Berlin — Panorama einer Weltstadt - 09

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Dichter weinte. Denn war ihm eine andere Leiter zum Himmel im Augenblicke
sichtbar, als die, welche sich aus einem solchen zitternden Tone
aufbaute? Wo Wahrheit? Wo Licht, Leben, Freiheit? Wo alles, was man haben
muß, um ein großer Dichter zu sein? Wo der Haß eines Dante, rechter,
tiefer, ghibellinischer Haß; nicht jener Haß, den wir unglückliche Kinder
unsrer Zeit mit einer seltsamen Eiskruste unsrer von Natur weichen Herzen
affektieren? Wo die Blindheit eines Milton? Wo der Bette1stab Homers? Wo
die Situation eines Byron, geschaffen aus eignem Frevel und der
rikoschettierenden Rache des Himmels? Wo Wahrheit und ein großes,
stachelndes, unglückliches Leben? Ach, nichts als Lüge, als heitrer
Sonnenschein, reichliches Auskommen und der Bekanntschaft lästiger
Besuch. Der arme Heinrich liegt krank an der Miselsucht, wo ist des
Meyers Tochter, die sich für ihn opfre? Ich meine es treu mit diesen
Worten und fühle, welche tragische Wahrheit in ihm liegt. Sie drückt den
Schmerz unsrer poetischen Jugend aus, von der die altkluge öffentliche
Meinung verlangt, daß sie sich zusammenscharen solle und sich
aneinanderreihe, um das zu besingen, was die Weltgeschichte dichtet. So
fühl' ich es wenigstens: vielleicht dachte Stieglitz anders. Vielleicht
dachte er an seine Verse und abstrahierte vom Momente; vielleicht dachte
er an die Stellung in der Literaturgeschichte und an die Sonderbarkeit,
daß gerade Homer, Virgil, Ariost, Petrarca zu ihrer Zeit so viel gemacht
haben; vielleicht dachte er nur an die Persönlichkeit, wie sie zu allen
Zeiten unabhängig von den Zeiten, dichterisch sich ausgesprochen hat: er
fand, daß man eine großartige Staffage seines Schicksals haben müsse, um
originell zu sein in der Lyrik, erhaben im Drama, interessant im
Infanteristenausdruck, in der oratio pedestris; und lechzte nach einem
Ereignis, das sein Inneres revolutionieren sollte.
Töricht, wenn man Stieglitz den Vorwurf macht, daß er seine Gattin in
diesen Strudel hineinriß. Sie mußte wissen, was seine Stirn in Runzeln
zog, und mußte teilen, was an seinem Wesen nagte. Sie stand auf der Höhe,
sein Unglück zu begreifen. Sie fühlte wohl, daß dem Manne eine Staffage
seiner Begeisterung fehlte. Das gewöhnliche Geschwätz der Tanten, welche
ein Interdikt legen auf Annäherungen zwischen ihren Nichten und
sogenannten Schöngeistern, Kraftgenies und Demagogen, die Philisterei
großer und patriotischer Städte, welche ihren Töchtern nur angestellte
und offizielle Jünglinge zu lieben erlaubt und jedem Manne, der Bücher
macht, den Rat gibt, unbeweibt zu bleiben, der lieben Kinder, des Brotes
und auch der Poesie selbst wegen, welche ja besser gedeihe ohne
bürgerliche Rücksichten und Witwenkassen; diese ganze Misere kam nicht in
Charlottens Seele. Es ist ganz falsch, ihr lieben geschwätzigen
Robberspielerinnen und Ehefrauen aus der gemäßigten Zone, wenn ihr
glaubt, die närrische Doktorin Stieglitz, das beklagenswerte Wesen, habe
sich deshalb beendigt, um ihrem Manne Ruhe zu schaffen, aus dem Bereich
der vierwöchentlichen Wäsche zu bringen und ihm die Sorgen zu ersparen:
Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Daran dachte sie nicht, die
stolze Seele. Nicht Ruhe, sondern Verzweiflung gönnte sie ihrem Manne.
