Berlin — Panorama einer Weltstadt - 07

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Hauptstadt Preußens, pommersche und uckermärkische Bayards wiegeln die
unzurechnungsfähige altfränkische Loyalität der Bauern und den Ärger des
Adels auf, das Heer ist verstimmt, viele seiner Führer sind geradezu
verdächtig, die ganze Maschine der Verwaltung läuft noch in den alten
Wellen und Rädern, Polen hofft auf friedliche, unblutige Wiederherstellung
und läßt im Adressenrauschen und Fraternitätspredigen vielleicht den
Moment der Tat vorübergehen, Rußland, das gerüstete, einige, feste weiß,
was es will, es trifft, ungehindert von Polen, Preußen unvorbereitet,
uneins, zögernd, den König verstimmt, abgekühlt durch Eure Proteste, der
Strom von Osten flutet heran ... und was dann? Süd- und Westdeutschland
haben nur noch eine Einigkeit auf dem Papier und die Erinnerungen an die
militärische Kraft des Reiches sind eben nicht erhebender und
vertrauenerweckender Art.
Preußens historische Bestimmung ist die des Werdens, des Fließens,
Wallens, sich Gestaltens und Ausdehnens. Deutschland, Preußen in sich
aufnehmend, wird allein stark sein. Was weist Ihr Preußen zurück? Ist es
nicht ein neues, das sich mit Euch verschmelzen will? Habt Ihr noch
Mißtrauen in das von Euch bespöttelte Berlin, dem Ihr in diesem
Augenblick allein den kräftigsten Beweis einer in Deutschland doch
möglichen Auflehnung gegen Übergriffe und Anmaßungen der Gewalt verdankt?
Berlin hat sich nicht nur durch seinen persönlichen Mut zur geistigen
Hauptstadt Deutschlands gemacht, sondern auch durch die Fülle von Fragen,
die sich in politischer und sozialer Rücksicht hier allein aufgeworfen
haben. Man kam fast nirgends über die patriotischen und liberalen
Abstraktionen hinaus, in Berlin lodert es radikal vom Herd des
Volkes auf.
Nenn' ich die Isolierung Preußens in diesem Augenblicke unpolitisch, so
ist sie auch ungerecht und zwar in doppelter Hinsicht. Ungerecht gegen
das preußische Volk, ungerecht sogar gegen den Fürsten. Was am 18. März
verbrochen wurde, ist das Verbrechen aller deutschen Fürsten. In Wien ist
auf das Volk geschossen worden wie in Berlin, und das Blutbad würde
ebenso groß geworden sein wie hier, wenn man dort nicht sogleich in der
Absetzung Metternichs eine rasch ausführbare Konzession gehabt hätte.
Metternich stand schon so schwankend, daß er durch eine Straßenbewegung
fiel. In Berlin war der Kampf rein eine Schlacht, die man dem Militär als
solchem lieferte, dem Militärstaat, dem Land der Polizeityrannei, kurz,
es war ein fast persönlicher Vernichtungskampf. Jeder deutsche Fürst,
umgeben von solchen Generälen, solchen militärisch gesinnten Prinzen,
solchen militärischen jahrhundertalten Arroganzen, hätte ebenfalls feuern
lassen. Der König braucht darum gar nicht persönlich der "Würger" und
Schlächter zu sein, für den ihn die Heidelberger Adresse erklärt. Er ist
ganz einfach der Ausdruck seiner Standesvorurteile, seiner militärischen
Erziehung, das Echo seiner Ratgeber, das weiche Wachs seiner Brüder und
sogenannten Jugendfreunde, der Frömmlinge, der Volksverächter jeden
Grades. Rechnet man noch hinzu, wieviel Unruhe und Unselbständigkeit er
in sich selbst besitzt in dem Gefühl seiner nunmehr achtjährigen
widerspruchsvollen Regierung, wo ihn, den romantisch gestimmten Epigonen
vergangener Zeitrichtungen, der Sturmwind des Tages ewig im Kreise
umherwirbelte und er bei dem unleugbaren Willen, gut, gerecht, weise,
edel sein zu wollen, und dem Bewußtsein, gut, gerecht, weise, edel sich
selbst zu erscheinen, doch der Welt gegenüber immer als das Gegenteil
davon hervortrat: so ist es im höchsten Grade ungerecht, die völlige
Umkehr und neue Geburt, zu der er am 20. März die Lust bezeugte, das
Emporhalten des Reichsbanners und den Enthusiasmus eines neuen ihn
innerlichst ergreifenden Menschen abzuweisen und seine warme Hingabe an
die deutsche Sache zu erkälten. Noch bedürfen wir, um das, was in
Frankfurt bezweckt wird, auszuführen, der Persönlichkeit unserer Fürsten.
