Berlin — Panorama einer Weltstadt - 02

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Veränderung treffen, so wird doch darum die erhöhte Wachsamkeit der
Behörden um so dringender. Ohne eine neue Wächter- und Patrouillen-
Organisation wird in Berlin die Gefahr des Eigentums immer mehr zunehmen.
Dieser Gegenstand läßt aber noch tiefere Betrachtungen zu. Ist in Berlin
den Dieben ihr Handwerk erleichtert, wo kommen all die Diebe her? Woher
diese sittliche Verwahrlosung, von der wir tägliche Belege erfahren?
Woher gerade in Berlin diese immer mehr zunehmende Verworfenheit? Harun
Al Raschid, der verkleidet des Nachts durch die Straßen ging, Harun Al
Raschid würde darüber sehr tief nachgedacht haben, wenn er diese
Beobachtung an Bagdad gemacht hätte.
Es ist wohl möglich, daß nach Berlin, wo die Diebe eine so bequeme
Wächter- und Häuserordnung antreffen, viel fremdes Gesindel zieht, und
doch steht es fest, daß Berlins Unsicherheit größtenteils aus seinem
eignen Schoße entspringt. Die Entdeckungen und Signalemente weisen dies
aus. Es ist ein betrübendes Geständnis, das man sich nicht ersparen darf:
In Berlin ist die Wurzel des Volkes faul. Die Immoralität frißt wie ein
Krebs um sich. Die Familien sind zerrüttet, zu der Armut und
Brotlosigkeit gesellt sich die Neigung zum Verbrechen; die dem Berliner
eigene Keckheit und Verwegenheit steigert das Gelüst zum Entschluß, den
einmaligen Entschluß zum immerwährenden Handwerk; die Zuchthäuser liefern
die Verbrecher nicht gebessert zurück, sondern in kurzem sieht sich die
richterliche Gewalt genötigt, den Verbrecher aufs neue einzuziehen und
ihn auf zwanzig Jahre dorthin zu schicken, wo er bereits fünf Jahre
umsonst gesessen.
Es gibt eine moralische Erziehung und eine moralische Unerzogenheit des
Volkes. Die Früchte derselben reifen erst in spätern Jahren. Man wird für
Berlins gegenwärtige Verwilderung die Ursachen in vorangegangenen Fehlern
suchen dürfen. Eine richtige Erkenntnis dieser Fehler muß zu den Mitteln
führen, sie künftig zu vermeiden. Mein Versuch, diese Erkenntnis zu
befördern, wird Widerspruch finden. Ich will aber offen meine Meinung
sagen.
Aus dem Mangel an edlem geistigen Stoff, aus dem Mangel würdiger
öffentlicher Tatsachen ist der zweite Grund dieser sittlichen
Verwahrlosung herzuleiten, die isolierte Vergnügungssucht. Auch Wien ist
ohne öffentliche Tatsachen, aber Wien hat kombinierte, nicht isolierte
Vergnügungen. Es ist dies keine Wortantithese, sondern ein wirkliches
Sachverhältnis, dessen schädlichen Einfluß auf die Sittlichkeit ich
beweisen will. Der Wiener erholt sich an der allgemeinen Freude, an der
Freude, die alle teilen. Seine Natur lockt alle, befriedigt alle. Sein
Vergnügen ist durch Überlieferung seit Jahrzehnten vorgezeichnet. Musik,
Tanz, Theater, heitere Ausflüge in die schönen Umgebungen. In Berlin
isoliert sich alles. Keine öffentliche Vergnügung befriedigt und so
entstehen diese Ressourcen, diese Picknicks, diese geschlossenen
Gesellschaften, diese Kränzchen, dies Jagen nach "Privatvergnügen", dies
Spelunkenwesen der Weinstuben, Konditoreien, Tabagien. Die Kräfte der
Familien überbieten sich, diese Subskriptionsessen und Ressourcenbälle
verursachen Ausgaben, die den Handwerker in Schulden stürzen, die
Leihhäuser füllen sich, der geweckte Libertinismus der Frauen reißt die
Männer in Strudel, wo sie nicht mehr ihrer Sinne, bald auch nicht mehr
ihres Gewissens mächtig sind. Hat man nicht in Berlin eine Diebs- und
Hehlerbande entdeckt in dem Augenblick, als sie sich in einer Reihe von
Kellerstuben zu einem glänzenden Ball vereinigt hatte? Boz kann nichts
Grelleres erfinden und Madame Birch-Pfeiffer nichts Drastischeres in
Szene setzen.