Sie gab sich als Opfer hin, nicht um ihn zu heilen, sondern in recht
tiefe Krankheit zu werfen. Sie wollte seiner Melancholie einen grellen,
blutroten, und ach! nur zu gewissen Grund geben. Sie wollte ihn von der
Lüge befreien und gab sich hin dem Tode, jung, liebreizend, mitten im
Winter gleichgültig gegen die Hoffnung des Frühlings, resigniert auf den
gewiß noch langen Faden der Parze, bereit, das fürchterliche Geheimnis
des Todes zu erproben, lange, lange vor dem Müssen, resigniert auf jede
Freude und Anmut, welche in der Zukunft noch für sie liegen konnte.
Die Tat ist geschehen. Das Grab ist still. Schnee bedeckt den Hügel. Die
Neugier ist befriedigt. Was soll man schließen? Ihr nichts: wir alle
nichts. Was soll Heinrich Stieglitz? Armer Überlebender! Du bist ein
unglücklicher Rest. Aber dein Unglück, das nun da ist, ist ohne Energie.
Dein Unglück überragt dich! Du bist ihm nicht gewachsen. Was wirst du
tun? Die ungeheure Tat besingen? Gewiß, ein Totenopfer steht dir an.
Dante hätte dieser Anregung nicht bedurft; Goethe gar nicht. Wil1st du
die Tatsache überwinden, sie aufnehmen in dein Blut und unterbringen in
den Zusammenhang deiner Gedanken, so mußt du so groß sein, wie dennoch
Dante und Goethe. Wirst du öffentlich von dem Opfer zehren, das im
Geheimen dir die Liebe gebracht hat? Ich beschwöre dich, bring' an das
Risiko deiner Verse nicht den gewaltigen Schmerz heran, den du
empfindest! In dem Ganzen liegt zu viel Demütigung, daß nicht das Ende
eine Komödie sein könnte. Wahrlich, Poesie ist nun hier nichts mehr; das
Motiv und die Staffage ist größer als das, was sich darauf bauen läßt. Es
ist nicht mehr die Welt, in der hier etwas Seltnes vorgegangen ist,
sondern ein enger Raum von vier Wänden, eine Bühne von drei Wänden; denn
es ist eine Tragödie. Aber noch ist die Tragödie nicht vol1ständig. Ein
Gedicht rundet sie nicht ab.


Diese Kritik gehört Bettinen (1843)
(Nil divini a me alienum puto.)

Wie man nach einem Mittagsmahle, wo man beizende Speisen zu sich genommen
hat, die uns austrocknen und einen brennenden, kaum zu ertragenden Durst
erzeugen, einen Trunk des reinsten, erquickendsten Quellwassers die
verschmachtende Kehle hinunterschüttet und mit Wollust die benetzte Lunge
zum Atmen ausdehnt, so erquickt, so erfrischt das neue Buch Bettinens. Im
Kristallglase ihrer stilistischen Schönheiten, mit all den wunderlichen,
eingeschliffenen Blumen ihrer gewohnten Darstellungsweise kredenzt die
anmutige Zauberin uns diesmal nicht etwa berauschenden Schaumreiz, der
uns die Welt im phantastischen Rosenlichte zeigen soll, nicht südliches
Rebenblut, durchduftet von den Blüten des Orients oder gewürzt von
zerstoßenen Perlen der Märchenwelt, sondern diesmal nur reine, frische
Quellflut, reines kristallhelles Naß vom Borne der Natur, aus der
Zisterne der gesunden Vernunft. O welche Labung, dies herrliche,
gedankenklare, gesinnungsfrische Buch! Nach so viel tausend gewürzten
Speisen, die uns die Philosophie dieser Tage aufgetischt hat, nach dieser
täglichen salzigen Heringskost unserer modernen Literatur, nach diesem
ewigen Sauerkohl unserer philisterhaften Denk-, Schreib-, Lese- und
Lebensmethode ein solches Buch! Ein solcher Trunk aus den Bergen, ein
volles Glas, wo die Felsen-Kühle mit tausend Tropfen die innere Wand
beschlägt! All ihr modernen Rheinweinpoeten und knallenden
Champagnersänger, das konntet ihr nicht geben, was Bettina gibt, Labung
und Kühlung, Erquickung und Stärkung, Trost für das Vergangene und Mut
für das Werdende!