Noch kann die Reue, das Bedürfnis nach Popularität, der geweckte
Enthusiasmus des preußischen Königs in die Waagschale der Frankfurter
Entschlüsse das Gewicht der Entscheidung legen; warum festhalten an dem,
was am 19. in Berlin geschah und wie es in München, Kassel, Karlsruhe,
Hannover geschehen sein würde, wenn nicht das Volk gleich anfangs eine
kräftige Miene gezeigt hätte! Mit Worten ist in Städten, die ich nicht
nennen will, von unseren Fürsten mehr gemordet worden, als hier in Berlin
mit Waffen.
Deutschlands Wiedergeburt unter dem preußischen Banner ist, so lange wir
in der konstitutionellen Monarchie uns bewegen wollen, die einzige
kraftvolle und Zukunft versprechende Lösung des Augenblicks. Wollt Ihr
die Einigung Deutschlands in wahrer Vollendung, so könnt Ihr nur den
Mächtigsten an die Spitze stellen und das, was Ihr an seiner Person
vermissen wollt, durch den Genius seines Volks ersetzen!
Dringen diese Ansichten nicht durch, scheitern sie an einer
unüberwindlichen persönlichen Abneigung, so treten folgende Fälle ein:
Erstens werden wir um die Rußland in Schach haltende polnische
Insurrektion betrogen, da ein unter den Auspizien des Panslawismus
friedlich geschaffenes Königreich Polen leicht mit dem Zaren friedlich
sich abfinden dürfte. Zweitens hätten wir die russische Invasion, die ein
innerlich zerworfenes, militärisch unorganisiertes Deutschland, ein für
den Augenblick an sich selbst irrgewordenes Preußen vorfände. Drittens
endlich, wer schützt uns--vor Verrat, vor einer tief angelegten,
grauenerregenden.... Intrige? All' diese Lose schlummern im Schoß der
nächsten Zukunft, wenn Süddeutschland in seinen Ablehnungen und Protesten
so fortfährt, wie es begonnen, es sei denn, daß der König von Preußen,
der großen Mission seines Volkes sich unterordnend, den Wink verstände,
den ihm Gervinus im neuesten Bulletin der "Deutschen Zeitung"
gegeben hat.


Abwehr einer Verleumdung (1850)

In N°. 43 dieser Zeitung sagt ein Anonymus, dem die Redaktion sogar die
Ehre erweist, seine bösen Verdächtigungen in den Großdruck des
politischen Textes aufzunehmen, der Unterzeichnete könnte schon deshalb
als "technischer Direktor" des K. Hoftheaters nicht berufen werden,
weil--ihm etwa die nötigen dramaturgischen Kenntnisse mangelten? Nein.
Oder weil von ihm bekannt wäre, daß er zwar kein republikanischer, aber
doch sonst ein gar schlimmer und bedenklicher Autor wäre? Auch das nicht!
Nun, warum denn sonst nicht? Er hat etwas viel, viel Ärgeres begangen. Er
wäre im Jahre 1848 von Dresden ganz besonders zu den "Märzereignissen"
herübergekommen. Zwar setzt der wohlwollende "Zuschauer" schüchtern
hinzu: "Wie es scheint." Verzwicktes "wie es scheint"! Warum nicht
sogleich dreister? Warum nicht sogleich geradezu gesagt, ich hätte
Barrikaden befehligt?