Muß man nicht hier ein spezielles schlechtes Regierungssystem, so muß man
vielleicht den ganzen modernen Staat anklagen. In meinen Pariser Briefen
hab' ich von unserer Politik gesprochen, die nur den Menschen ausbeutet,
nicht ihm hilft, das Genommene zu ersetzen. Ich habe ein Ministerium der
öffentlichen Wohlfahrt vorgeschlagen, das sich mit positiven Schöpfungen
beschäftigen müsse, um das Individuum vor dem Staate zu sichern, den
Acker, den man beernten will, auch zu besäen. Hier ist ein neues Ziel,
das eine solche Institution sich stecken müßte. Zerstört diesen
Isolierungstrieb! Bindet die Menschen für ihre Vergnügungen aneinander!
Erfindet etwas im Zeitalter der Erfindungen! Erfindet etwas Geistiges,
etwas Moralisches, neben dem vielen Technischen und Materiellen! Was
könnte Berlin Ersatz geben für den Mangel einer heiteren und
zerstreuenden Natur? Was könnte diese Tausende von gedankenlos zum Tor
hinauswandelnden Sonntagsspaziergängern vereinigen? Was kann das Innere
der Stadt abends bieten, wenn die Sonne untergegangen ist und man
heimkehrt und nicht in seine vier Pfähle rückkehren will? Denkt doch
darüber nach, ihr philosophischen Staatsmänner, die ihr jetzt in Berlin
das Ruder in Händen habt! Gebt dem Volke nicht etwa polizeilich
angeordnete Spektakel, sondern weckt den Trieb des Volkes, selbst
dergleichen zu erfinden oder sich an dem von fremdher gegebenen Anstoß zu
beteiligen. Ehrt die Neigung zur Öffentlichkeit! Verbietet nicht, wie das
noch vor vier Jahren in Berlin beim Buchdruckerfest so gehässig war,
öffentliche Aufzüge; laßt die Menschen sich menschlich austoben, dann
werden sie nicht in die Kellerlöcher kriechen und es tierisch tun. Eines
der sichersten Mittel zur Volksveredelung sind die Theater. Ich erinnere
an die wahren Worte, die ich von Guizot in meinen Pariser Briefen
mitteilte: "Ein starker Theaterbesuch leitet alle schlechten Gelüste der
niedern Volksklassen ab." Berlins Opernhaus wirkt wenig auf die
Moralität, das Schauspielhaus erhielt durch den vorigen König ganz jenen
Privatcharakter, der in allem die Grundlage so vielen Verderbens für
Berlin ist, das Königsstädter Theater hat zwischen Nestroys Possen und
der glänzenden italienischen Oper, wo Rubini per Abend 800 Taler bekommt
und die Preise der Plätze verdreifacht sind, keinen Mittelweg. Das
Theater, in Wien und Paris ein so harmloser Hebel der Sittlichkeit, ist
in Berlin eine künstliche Anstalt, die mit dem Volke in keiner anregenden
Verbindung steht. Entweder muß man in Berlin die Hofbühne entschieden zur
Volksbühne umwandeln, oder Vorstadttheater gestatten, eines für die
Gegend nach dem Köpenicker Felde zu und ein anderes nach der Richtung des
neuen Hamburger Tores. Nur vorläufig zwei solcher Theater, gut
beaufsichtigt, in Hinsicht der vorzustellenden Stücke völlig freigegeben,
mit niedrigen Eingangspreisen. Zwei solcher Volkstheater, natürlich mit
Aufhebung der bestehenden sogenannten Liebhabertheater, könnten den
auffallendsten Einfluß auf die Sittenverbesserung Berlins haben.
Endlich ist der dritte Punkt die Volksbildung selbst und die Religion.