Das neue Königsbuch dieser merkwürdigen Frau ist kein Buch in dem Sinne,
daß es wie herbstliches Geblätter eine Weile raschele und unterm
Winterschnee vergessen sein wird, sondern es ist ein Ereignis, eine Tat,
die weit über den Begriff eines Buches hinausfliegt. "Dies Buch gehört
dem König", es gehört der Welt. Es gehört der Geschichte an, wie Dantes
"Komödie", Macchiavellis "Fürst", wie Kants "Kritik der reinen Vernunft".
Es sagt Dinge, die noch niemand gesagt hat, die aber, weil sie von
Millionen gefühlt werden, gesagt werden mußten. Man wird diese Dinge
bestreiten, man wird des Frauenmundes, der sie ausspricht, spotten und
man bestreitet und spottet schon lustig in den Allgemeinen und gemeinen
Zeitungen unserer Tage. Aber bei Erscheinungen dieser Art heißt es, das
starke Ende kommt nach. Mit des kühnen Strauß' "Leben Jesu" ging es
ebenso. Vor dem wahrhaft Bedeutenden erschrickt man erst, ehe man vor ihm
niederfällt.
Wer noch nicht nach den beiden kleinen Bänden gegriffen hat, wer noch
schwankt, ob man ein Buch interessant finden soll, das man nicht wie
einen Roman in einem Zuge, sondern in den "bekannten sieben Zügen", wie
die Studenten sagen, trinken und allmählich in sich aufnehmen muß, dem
diene folgendes als Erläuterung: Das merkwürdige Buch trägt seinen
persischen Titel wirklich mit vollem Recht. Es ist keine Affektation in
diesem Titel. Dies Buch gehört wirklich dem König und mußte so heißen,
durfte nicht anders. Es ist ein Brief, ein offener Brief, an den König
geschrieben und geradezu an Friedrich Wilhelm IV. Es ist eine Adresse der
Zeit, von einem Weibe, einer mutigen Prophetin verfaßt, und deshalb von
Tausenden von Männerunterschriften bedeckt, weil Bettina hier nur das
Organ einer allgemeinen Ansicht, die kühne Vorrednerin ist, die Jeanne d'
Arc, die nicht mit ihrem Arme, sondern mit ihrer Begeisterung, mit ihrem
Glauben das Vaterland retten will. Traurig genug, daß nur ein Weib das
sagen durfte, was jeden Mann würde hinter Schloß und Riegel gebracht
haben. In diesem wunderbaren Zusammentreffen von Umständen, in diesem
Zufall, daß eine Frau, der man die "Wunderlichkeit" ihres Genies und
ihrer gesellschaftlichen Stellung wegen nachsieht, aufsteht und eine
Kritik unserer heutigen Politik, eine Kritik der Religion und der
Gesellschaft veröffentlicht, wie sie vor ihr Tausende gedacht, aber nicht
einer so resolut, so heroisch, so reformatorisch-großartig ausgesprochen
hat, darin liegt etwas, was göttliche Vorsehung ist. Dem bedrängten
Kampfe der Zeit ist ein Engel mit feurigem Schwerte zum Entsatz gekommen.
Windet Euch, baut Bücher auf Bücher auf, sprecht Anathema über Anathema,
die Macht einer Inspiration, die Macht einer Offenbarung, ausgesprochen
in einem Weibe, das keine Professur, keine Ehre und irdische Anerkennung
haben will, diese Glut einer Überzeugung, die sich wie ein feuriger Strom
durch die Lande wälzen wird, ist nicht zu dämpfen, nicht auszulöschen.
Den Handschuh für die Freiheit wirft hier die Poesie hin; die Poesie ist
immer ein Ritter, gegen den alle Streiche in die Luft fahren.
Bettina gehört zu denen, die ohne Falsch wie die Tauben, aber auch klug
wie Schlangen sind. Sie redet zunächst nicht zum König von Preußen. Sie
malt zwar seine Politik, die Politik seiner Ratgeber, sie malt einen
Minister nach dem Leben, aber, ihrer Poesie und dem "Anstand" gemäß,
kleidet sie ihre Polemik in das Gewand der Allegorie. Sie spricht
scheinbar von anno 7, scheinbar von Frankfurt am Main, scheinbar von
Napoleon und läßt die Frau Rat, Goethes Mutter, statt ihrer reden.