Im Mai 1849 hab' ich in Dresden, wohin ich nicht erst zu reisen brauchte,
wirklich eine Barrikade bauen sollen. Fünf Männer in Sensen hielten mir
Steine entgegen und wollten mich zwingen, Hand anzulegen. Laßt mich! Ich
bin kein Baumeister! mußt' ich ihnen sagen. Es half nichts: "die Sense
sollte michs schon lehren!" Erst als ich etwas unsanft sagte: Leute, ich
habe für die deutsche Einheit mehr mit dem Wort getan, als ich hier mit
Steinen tun kann! ließ mich die damals souveräne Insurrektion meines
Weges ziehen. Freilich! Warum saß ich nicht, wird mein "Zuschauer"
fragen, auch hier versteckt in irgendeinem Keller? Warum war ich an jenem
Märzsonntage 1848 vor dem Schlosse in Berlin und sah mir dies Wogen und
Wüten einer ungebundenen Menschenmasse an? Der schlimme "Zuschauer" sagt,
Herr Polizeipräsident v. Minutoli müßte darüber auch noch erst Bericht
erstatten. Niemand kann im geschichtlichen Interesse mehr wünschen als
ich, daß der freundliche und um den milderen Verlauf jener Tage vielfach
verdiente Herr v. Minutoli seine damaligen Erlebnisse erzählte. Aber ich
wünschte doch, Felix Lichnowski lebte noch und bestätigte mir's, daß er
mich aufforderte: "Freund, Sie müssen reden! Sie müssen! Ich lasse Sie
nicht!" "Worüber?" "Über was Sie wollen! Ich bin heiser, ich kann nicht
mehr! Nur reden, nur beruhigen!--Nun denn, sagt' ich, ich habe in jenem
patriotischen, angeborenen, mark-brandenburgischen, vaterstädtischen
Drange, von dem man damals noch nicht ahnte, daß man ihn später für
revolutionären Fürwitz erklären könnte, das Wort des Königs: Kommt und
ratet mir! so aufgefaßt, daß ich ihm einen Brief übergeben ließ, worin
ich ihn bat, in die aufgelöste Ordnung irgendeinen, die Massen nur legal
zusammenziehenden, die Gemüter zerstreuenden neuen Gedanken zu werfen, am
liebsten den der Bürgerbewaffnung! "Sprechen Sie darüber! Sogleich! Hier!
Heran! Ich lasse Sie nicht mehr fort!" Ich sprach, und die Massen, die zu
allen Konzessionen, die sie kaum verstanden, noch etwas Neues,
Handgreifliches, leicht Verständliches hinzuempfingen, zerstreuten sich.
Es ist bekannt, daß der König denen gedankt hat, die an jenem
Sonntagmorgen zum Schlosse hielten. Freilich, sehr exaltiert, sich ohne
Portefeuille für einen Politiker zu halten! Sehr exaltiert, nicht wie
jener Feigling im "reisenden Studenten" in den Mehlkasten zu springen und
zu rufen: Brennt's noch? Wer damals in den Mehlkasten sprang, der kam
freilich für immer sehr weiß heraus.
Einige Tage gärte das, alle ergreifend, noch so fort. Und wenn mein
"Zuschauer" sagt: Vor dem 18. März schon hätt' ich "Tätigkeit entwickelt",
so will ich ihm sagen, was ich vor und nach dem 18. März für "Tätigkeit
entwickelte." Am 6. kam ich mit Weib und Kind nach Berlin, um meinen
Urlaub dort zu verleben. Von da bis zum 18. schrieb ich im Hotel de
Russie mein Schauspiel: Ottfried. Und vom 22. März bis 22. April, also
während der vollen Blüte der Revolution, saß ich am Krankenbette eines
Kindes, am Sterbebette einer Frau. O Du leidiger "Zuschauer"! Ich
beantworte Deine böse Anklage so ausführlich nicht wegen des "technischen
Direktors" (der nicht mir, nur jener Anstalt fehlt), sondern deshalb,
weil diese in Berlin eingerissene Enthüllungssprache, dies mystische: Der
war gestern in der und der Straße! Man hat ihn da und dort mit dem und
dem verkehren sehen usw. eine wahre Schmach unserer Zeit ist und an die
trübsten Tage römischer Delatorenwirtschaft erinnert.
Wenn man von mir sagt, daß ich bei dem mir mannigfach eingeräumten
Berufe, für die deutsche Schaubühne theoretisch und praktisch zu wirken
und an jedem Hoftheater die ästhetische Initiative ergreifen zu können,
doch immer noch so "taktlos" bin, in politischen Dingen mehr links als
rechts zu stehen, so kann ich mich dagegen nicht verteidigen und werd' es
nicht. Aber den Vorwurf, daß ich in meinem Leben je gewühlt, agitiert
oder konspiriert hätte, weis' ich mit Verachtung zurück.