Für die erste, insoweit sie durch Schulen erreicht wird, ist wohl in
Berlin hinlänglich gesorgt. Nicht umsonst hat man vielleicht der vorigen
Regierung ihr Schulwesen nachgerühmt. Aber es ist eine bekannte Tatsache,
daß Kenntnisse an und für sich noch nicht die Sitten reinigen. Sie
befördern zuweilen eher die Verschlagenheit und machen nur geschickter zu
den Verbrechen. Aus Rechnen, Lesen und Schreiben wird noch kein
sittlicher Mensch. Der Konfirmandenunterricht wird in Berlin nicht eben
sehr ernst betrieben. Das "Eingesegnetwerden" ist ein mehr bürgerlicher,
als geistlicher Akt. Die Zahl der Konfirmanden ist zu groß und dem
Geistlichen fehlt in allem, so auch hier die durchgreifende
Beaufsichtigung seiner Gemeinde. Sie ist bei einer so großen Stadt und
der Freiheit vom Beichtzwange schwer oder ganz unmöglich. Tun nun die
Kirchen ihre Pflicht? Wird die Religion so gepredigt, daß sie veredelnd
und tief in die Sittlichkeit des Volkes eingreifen kann?
Das ist denn wiederum ein wichtiger und außerordentlich schlagender
Punkt, wo sich die Gebrechen der vorigen Regierung offen zur Schau geben.
Nein, das Christentum hat in Berlin die Wirkung nicht, die es haben
könnte und haben sollte. Christus wird in Berlin in einer Weise
gepredigt, die höchst beseligend, höchst beglückend auf einen Einzelnen
wirken kann. Es gibt wahre Frömmigkeit in Berlin. Es gibt Versammlungen,
in denen man sich mehr erbaut als in den Kirchen, es gibt Kirchen, in
denen ein warmes, für den Himmel läuterndes Christentum sicher mit dem
trostreichsten Erfolge für das Glück vieler Familien gepredigt wird. Aber
was kann auf unsere Zeit der Pietismus im großen und ganzen wirken? Ein
Lamm rettet man; was geschieht aber, um die tausend Räudigen anzulocken?
Haben wir gesehen, daß in Berlin alles Privatsache geworden war, so ist
auch das Christentum dort Privatsache geworden. Einzelne Prediger, wie
Couard, Strauß, Arndt haben einen großen Zulauf, aber nur von gläubigen
Seelen, von solchen, die sich im Christentum befestigen, nicht von
solchen, die erst für seine Wahrheiten gewonnen werden. Die Masse geht
nicht in diese Kirchen. Sie würde gehen, wenn dieser theologische
Radikalismus ihr die Tugend nicht gar zu schwer machte. Man soll dort
einen ganz neuen Menschen anziehen, nicht neue Lappen auf das alte Kleid
flicken, nicht jungen Wein in alte Schläuche füllen, sondern ein ganz
neugeborener Mensch werden. Dies Christentum kann nie auf die Masse
wirken, diese Besserungsmethode der Menschheit setzt einen religiösen
Heroismus voraus, der sich nur bei wenig Auserwählten findet und so ist
in Berlin auch die Religion, die erste Springfeder des sittlichen
Volkslebens, aus Überreligion ohne durchgreifende Wirkung.
Um dem Christentume Allgemeinheit und Einfluß auf die Sittlichkeit einer
Nation zu geben, muß es entweder auf den Aberglauben wirken, wie durch
die mystischen Zauber des Formendienstes im Katholizismus, oder es muß
mit schlichter Einfachheit und überzeugender Wärme auf die moralischen
Grundwahrheiten zurückgeführt werden. Ein protestantischer Staat kann für
seinen sittlichen Zweck auf die mitwirkende Kraft des Christentums nur
dann rechnen, wenn er den Predigern einen klaren, gefühlvoll und beredsam
vorgetragenen Rationalismus zur Bedingung macht. Es ist mit der Religion
gerade wie mit der Poesie. Dem Gebildeten mögen Körner, Tiedge und
ähnliche Talente sehr tief stehen, aber die Masse findet ihre Rhetorik
sehr schön und begreift nicht, was uns an Novalis, Brentano und selbst an
Goethe mehr anziehen kann. Ein geistvoller Gedanke geht der Menge
verloren, während sie einem Gemeinplatze zujubelt. So mögen die Denker
und Gefühlsmenschen im Christentum die tieferen Bezüge ansprechen und
beschäftigen: Als Religion, als sittliche Hilfsmacht wirkt das
Christentum nur durch eine talentvolle, mit Geschmack und Beredsamkeit
vorgetragene Ausbeute seiner moralischen und gefühligen Grundwahrheiten.