Sentimentale und Tartüffe-Gemüter, die immer wollen, daß man die Sachen
von den Personen scheidet und deren steter Jammer die "Indiskretionen"
sind, werden es schreckhaft finden, wie man der in geweihter christlicher
Erde auf dem Frankfurter Friedhof schlummernden Frau Rat die
Verantwortung so himme1stürmender Gedanken, wie Bettina ihr in den Mund
legt, andichten kann. Wer aber zu Schleiermachers Füßen gesessen, weiß,
welche Rolle Sokrates in Platons Dialogen spielt. Xenophon, der auch vom
Sokrates berichtet, mag den anregenden Lehrer nur die Dinge reden lassen,
die er wirklich gesprochen hat, Plato aber machte aus Sokrates einen
Begriff, eine poetische Individualität, wie sie der Dramatiker schafft.
Sokrates spricht beim Plato, was Plato will. Und Sokrates wird dafür im
Jenseits nicht mit Plato zürnen. Der Vater ist verantwortlich für den
Sohn, der Staat für den Bürger (Bettina führt diese Pflicht mit
besonderer Vorliebe aus), der Lehrer für den Schüler. Von großen Menschen
bleiben die Genien nachwirkend und leben fort in dem, was aus ihrem Geist
geboren wird. Und so ist auch jenes Dämonion, jene höhere Weihe und
plötzliche Offenbarung, was der Frau Rat innewohnte, wie dem Sokrates,
nicht mit ihr verweht und verflogen, sondern hat mit geisterhaften
Fittichen auch ihren Sohn Wolfgang umrauscht und umrauscht noch jetzt
Bettinen, die es wagen darf, den kühnen Heldengeist jener Frau mitten
unter den Truggespenstern des Tages zu zitieren und sie von den Grimms,
von Ranke, von Humboldt reden zu lassen, als wenn sie vom Pfarrer Stein
und dem Bürgermeister von Holzhausen redete.
Der erste Band des Königsbuches ist der Religion, der zweite dem Staate
gewidmet. Die Beweisführung in beiden ist die des ursprünglichsten
Radikalismus. Ein Geist, gefesselt seit Jahrhunderten an Vorurteil, Lug
und Trug, ein Genius, niedergehalten von tausend Rücksichten der
Selbsttäuschung und Denkohnmacht, scheint sich hier zu erheben, wie
Pegasus aus dem Joche auffliegt mit seinen geflügelten Hufen, der Bahn
der Sonnenrosse zu. Wie die rosenfingrige Eos streut Bettina Morgenröte
aus. Sie hat die Tafeln eines neuen Gesetzes in ihren kühnen Händen, noch
sind sie leer, aber nicht ein Wort der Lügen, die darauf standen und die
sie mit dem Hauche ihres Mundes von ihnen tilgte, wird wieder auf ihnen
stehen dürfen. Sie gibt Negation, aber in der Negation die vol1ste
Positivität des freien Menschengeistes. Diese Freiheit ist keine
indische. Sie ist kein Behagen, keine träumerische Wollust in sich
selbst, sondern ringende, kämpfende Freiheit, griechische Freiheit, wie
sie sich in der Palästra, in der Akademie, auf den olympischen Spielen
erprobte. Auch diese Freiheit baut, aber nicht lichtscheue Kapellen im
Waldesdunkel, sondern freischwebende Warten und Tempel auf den luftigen
Bergeshöhen. Die blinkende Art bahnt den Weg durch Gestrüpp und Genist
nicht ins blinde, wilde Ungefähr hinein, sondern nach einem erhabenen,
edlen Plane, nach einem Grundrisse, der das All umfaßt, Gotteswürde und
Menschenwohl. Sie ist konservativ, diese Polemik im höchsten, im
majestätischen Stil; denn was verdiente mehr konserviert zu werden als
die Natur, die Vernunft und der freie Geist!
Die übliche, salarierte, verdammende und seligsprechende Theologie
unserer Zeit wird über den ersten Band ihr schwarzes Kleid zerreißen und
siebenmal Wehe! rufen. Dieser erste Band steht vom christlichen
Standpunkte auf dem Fundament einer absoluten Glaubensunfähigkeit.