Dresden, 23. Februar 1850.
Dr. Karl Gutzkow


Varnhagens Tagebücher (1861)

Wir mögen nicht das Schlimme wiederholen, das sich schon reichlich in
manchen Blättern über Ludmilla Assings neue Mitteilungen aus dem Nachlaß
ihres Oheims (zwei Bände, Leipzig, F. A. Brockhaus, 1861) gesagt findet.
Die Ausdrücke der Anfeindung und Verachtung kommen meist aus der Region,
wo man sich durch die guten Seiten dieser Tagebuchnotizen
getroffen fühlt.
Wer die Zeit von 1835-43 (dies die Jahre, die die vorliegenden zwei
ersten Bände treffen) mit all dem Unmut und dem Druck persönlichster
Benachteiligung durchlebt hat, dem Varnhagen in seinen Aufzeichnungen
Worte leiht, der entschuldigt das meiste von dem, was andere hier
verurteilen wollen. Ihm bleibt es eine Erquickung, noch einmal bis in die
kleinsten Details jenen traurigen Zeiten der Verfolgung und endlich zu
Fall gekommenen Tyrannei nachzuleben. Ihm gewährt es einen hohen Genuß,
sich sagen zu können: An alledem warst auch du mit den tiefsten Atemzügen
deines Lebens beteiligt, fühltest dieselben Gewaltschläge der Schergen,
hofftest auf dieselben Sonnenblicke der bessern Zeit! Bis ins einzelnste
lebt sich ein älteres Geschlecht in diesen Varnhagenschen Mitteilungen
noch einmal wieder sein eigenes Leben durch.
Und auch das ist eine der guten Seiten dieser Veröffentlichungen, sie
lehren Hingebung an Zeit und Menschen, Verehrung und Pietät vor der
gemessenen Stunde, auch vor fremder Bildung, fremdem Lebensschicksal und
vollends vor dem eigenen, soweit wir nur zu oft geneigt sind, immer nur
in hastiger Erwartung des Zukünftigen unsere Befriedigung zu finden. Je
massenhafter die Zeit ihre Strebungen ansetzt, je verallgemeinerter die
Wirkungen des Zeitgeistes sind, desto erhebender diese Beachtung des
Einzellebens, diese sinnige Beobachtung des Individuellen und
Persönlichen. Letztere Beobachtung ist bei Varnhagen nicht ganz von der
Neugier, noch weniger lediglich vom Gefallen an dem medisanten Geflüster
der Göttin Fama eingegeben; sie entspringt aus einem Persönlichkeitskultus,
den wir nicht verwerfen oder um seiner etwaigen Abnormitäten willen
verurteilen wollen.
Welche Fülle von interessanten Mitteilungen diese beiden Bände enthalten,
ist in allen Zeitungen schon gesagt worden. Wir können allerdings den
verstehen, der die Möglichkeit, solche Tagebücher zu führen, in mehr
bedenklichen als guten Charaktereigentümlichkeiten finden will; das vor
uns liegende Endergebnis solcher Art oder Unart ist jedoch lehrreich und
nützlich. So viel läßt sich bei jedem einigermaßen Urteilsfähigen
voraussetzen, daß ihm nicht jede dieser flüchtig hingeworfenen Äußerungen
maßgebend sein wird--es kann in ihnen getadelt werden, was vielleicht
alles Lobes wert ist--aber luftreinigend wirken diese Explosionen;
Behutsamkeit werden sie nach allen Seiten hin verbreiten. Wie gut tut es
nur allein schon den Hochgestellten und Mächtigen, daß sie überall sich
eingestehen müssen: Hier ist zwar nicht durch Anschlag vor Fußangeln
gewarnt, aber hüte dich bei jedem Schritt, unvorsichtig und unbedacht
zu sein!