Wer mir Prediger sein wollte, dürfte mir mit seiner Rechtfertigungstheorie,
mit der Wiedergeburt, der Genugtuungslehre und der üblichen pietistischen
Polemik nicht auf die Kanzel kommen. Hätte man in Berlin geistvolle und
beredte nationalistische Geistliche wie Schmaltz in Hamburg, Böckel in
Oldenburg, Friedrich in Frankfurt, Goldhorn in Leipzig, Bretschneider in
Gotha, hätte man statt einer Clique junger Kopfhänger eine Schule
wahrhaft menschheitsveredelnder, talentvoller junger Kanzelredner
gestiftet, die Kirchen würden überfüllter und die Gefängnisse
leerer sein.
Man mag gegen Friedrich Wilhelm IV. gestimmt sein, wie man will, soviel
ist gewiß, er will seine Länder im großen Stil regieren. Hier wäre denn
Gelegenheit genug zu den glorreichsten Schöpfungen.
[Nachtrag:]
In dem Aufsatz: "Berlins sittliche Verwahrlosung" hat man es auffallend
gefunden, daß von einem zweiten und dritten Grunde dieses Übels die Rede
ist, ohne daß des ersten erwähnt wird. Der erste Grund war aus der
Politik und der mangelnden Öffentlichkeit unter dem vorigen Könige
hergeleitet, doch mußte die nähere Ausführung aus unmittelbar vor dem
Druck des Blattes geltend gemachten Rücksichten wegbleiben, deren Natur
jeder Kundige erraten wird. So viel, um wenigstens die logische Ordnung
des Artikels herzustellen.


Geist der Öffentlichkeit (1844)

Berlin ist eine Weltstadt geworden. Früher war Berlin nur eine große
Stadt. Berlin hat an Bewohnerzahl und Umfang unglaublich zugenommen, aber
in dieser äußern Vergrößerung liegt der auffallende Fortschritt nicht
allein. Er liegt im erweiterten Anschauungs-Horizont, im Durchbruch nicht
allein von Straßen und neuen Toren, sondern im Durchbruch alter
Vorurteile und Gewohnheiten, im vermehrten geistigen Betriebskapital, in
der Zunahme eines Selbstbewußtseins, das sich mit einem großen sittlichen
Nationalleben in Zusammenhang zu setzen verstanden hat. Es ist
überraschend, wie sich die schlummernden Kräfte allmählich entwickelt
haben. Von unten fängt das an und hört oben, in idea1ster Höhe, auf. Der
Eisenbahnverkehr hat Berlin endlich in jenen unmittelbaren Zusammenhang
mit andern großen Städte-Entwickelungen gebracht, der ihm früher fehlte.
Früher bezogen sich nur Potsdam, Brandenburg, Treuenbrietzen, Bernau auf
Berlin, jetzt Leipzig, Magdeburg, die Ostsee und bald Hamburg und
Schlesien. Der frühere kleinstädtische Geist ist gewichen, große Gasthöfe
sind entstanden, die Basis aller gemeinschaftlichen Unternehmungen beruht
auf breiteren Dimensionen. Man sieht das, bewundert es, oder muß
wenigstens seine Freude daran haben.