Bettina weist hier jede Vermittelung zwischen der Vernunft und dem Dogma
ab. Kein mystisches Blinzeln mehr mit den geheimnisvollen Möglichkeiten
der Nachtseite des Lebens, keine Deutung mehr, keine Allegorie, sondern
die einfache Frage: Kann Wein Wasser, kann Wasser Wein werden? Man sage
nicht, daß sich Bettina durch diese absolute Negation des Christentums
ganz aus den Voraussetzungen der modernen Welt hinauseskamotiert. Ein
Blick auf unsere Zeit und ihre wissenschaftlichen Kämpfe lehrt, daß für
die Freiheit schon unendlich viel gewonnen wäre, könnten wir nur auf der
Hälfte des Weges, den Bettina schon zurücklegte, Hütten und Zelte bauen,
geschweige Kirchen im Sinne dieser Hälfte. Der Erfolg dieses Buches, wie
weit er der freisinnigen Theologie unserer Tage zu Hilfe kommen wird,
läßt sich noch nicht ermessen. Erst muß die wilde Jagd der Gegner kommen.
Warten wir die Gespenster der Wolfsschlucht ab!
Eingreifender aber noch und unmittelbarer wirkend ist der zweite Band.
Man hat diese Partie des Buches kommunistisch genannt. Man höre, was er
enthält, und erstaune über dies sonderbare Neuwort: Kommunismus. Ist die
heißeste, glühendste Menschenliebe Kommunismus, dann steht zu erwarten,
daß der Kommunismus viele Anhänger finden wird.
Dieser zweite Band ist den Verbrechern und den Armen gewidmet. Man hat
schon drucken lassen, Bettina wolle die Verbrecher zu Märtyrern stempeln
und zöge die Diebe den ehrlichen Leuten vor. Das letzte ist kindisch, das
erste ist wahr. Man schreibt so viel Bände über die Gefängnisse, über die
Verbrecher, über die Straftheorien, man stiftet auch Besserungsanstalten,
und doch bleibt es unwiderleglich, daß die wahre Politik, die Politik im
Lichte unserer Zeit, die sein sollte, den Verbrechen zuvorzukommen. Mögen
wir nun an die ursprünglich gute oder ursprünglich böse Menschennatur
glauben, so haben wir doch wenigstens von unserer Erziehung und Bildung
einen so hohen Begriff, daß wir von ihrer Anwendung auf die Menschennatur
Wunder voraussetzen. Warum verrichten wir diese Wunder so selten? Warum
mißlingen sie so oft? Unsere gewöhnlichen Quacksalbereien müssen doch
wohl nicht ausreichen, um die immer garstiger werdenden Schäden der
Gesellschaft zu heilen. Die alte Leier von den Volksschulen usw. ist ganz
verstimmt, sie lockt keinen Hund mehr vom Ofen, geschweige daß sie
bezauberte und Menschen zu Menschen machte. Der Cholera gegenüber war es
mit aller Medizin aus. Da schuf man neue Spitäler, neue Quarantänen, neue
Gesundheitsdistrikte und behielt vom Alten nichts mehr, als höchstens die
sonst so verachteten Hausmittel. Nun, die moralische Cholera ist da:
jeder Winter z.B. in Berlin bringt die sittliche Brechruhr, nicht etwa
sporadisch, sondern so allgemein, daß die Gefängnisse keinen Platz haben.
Guter Gott, man vermehrt die Zahl der Nachtwächter und Gensdarmen, die
Bürger treten zusammen und bilden unter sich eine Sicherheitsgarde. Einer
sperrt sich ab gegen den andern und der Störer dieses atomistischen
Staates wird unschädlich gemacht. Wenn eine solche Politik von der Not
des nächsten Augenblicks geboten wird, so muß man sie gelten lassen;
erhebt man aber ihren praktischen Wert zu einer theoretischen, dauernden
Bedeutung, so fragt man billig, ist die christliche Welt darum
achtzehnhundert Jahre alt geworden? Gibt es keinen Ausweg, die Verbrechen
schon im Keime zu ersticken? Ist der Staat immer und ewig nur ein
Konglomerat von Egoismus, in dem sich nur der lauter, rein und glücklich
erhält, den gleich bei der Wiege die holde Gunst des Zufalls
angelächelt hat?