Auch darin müssen wir eine höchst interessante Wirkung dieser
Veröffentlichungen sehen, daß wir die außerordentliche und fast
unglaublich scheinende (Natürlichkeit) kennenlernen, die in gewissen
höhern Regionen waltet. Möglich, daß zwei Dritteile dieser hier vom Hofe,
den Prinzen, den Staatsmännern Preußens aus den oben genannten Jahren
mitgeteilten Anekdoten unrichtig erzählt oder leere Erfindungen des
Gerüchts sind; dennoch bleibt immer noch genug zurück, um uns ein Bild
dieser steten Agitation zu geben, die um die hervorragenden Erscheinungen
der Erdenmacht sich auf- und abbewegt. So stürmt der Zugwind am meisten
um große, alleinstehende Kirchen und läßt schon in der Legende den Teufel
da sein lustigstes Spiel treiben. Varnhagen hat Fürsten und Regierende
genug selbst gesprochen, teilt Äußerungen von erlauchten Lippen genug
selbst mit, die sein eigenes Ohr vernommen, um die Vorstellung zu
erwecken: So also beängstigt euch Herrschende doch die Zeit und die
tausendfache Verpflichtung, die gerade euch stets mahnend zur Seite
steht! So jagen euch die unfertigen Gestaltungen dieser irdischen Welt
hin und her; so bringt der Vorwitz und die Torheit und welche
Leidenschaft der Menschen nicht--! unablässig Wirkungen hervor, deren
Ursachen wir Fernstehenden kaum ahnten! In den Zeitungen stand das alles
so kalt und so abgeschlossen fertig da, was sich hier hinter den Kulissen
so heiß siedend und wallend erst formte, so unfertig, so nur wie
vorläufig! Diese Hände konnten mächtige Fahrzeuge zimmern und doch nicht
dem Sturm und den Wellen gebieten! Wir haben seit langem nicht so auf den
Sieg des Wahren und Gerechten vertraut wie nach der Lektüre dieser
Tagebuchmitteilungen, die uns die Gewalthaber der Erde als ebenso
hilfsbedürftige Menschen schildern, wie wir selbst sind.


Vorläufiger Abschluß der Varnhagenschen Tagebücher (1862)

Es würde überflüssig sein, das Erstaunen und die mannigfachen Bedenken
über die Existenz und die frühzeitige Herausgabe der Varnhagenschen
Tagebücher zu wiederholen. Ihr öffentliches Vorhandensein ist nun einmal
ein Begegnis wie ein Naturphänomen, das sich aller Berechnung entzieht.
Selbst eine Anklage und vor allem die gerichtliche Verfolgung erscheint
uns im vorliegenden Falle wenig angebracht, da man nur einfach zugeben
sollte, daß es sich hier um ein literarhistorisches Ereignis, ein
psychologisches Rätsel, um eine in dem Leben eines ausgezeichneten Mannes
uns bis jetzt noch unvermittelt erscheinende Anomalie handelt. Die
Entwaffnung dessen, der durchaus entrüstet sein und bleiben will, sollte
in den Vorzügen des Schriftstellers selbst liegen, der uns so lange Jahre
hindurch ein Muster der Mäßigung und des Strebens nach dem Kerngehalt der
Zeit und Welt erschien. Ihn jetzt plötzlich so ganz abirren zu sehen von
derjenigen Bahn, in welcher von ihm so viel Bedeutendes und Bleibendes
geleistet worden ist, das ist eine Erscheinung von so fragwürdiger
Seltsamkeit, daß sie uns nur psychologisch, biographisch, zeitgeschicht-
lich beschäftigen, am wenigsten Anlaß geben sollte, die Herausgabe des
Buches zu einem Vergehen zu stempeln. Selbst noch das Irrgewordensein
eines bedeutenden Mannes kann ein Schauspiel bieten, das interessant und
lehrreich ist.
