ungern gegeben", halb Marzipan, halb Kommißbrot.
  Friedrich Wilhelm III. hatte Schinkels Begeisterung neben sich. Der
  Monarch war in Paris und hatte sich in Petersburg verliebt, in
  Petersburg, wo man auf die kuppelreichen Kirchen und langen prachtvollen
  Straßenprospekte stolz sein durfte. Seinen Sohn würde die Geschichte am
  besten Friedrich Wilhelm IV., den Kirchenerbauer nennen. Der gekrönte
  Romantiker hat um seine zahlreichen neuen Berliner Kirchen herum sogar
  trauliche Stellen geschaffen, die uns an San Ambrogio in Mailand, an eine
  entlegene Votivkirche Roms erinnern könnten. Seitdem stockt die
  Verschönerung Berlins. Die konstitutionellen Regenten tun nicht mehr, als
  was ihre nächste Schuldigkeit ist. Was sich neuerdings an Verschönerung
  Berlins geregt hat, wird überholt durch die riesenmäßig gesteigerte
  Privat-Bauwut, deren Konsequenz denn auch der häßlichste Abbruch, Schutt,
  ein trauriger Anblick wie Straßburg nach der Belagerung geworden ist.
  Großartigkeit und in ihrer Art auch--Schönheit liegt in der Avenue vom
  Brandenburger Tor bis zum Schloß; aber man könnte noch hundert Jahre so
  fortbauen wie jetzt und brächte doch nicht den Eindruck permanenter
  Unschönheit von Berlin fort, wenn nicht das Auge im großen und ganzen, in
  der Nähe und in der Perspektive, durch einen größeren diktatorisch
  befohlenen Schönheitskultus befriedigt wird. Freilich liegt hier der
  Schaden. Berlin ist eine demokratische Stadt! Nirgends macht sich das
  kleine Gewerbe so ausgedehnt geltend, wie hier! Eine Straße, wo nur
  allein elegante Welt sichtbar würde, gibt es in ganz Berlin nicht!
  Überall stemmt sich der vom Bau kommende Arbeiter, der Marktkorb der
  Köchin, das Produkt des Handwerkers oder die Bürde des Lastträgers
  zwischen die Eleganz hindurch. Das nur aus wenigen Fuß Breite bestehende
  Granit-Trottoir, das vor jedem Hause gelegt ist, läßt einen am anderen
  dicht vorüberstreifen. Der Gebildete kommt nirgends souverän auf, selbst
  auf dem Asphalt-Trottoir der Linden nicht. Schon freiwillig weicht er den
  Volksgestalten, die sich hier so frei bewegen, wie die Helden der Börse
  oder des Kriegsheeres, aus, nur um eine Szene zu vermeiden. Fast jedes
  neue Prachtzinshaus hat Kellergeschosse zu Kneipen, zu Lebensmittel-
  Betriebslokalen, zu Werkstätten. So ist ganz Berlin durchzogen von einem
  immerdar werkeltätigen Eindruck. Vorstadt und innere Stadt, die überall
  geschieden sind, sind in Berlin eine Gesamt-Anschauung in eins.
  Die Partie vom Brandenburger Tore bis zum Schloß ist ein Prospekt, der,
  wir wiederholen es, seinesgleichen sucht. Bewundernd wird der Fremde bis
  zum Dom gelangen und sich von dem Totaleindruck aufs mächtigste gehoben
  fühlen. Selbst der Eindruck des Concordienplatzes und seiner Umgebung in
  Paris möchte dagegen zurückstehen. Plötzlich aber am Dome sieht der
  Wanderer eine kleine Brücke, die in die innere Stadt führt. Noch eben
  denkt er an Paris, an die vom Quai des Louvre aus so zierlich
  geschwungenen Brückchen, die über die Seine führen. Welcher Anblick wird
  ihm aber hier in Berlin zuteil! Eine Holzbrücke, früher um sechs Pfennige
  passierbar und jetzt dem Publikum freigegeben und schwerlich auf
  
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