Neulich hat ein Geistlicher an einem vielbesprochenen Grabe ein
herrliches Wort gesagt. Die Leiche des im Duell gefallenen Herrn von
Göler in Karlsruhe wurde bestattet und der Geistliche, der keinen Beruf
hatte, dieser Leiche so zu schmeicheln, wie es die Zeitungen getan
hatten, äußerte in seiner würdigen Rede, als er vom Duell sprach: Er
müßte für das Christentum erröten, wenn er bedachte, daß der milde Geist
der Christuslehre noch so wenig in die Menschheit eingedrungen wäre, um
nicht Vorkommnisse, wie jenen Streit, für immer unmöglich zu machen. Er
sagte: Erröten! Der Geistliche, ein frommer Diener des Wortes, errötete
für die geringe Wirkung seiner Lehre. Errötet wohl ein Beamter für den
Staat, der ihn besoldet, ein Minister für die Lappalien, die er in seinem
Portefeuille einschließt, erröten unsere Richter für die Verbrecher?
Nein. Höchstens der arme Knecht zittert, der die Delinquenten abtun muß.
Was nennen sie denn noch im 19. Jahrhundert Politik? Was konservieren
denn unsere großen Staatsmänner nur als sich? Wie ist es möglich, daß
durch diese Politik der Bürokratie, der Edikte, der Verbote, der
Allianzen, Paraden, Gleichgewichtsinteressen usw. ein Lichtstrahl jener
wahrhaft konservativen Politik dringen kann, die vor allen Dingen den
Menschen dem Menschen bewahrt? Bettina erhebt sich, wenn sie auf dieses
Gebiet kommt, zur Seherin, zur Prophetin. Sie richtet an den König, dem
sie ihr Buch gewidmet hat, so hinreißende, so feurige Apostrophen, daß es
rührend ist, wenn man sich sagen müßte, der Brief ist unsterblich, aber
er wird seine irdische Adresse verfehlen.
Wer im zweiten Band jede Behauptung der Frau Rat wörtlich verstehen
wollte, bewiese nur, daß er zu den Langweiligen gehört. Kein Langweiliger
hat Sinn für den Humor. Humoristisch ist aber ein großer Teil der
sittlichen Revolutionen zu verstehen, die die kühne Opponentin mit den
Verbrechern zu stiften vorschlägt. Es ist ihr wahrhaftig nicht darum zu
tun, einen Räuberhauptmann zum Feldherrn, einen Schinderhannes zum
Kriegsminister zu machen, sondern sie beklagt in greller, ihr
eigentümlicher Ausdrucksweise, daß das Kapital von Mut, Schlauheit und
Standhaftigkeit, was von den Verbrechern konsumiert wird, nicht auf
edlere und dem Gesamtwohl nützliche Zwecke verwandt wird. Die Dialektik
dieser Beweisführung ist teils Überzeugung, teils Neckerei. Es ist
durchaus ein platonisch-sokratischer Geist, der die kunstvollen Gespräche
belebt, mit dem Scharfsinn und dem hohen Fluge der Divination zugleich
gepaart, jene sokratische Ironie, die scherzend die schon gefangenen
Vögel der Gegenpartei wieder flattern läßt, um sie nach kurzer Freiheit
wieder aufs neue einzufangen. Fast im schäumenden Übermaß dieser Ironie
sind die "Gespräche mit einer französischen Atzel" geschrieben. Hier ist
selbst die Frau Rat die überflügelte. Der schwarze Vogel auf dem Ofen mit
seinen klugen Augen, seiner kecken Federhaube auf dem Kopfe, scheint ein
verzauberter Höllenbote zu sein. Der kleine Spitzbube wettert und
schimpft wie ein Kapuziner, der nicht dem Himmel, sondern dem Teufel
dient. Er möchte, daß die ganze Welt des Teufels wäre und schwätzt die
Dinge, die oben stehen, kopfüber nach unten und umgekehrt. Es wird nicht
an Leuten fehlen, die die E1ster beim Wort nehmen und ihre wilden
Plaudereien als bare Blasphemie an die geistlich-weltliche Hermandad
denunzieren werden. Bettina wäre mit der phantastischen Lyrik ihrer Seele
humoristisch genug, für die Atzel aufzutreten und sie zu verteidigen, wie
einst auf einem Konzil sogar die Heuschrecken ihren Anwalt fanden.
Verschluckte einst eine Ratte eine Hostie und verrichtete Wunder, warum
soll der Teufel nicht in eine Atzel fahren? Die Polemik, die nächstens
die evangelische Kirchenzeitung gegen diese Atzel eröffnen wird, wird
sehr komisch sein.