Bis nahe an die Grenze der Unzurechnungsfähigkeit sind allerdings diese
Aufzeichnungen aus den Jahren 1848 und 1849 vorgerückt. Aber waren wir
denn alle, die wir jene Tage miterlebten, frei von einer krankhaften
Exaltation unsers Empfindens und Denkens? Wer hätte nicht damals sich
mitten auf die Straße stellen und seine Stimme laut erschallen lassen
mögen, um vor hereinbrechenden Gefahren zu warnen? Falsche Volksführer zu
entlarven, Abtrünnige mit feierlichem Protest dem Fluch aller Zeiten
preiszugeben? Beim Rollen und Donnern der Kanonen, bei den Salven, die
auf Volkshaufen abgefeuert wurden, beim Krachen des beginnenden
Barrikadenbaues trieb die aufgeregte Phantasie, die Liebe zum Vaterland,
zur Freiheit, ja wohl auch nur die Vorstellung von unbesonnenen,
falschen, der nächsten Klugheit widersprechenden Maßregeln die sonst
ruhigsten Gemüter in die Vorzimmer der Minister, in die Kabinette der
Fürsten, um ihre Meinungen geltend zu machen. Jeder Tag brachte neuen
Zündstoff, um die Gemüter in Flammen zu setzen; und was Varnhagen hier
oft nur mit kurzen Worten niederschrieb: "Es sind Schurken, Halunken,
Bösewichter!" das alles wurde oft genug von uns selbst ausgerufen oder
zwischen den Zähnen gemurmelt. Es liegt uns die treueste, die lebendigste
Vergegenwärtigung einer Zeit vor, die leider für die Wiederaufnahme
dessen, was sie uns hätte bringen sollen, mit einem unfruchtbar und
nutzlos vorübergehenden Jahr nach dem andern sich uns schon zu weit zu
entrücken droht. Eine junge Generation tritt immer mehr in den
Vordergrund, ohne jene Zeit erlebt, ihre Erfahrungen benutzt zu haben. Es
wäre ein unermeßliches Unglück für unser Vaterland, wenn die Stunde der
Erlösung von unsern gegenwärtigen, von den Regierungen ja selbst für
unhaltbar erklärten Zuständen zu einer Zeit schlüge, wo die Lehren der
Jahre 1848 und 1849 bereits vergessen wären.
Deshalb schon und um dieser nützlichen Vergegenwärtigung der Lage willen,
in welche Deutschland bei einer verhängnisvollen Krisis immer wieder aufs
neue wird geraten können, sollte man das Exzentrische dieser Publikationen
mit Ruhe hinnehmen. Manche von denen, die hier als "Schurken" und
"Halunken" bezeichnet werden, leben allerdings noch, aber sie mögen doch
nicht glauben, daß man sie um deshalb, weil sie hier so genannt worden
sind, nun wirklich dafür halten und in der Geschichte als solche stempeln
wird. Viele davon mögen ernsthaft genug ihr Teil verschuldet haben, aber
auch diese mögen annehmen, daß die öffentliche Meinung an ihre Reue und
an manche bessere Besinnung glaubt. Vor allem verrät der Ton dieser
beiden neuerschienenen Bände, daß der Verfasser der "Tagebücher" wirklich
an der Zeit krank war und über die Täuschung seiner Hoffnungen oft sein
Herz brechen fühlte. Die Wahrheit, mit welcher dieser Schmerz empfunden
und geschildert wird, ist in der Tat erschütternd und versöhnt uns nicht
nur mit der Herbheit seiner Aufzeichnungen selbst, sondern überhaupt mit
manchen Zügen in Varnhagens Charakter, mit welchen wir uns früher nicht
hatten befreunden können. Wir begegnen hier einem Glauben an die Rechte
der neuen Zeit und an den letztlichen Sieg der Freiheit, einem Glauben an
den Wert und den Adel des Volks, wie er sich schöner nicht in den Werken
der berühmtesten Freiheitshelden, nicht reiner bei Franklin findet.