Was man in auswärtigen Zeitungen als die laufende Tagesordnung von Berlin
besprochen findet, das ist alles keineswegs Erfindung, sondern Tatsache,
durchgesprochene, lebendige Tatsache. Es stehen sich hier wirklich
Parteien und Parteien, Menschen und Menschen gegenüber. Es hat sich hier
wirklich ein Geist der Öffentlichkeit entwickelt, dem bis zur Stunde zwar
edle und würdige sowohl, wie dauernde und belebende Organe fehlen, ich
meine die Organe faktischer Institutionen, dessen Ringen und Drängen aber
so mächtig ist, daß es Augenblicke geben kann, wo wir uns im Anschauen
dieser Strebungen nach Paris versetzt glauben. So wie jetzt in Berlin muß
es zur Zeit der Restauration in Paris gewesen sein. Das Katheder ist die
vorläufige Volkstribüne, die Wissenschaft die vorläufige Politik. Wie das
wogt und treibt! Keine Meinung will mehr allein stehen, eine Bestrebung
lehnt sich an die andere. In Berlin wohnen und nichts wirken, nichts
vorstellen, nichts vertreten, ist der geistige Tod, ist Nullität, heißt
wenigstens Nullität, und jeder fürchtet sie. Man hat angefangen, die
Bedeutung eines öffentlichen Charakters zu fühlen. Die ruhmvol1sten Namen
aus der alten Schule sieht man im Verkehr mit den erst sich machenden aus
der jungen. Unpopulär zu sein, wagt niemand. Jeder muß einen Kreis von
Gleichgesinnten um sich haben, er muß sich nach Anlehnungen umsehen. Kann
er nicht selbst einen Mittelpunkt bilden, so ordnet er sich unter und
wird Stammgast im Salon eines andern. Berlin hat seine Salons, in der Tat
Salons im französischen Wortsinne. Ich muß sogar so weit gehen, zu
behaupten, daß es mit Geldkosten verknüpft ist, in Berlin eine eigene
Meinung zu haben. Man muß seinen offenen Mittwoch, seinen offenen
Freitag, seinen Dienstag haben, um hier ein durchgreifender, öffentlicher
Charakter zu sein. Das ist kostspielig, hier mit Tieck, mit den Grimms,
mit Herrn von Savigny zu rivalisieren. Man muß wünschen, daß sich diesen
Gasströmungen von Ehrgeiz, Tendenz, Zorn, Begeisterung, Rache, ehe es
eine Explosion gibt, bald ein luftreiner Zylinder darbieten möchte, ein
Abzug ins öffentliche, große Volksleben, durch irgendeine Tatsache, durch
irgendein Ereignis, durch irgendeinen Schritt weiter auf der betretenen
Bahn besonders des Ausbaues der ständischen Institutionen. Dies oder
irgend etwas anderes muß erfunden werden, um diesem Wettkampf von
Meinungen und Leidenschaften eine schöne höhere Wahrheit zu geben und
solchen Zerrüttungen vorzubeugen, wie sie z.B. jetzt infolge der
traurigen Grimmschen Erklärung, durch welche sich zwei berühmte Namen um
alte Liebe und Hingebung gebracht haben, schon eingetreten sind.
Einige der auf der Reise empfangenen Eindrücke mögen in bunter Reihe hier
wiedergegeben werden.
Am 29. März beschloß Dr. Mundt seine vor einem gemischten Publikum
gehaltenen Vorlesungen über die Gesellschaftsfrage unserer Zeit. Es war
fünf Uhr. Im Saale des Jagorschen Hauses Unter den Linden versammelte
sich so ziemlich der größte Teil des ästhetisch- produktiven Berlins,
Dichter, Gelehrte, Musiker, Gläubige und Prüfende, Hingegebene und
Zweifelnde, wie dies um so mehr bei einem Gegenstande der Fall sein
mußte, dessen öffentliche Behandlung in gewissen Regionen bedenklich
erschienen war. Als sich etwa 150 Personen eingefunden hatten, erschien
der Redner. Ich fühlte mich an die Vorträge von Edgar Quinet im Collège
de France erinnert. Nur schade, daß sich Mundt zu sehr auf sein Heft
verließ und einen Gegenstand, der so tief in Herz und Nieren greift,
nicht mit freier Rede um so überzeugender darstellte. Die Wärme der
Begeisterung fehlte dem Redner nicht, eine jeweilige Handbewegung verriet
selbst seine Absicht, das, was er vorlas, als entquollen seinem innersten
Gefühle darzustellen; doch kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß
ein selbst ungeregelter Vortrag mit Anakoluthen, Wiederholungen und allen
Klippen eines ungewohnten oratorischen Versuches dennoch eindringlicher
spricht, als ein geschriebenes Heft.
Der Inhalt der Rede erweckte die wärmste Teilnahme. Bot ihr Anfang
demjenigen, der sich mit der Sozialwissenschaft unserer Tage beschäftigt
hat, auch nichts Neues, so erhob sie sich doch in ihrem weitern Verlauf
zu einem höheren Aufschwunge, in welchem sich zum ernsten Denker der
sinnige Dichter gesellte. Der Redner sprach von den Rechten der Armen und
den Pflichten der Reichen. Er behandelte jenen ergreifenden Gegenstand
des Pauperismus, der jetzt nur noch alle Federn, bald aber auch
hoffentlich alle Herzen in Bewegung setzen wird. Jene rührende Humanität,
welche sich in den Schriften derjenigen Franzosen findet, die sich mit
sozialistischen Fragen beschäftigten, hatte, man sah es, in des Redners
Herzen ein Echo gefunden. Er sprach mild und sanft von den Proletariern
der Gesellschaft, und ein gewisses kaltes Phlegma, eine gewisse
doktrinäre Selbstzufriedenheit hinderte doch nicht, daß in einigen
weihevollen Momenten ein schöner Abglanz von Gemüt und Wehmut auf seinen
Gesichtszügen hervorbrach. Besonders war die Bemerkung, daß jetzt bei den
Fortschritten der Volksbildung der Vater beschämt von seinem aus der
Schule heimkehrenden unterrichteteren Kinde lernen könne, ebenso
geistreich aufgegriffen, wie zart und innig durchgeführt.