Das ausgezeichnete Werk behandelt aber zu ernste Fragen, als daß es
komisch schließen dürfte. Es schließt mit dem Septimenakkord des tiefsten
Schmerzes, es schließt erschütternd, herzzerreißend, tragisch. Wessen
Auge über dieser Schilderung des Elends im Berliner Voigtlande verweilen
kann, ohne in Tränen zu schwimmen, der muß ein Herz von Marme1stein
haben. Bettina teilt die Aufzeichnungen eines edlen Menschen mit, der in
dem sogenannten Berliner Voigtlande die von der Armut bewohnten Häuser
durchwanderte, an die Türen pochte, eintrat und sich nach den bittern
Lebensumständen, die hier zusammengepfercht sind, gründlich erkundigte.
Die Namen sind genannt, die Türen bezeichnet, hier hört jede Fiktion auf.
Tausende von Menschen leben hier in Hunger und Kummer, schlafen auf
Stroh, stündlich gewärtig, ausgepfändet und auf die Straße geworfen zu
werden mit Greisen und Säuglingen, im ewigen Kampf, entweder zu hungern
oder zu betteln oder aus Verzweiflung zu stehlen, gehetzt von der Polizei
und verlassen von jener Behörde, die ihr nächster Schutz und Schirm sein
sollte, der städtischen Armendirektion. Für die Mitteilung dieses
Gemäldes verdient Bettina den Dank jedes fühlenden Herzens. Jede Träne
dieses Bildes wiegt die kostbarsten Brillanten einer stilistischen
Phantasie auf; dieser echte, lebenswahre Murillo steht höher als jede
idealische Transfiguration. Es kriecht Ungeziefer durch diese Farben,
aber die Farben sind echt und der Fürst, dem sie ihr Buch widmete, hat in
dem Augenblick, als er diese Schilderung las, sicher einen Hofball
abbestellt, sicher die Zurüstungen eines glänzenden, nur Staub
aufwühlenden Manövers auf die Hälfte des angesetzten Etats reduziert.
Denn nicht die Armut allein durchschneidet hier unser Herz, nein, auch
die Schilderung der Tugenden, die noch in der Verzweiflung dieser
Menschen nicht erstorben sind, die Schilderung einer hochherzigen
Anhänglichkeit an das Vaterland und den Fürsten, die sich selbst in
diesen Lumpen noch erhalten hat. Eine arme Bettlerin überbrachte der
Ordenskommission (fünf Orden), die ihr gestorbener Mann im
Freiheitskriege erworben. Die Ordenskommission gab ihr ein für alle Mal
fünf Taler (kaum den äußern Wert der Dekorationen) und nun hungert sie.
Wenn auch die hohen freisinnigen Philosopheme der kühnen Frau, die dieses
Werk geschrieben, von den Menschen, die sie in dem (Pfarrer) und dem
(Bürgermeister) treffend charakterisiert hat, verworfen werden, von
diesem Anhang kann man nicht glauben, daß er spurlos vorübergehen wird.
Nicht nur, daß die Berliner Armendirektion, eines der unpopulärsten
Institute der Residenz, einer gründlichen Reorganisation unterworfen
werden muß, auch die höhere, den ganzen Staat umfassende, ja ich nenne
sie die (kommunistische) Frage: was soll geschehen, um den Menschen dem
Menschen zu retten, das Band der Bruderliebe wieder anzuknüpfen und einer
unheilschwangern, furchtbar drohenden Zukunft vorzubeugen? Diese Frage
wird um Antwort drängen und die Antwort wird nicht in Phrasen, nicht in
Almosen, sondern in durchgreifenden Schöpfungen bestehen müssen. Und der
edlen Frau, die diese Frage dicht an den Stufen des Throns aufwirft, auf
dem Parkett der eximierten Gesellschaft, unter Luxus, sybaritischer
Indolenz und transzendentaler, nichtsnutziger Nasen- und Bonzenweisheit,
dieser edlen Frau steht der bescheidene Feldblumenkranz eines solchen
Verdienstes prangender, als weiland ihre schönsten Blumenkronen aus der
Periode ihrer romantischen Naturmystik.