Auch diese neuen Bände werden vielen Federn Anlaß bieten, in mannigfacher
Weise auf ihren interessanten Inhalt einzugehen. Unserer Zeitschrift
fehlt dazu der Raum. Nur eine Bemerkung wollen wir nicht unterdrücken,
die auf den politischen Charakter Preußens und Berlins geht. Jene Jahre
waren allerdings die der allgemeinen Verwirrung, aber am verworrensten
sah es doch wohl in Berlin aus. Wir denken hierbei nicht an die
Bassermannschen Gestalten, nicht an die ratlose, hin und her geäffte
Bürgerwehr, nicht an den zu allen Zeiten schwer zu bewältigenden
Straßengeist Berlins, sondern an die Sphäre der Intelligenz und der
privilegierten Politiker. Letztere rekrutierten sich eigentümlicherweise
aus frondierenden Beamten und pensionierten oder auf Disposition
gestellten Militärs, wie denn Varnhagen selbst ein solcher zur
Disposition gestellter Diplomat war. Das Hin und Her, das Zutragen,
Besserwissen, die Medisance, das Klatschen gerade dieser Sphäre ist so
höchst auffallend, daß man die Gefahren des Throns weit weniger versucht
wird in der demokratischen Sphäre zu suchen als da, wo der Thron seine
Stützen zu suchen pflegt. Eitelkeit, Unzuverlässigkeit, Rachsucht,
hämische Schadenfreude verbinden sich hier mit einer müßiggängerischen
Phantasie, die unausgesetzt sich selbst und andere alarmiert und an einen
Nachen denken läßt, der im Sturm nur durch die Unruhe und das Hin- und
Herlaufen seiner Passagiere untergeht. Dies ist ein bedenklicher
Charakterzug jener Menschen und Gegenden, welche bekanntlich die deutsche
Hegemonie und im Fall der Gefahr unsere Kriegsführung anstreben. Denkt
man sich diese spezifisch berlinisch-preußischen Elemente beim Beginn
eines Feldzugs oder am Vorabend einer Schlacht, so darf uns so
außerordentlich viel Weisheit, so außerordentlich viel (nur durch die
Furcht!) aufgeregte Phantasie, verbunden mit der im schwatzhaftesten
Dreiachteltakt gehenden Suada, die niemanden zu Worte kommen läßt,
ernstliche Besorgnisse einflößen.

* * * * *
III. Drei Berliner Theatergrößen


Ernst Raupach (1840)

Raupach scheint jetzt Berlin gegenüber einen schweren Stand zu haben.
Selbst seine Freunde fühlen sich in der Teilnahme, die sie ihm sonst zu
schenken pflegten, erschöpft. Und doch find' ich, daß seine neuern Sachen
nicht schlechter sind, als die früheren, daß sie denselben Zuschnitt
haben und dieselbe Kenntnis der Bühneneffekte verraten. Sollte vielleicht
die sehr glückliche Stellung dieses Mannes beneidet werden? Raupach hat
von der königl. Bühne einen jährlichen Gehalt von 600 Talern und bezieht
für jeden Akt seiner Dramen außerdem noch 50 Taler. Seine Dramen (müssen)
zwar nicht angenommen werden, aber sie werden es fast immer, jedenfalls
wird jedes angenommene Stück außerordentlich begünstigt und kann auf
schnel1ste Erledigung rechnen. Wie schöne Kräfte könnten nicht für die
Bühne gewonnen werden, wenn man andern dramatischen Talenten nur einen
Teil dieser Begünstigungen zuwendete! Denn nur aus einem intimen
Anschließen an eine Bühne, die willfährig selbst schwächere Versuche
darstellte, kann Lust und Kraft fürs Theater gezeitigt werden. Wird man
seiner Fehler nicht ansichtig, so lernt man niemals, sie vermeiden. Daß
Raupachs Stellung für die in der dramatischen Literatur aufkeimende
Bewegung hemmend ist, liegt auf der Hand. Seine weitbauschigen Dramen
werden an der hiesigen Bühne nach alten eingegangenen Verpflichtungen
bevorzugt und jährlich nur vier solcher Dramen--und den andern ist die
Hälfte der Theater-Abende und Memorial-Vormittage entzogen.
Eine Frage ist auch die: (Was treibt Raupach, Dramen zu schreiben?) Der
Ehrgeiz, sich als Theater-Dichter zu bewähren? Nein, er ist dafür
anerkannt. Eine innere Notwendigkeit, ein Drang des Nichtlassenkönnen?
Das schon eher: Ich glaube sogar, daß Raupach nach dem Maß seiner Kräfte
von seinen Stoffen begeistert ist. Nun wird man ihm doch gewiß noch zehn
Jahre gönnen müssen: auf jedes Jahr vier Dramen: macht die Aussicht, aus
seinem unverwüstlichen Schaffenstrieb noch 40 Dramen zu erhalten! Sollt'
es nicht da eine Grenze geben? Besäße Raupach die Vielseitigkeit eines
Kotzebue, dann wäre die Aussicht minder abschreckend. Allein immer
derselbe Stelzengang Schillerscher Geschichtsauffassung, immer dieselben
den Schauspielern desselben Theaters auf den Leib zugeschnittenen
Charaktere--man muß das Publikum bedauern, weil es bei aller Mannig-
faltigkeit doch im Grunde nichts Neues sieht, und die Schauspieler,
weil sie die Kraft ihres Gedächtnisses an das nur allzuleicht
Vergängliche verschwenden ...


Ludwig Tieck und seine Berliner Bühnenexperimente (1843)

Es bestätigt sich denn wirklich, daß nach des Sophokles "Antigone" nun
des Euripides "Medea" die Ehre hat, vom Königl. Hoftheater in Berlin zur
Darstellung angenommen und zu demnächstiger Aufführung bestimmt zu sein.
Als den Urheber dieses Planes bezeichnet man ziemlich einstimmig den geh.
Hofrat Tieck. Mendelssohn ist bereits daran, die Chöre zu instrumentieren.
Die Philologen freuen sich schon auf die gelehrten Abhandlungen, mit
denen sie die Spalten der Berliner Zeitungen werden füllen können.
Die ästhetische, lebendige, durch und für die Zeit lebende Kritik kann
aber in diese Freude nicht einstimmen. Im Gegenteil muß sie dieses
pseudoartistische Treiben mit gerechtem Unwillen erfüllen. Sie muß es
unerschrocken aussprechen, daß die Vergeudung der Kräfte, die eine solche
scheinbare Wiederbelebung des verfallenen Staubes alter Zeiten kostet,
eine unverantwortliche Beeinträchtigung der Gegenwart ist. Ja, nicht nur
eine Beeinträchtigung, sondern eine Beleidigung der Gegenwart.
Tieck mißachtet unsere Zeit. Er mag sich in dieser gehässigen Gesinnung
gegen sein Jahrhundert gefallen, wo er will, in seinen Dresdener
Leseabenden, unter den Eichen von Sanssouci, überall, nur nicht da, wo er
durch seinen Einfluß der Gegenwart ihr lebendiges Recht, das Recht des
Lebens, entzieht. Ja er mag auf einem Privattheater alle Dramen von
Aeschylus bis Holberg nach seinen Angaben vorführen lassen, nur eine dem
Volk, eine der Zeit und ihren Rechten angehörende Bühne sollte vor dem
Schicksal bewahrt sein, das Opfer dilettantischer Liebhabereien und
literarhistorischer Proteste gegen die Mitwelt zu werden. Ist Herr v.
Küstner schwach genug, sich freiwillig, aus Kassenzweck, solchen
Chimären, die seinem dramaturgischen Bildungsgange gänzlich fremd,
hinzugeben,--so ist dies schlimm. Ist sein Einfluß so gering, daß er
unfreiwillig der gehorsame Diener der ihm angedeuteten Wünsche sein
muß,--so ist es noch schlimmer.
Das Mittel, welches Ludwig Tieck ergreift, um unserer Zeit seine
gründliche Verachtung zu erkennen zu geben, ist ein dilettantisches
Experiment, welches, auf Sand gebaut, einen Nutzen für Kunst und
Literatur nie und nirgends bringen kann. Wird uns "Antigone" bessere
Liebhaberinnen, wird uns "Medea" bessere tragische Mütter bringen?
Bedürfen wir in einer Zeit, wo es der Schauspielkunst gerade an der
Wahrheit der Natur und den unmittelbaren Affekteingebungen gebricht,
jambenkundige Verssprecher und Verssprecherinnen? Bedürfen wir zur
Belebung des Sinnes für höheres Schauspiel solcher Hilfsmittel, die,
überwiegend von der Musik unterstützt, durchaus ein für das rezitierte
Drama nur zweideutiges Ergebnis erzielen können? Ist die Weltanschauung
der antiken Tragödie eine erhebende für das Christentum, eine belehrende
für den modernen Dichter, der ein ganz anderes Fatum zu schildern hat,
als das blinde, hoffnungslose, starre antike? Werden Dichter,
Schauspieler und Publikum sich durch solche aus der Luft gegriffene
Mittel bessern, vervollkommnen, veredeln?
Ich höre, ein derlei praktischer Nutzen würde auch mit den Zitierungen
jener klassischen Gespenster gar nicht bezweckt. Nun denn, so sei es die
Sache an sich, so sei es das reine Experiment des Literarhistorikers, der
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