Mit beklommener Erwartung sehen alle die, welche von dem Buche ergriffen
wurden, nun auf den, dem es gewidmet ist. Numa Pompilius hatte seine
Egeria, eine geheimnisvolle Sybille, die ihm die Weisheit lehrte, mit der
er Rom aus einem Räuberstaate zu einem geordneten Gemeinwesen erhob. Der
König von Preußen wird Bettinen nicht zu seinem ersten Minister machen,
aber er hat ihr Buch in der Handschrift durchblättert, er hat die Widmung
gestattet und es mit seinen tausend zensurwidrigen Freiheiten vorweg
gegen die Verfolgung der Polizei in Schutz genommen. So darf Deutschland
und Preußen insbesondere hoffen, daß von der mächtigen Beredsamkeit einer
Feuerseele, die hier im Namen der Zeit wie eine Prophetin am Wege ihn
angesprochen, wenn nicht ein begeisternder Funke, der zur Tat zündet,
doch eine warme Erregung, die Schonung und Duldung übt, in ihm
zurückgeblieben ist.


Ein preußischer Roman (1849)

Die kluge und soviel man wußte ziemlich demokratisch gesinnte Fanny
Lewald hat einen Roman ("Prinz Louis Ferdinand") geschrieben, der ihr die
Ehre einbringen wird, Mitglied des Treubunds zu werden. Ich sehe ihre
sonst so freiheitglühende Brust schon mit einem Ordenszeichen geschmückt,
das ihr in feierlicher Sitzung unter allen Berliner Offiziers- und
Beamtenfrauen Graf Schlippenbach anheften wird. Denn was auch vom
Standpunkt der Hofdamen aus in diesem biographischen Roman gegen die
Etikette und eine gewisse loyale Pietät für hohe und höchste Personen
gesündigt sein mag, die besonneneren Mitglieder der Preußenvereine wissen
sehr wohl, daß man den Royalismus auf alte Art nicht mehr predigen kann.
Dies edle Kern- und Grundgefühl preußischer Herzen kann nicht mehr
überall der Ausfluß unmittelbaren Instinktes sein wie weiland, als der
Friedrich-Wilhelm-Staat noch in patriarchalischen Banden schlummerte,
sondern dies Gefühl muß jetzt "vermittelt" werden, in der Sprache der
Neuzeit reden, gemischt und verquickt mit dem Neusilber der Mode. Das hat
Fanny Lewald redlichst getan. Man kann nun doch wieder aufblicken zu
jenen strahlenden Meteoren, die man Prinzen nennt. Man kann doch den
Beweis führen, daß auch in jenen Regionen menschlich empfunden,
liebenswürdig geschwärmt, edel gedacht wird. Man hat doch endlich einmal
den vol1sten Gegensatz gegen diese Irrgänge der Literatur, die schon die
Poesie nur noch bei den Handwerkern und Bauern suchen wollte. Die Gräfin
Hahn rettete der Poesie den Adel, Fanny Lewald, die strenge Richterin
Diogenens, rettete ihr wieder die Könige und die Prinzen.
Wir erfahren in diesen drei mit großer Gewandtheit geschriebenen Bänden,
daß es an der Grenzscheide des Jahrhunderts einen Prinzen von Preußen
gab, der ein wenig stark von der Geniesucht seiner Zeit angesteckt war,
sich vom Zopf Friedrichs des Großen und derer, die diesen Zopf für das
Palladium des preußischen Staats hielten, emanzipieren wollte, Musik
trieb, viel Schulden machte, Militärexzesse begünstigte, die Franzosen
und ihre Republik haßte und um jeden Preis dem "Korsen" den Glanz
preußischer Waffen fühlbar machen wollte. Als ihm die Diplomatie 1806
seinen Willen tat und den Krieg erklärte, fiel er in dem ersten Gefecht
gegen eine Nation, die er liebte (denn er umgab sich mit Franzosen), aber
deren liberale Grundsätze er haßte. Es ist dieser Prinz Louis Ferdinand
so oft als eine Heldengestalt, als ein junger tatendurstender Alexander
gerühmt worden, daß man sein Leben wohl für beachtenswert, seinen Tod
rührend finden kann. Wie aber sieht es mit einer näheren Prüfung dieses
Ruhmes aus? Wie muß sich der Biograph, der Dichter stellen, um diese
äußerlich blendende Erscheinung ihrem wahren Kern und Wesen näher
zu bringen?
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