Über manches teile ich nicht des Redners Meinung. Er sprach von Owen und
würdigte ihn nicht genug, trotzdem, daß er mit Achtung von ihm sprach. Er
kam zu oft auf den Mangel an Poesie in Owens System zurück. Poesie ist in
der Sozialfrage ein gefährliches Wort. Braucht man es zu oft, so kann man
dahin kommen, daß am Ende nichts poetischer als die Armut ist, und der
Armut soll doch abgeholfen werden. Wer vom Leben zu viel bunten Effekt
verlangt, dem wird freilich das Ziel einer allgemeinen Glückseligkeit
unpoetisch erscheinen. So manches andere in des ehrenwerten Redners
Äußerungen ließen mich fast besorgen, er hätte das Thema der materiellen
Gesellschaftsfrage nur zum Kanevas von allerhand auf anderm Gebiet
spielenden Anmerkungen gemacht, von Anmerkungen, die ich sehr treffend,
sehr zeitgemäß, ja sehr freimütig und gegebenen Umständen gegenüber kühn
fand, die aber doch nur mehr dem idealen Gebiet angehörten und die
Ansicht vorauszusetzen schienen, man könne Hungernde mit Sonnenlicht
sättigen und Dürstende mit den Farben der Blumen tränken. Der Redner
kannte die praktischen Schäden, wollte sie heilen und wich wiederum dem
praktischen materiellen Gebiete aus. Doch abgesehen von diesem Einwurf,
der ohnehin auf einem Mißverständnis beruhen kann, hat sich Mundt ein
großes Verdienst erworben, daß er in jener unmittelbaren Form, in der
Form der Rede, einen Gegenstand zur Sprache brachte, der immer mehr in
den Vordergrund der Debatten treten und jene welt- und gottweise
Philosophie beschämen wird, die im Webstuhl ihrer Abstraktionen nur
Leichentücher für das Leben spinnt ...


Mystères de Berlin? (1844)

Das ist gewiß charakteristisch! Mein erster Blick auf eine der hiesigen
Zeitungen fiel auf den Vorschlag eines Frühgottesdienstes für
Droschkenfuhrleute. Wahrlich, dieser Vorschlag verleugnet seinen Ursprung
nicht! Zwar ist derjenige, der ihn zunächst machte, ein Jude (der
Besitzer der Haupt-Droschkenanstalt), aber auch das ist bezeichnend; die
spekulativen Juden, die Juden, die den Geist der Zeit verstehen,
bestreben sich hier, dem Überchristentum in die Hände zu arbeiten. Ein
Frühgottesdienst für Droschkenfuhrleute! Man mache sich recht klar, was
darunter zu verstehen ist. Man hat nämlich gefunden, daß die
Droschkenführer von früh bis Mitternacht ihrem Herrn und Lohngeber dienen
müssen. Auch den Sonntag heiligen sie nicht. Um sie nun der Kirche nicht
gänzlich verloren zu geben, läßt man ihnen jetzt morgens, wenn sie ihre
Wagen reinigen, wenn sie ihre Pferde anschirren, rasch von einem eigens
bestellten "Droschkenprediger" eine kurze geistliche Rede halten. Man
glaubt, wenn man so etwas erfährt, in England oder Pennsylvanien zu sein.
Diesem Frühgottesdienst für Droschkenführer müssen, wenn man konsequent
sein will, noch diese Einrichtungen folgen:
Ein Frühgottesdienst für Briefträger.
Ein Nachmittagsgottesdienst für Milchkarrenschieber; denn auch diese
Fuhrleute bringen ja jeden Sonntag die Milch zur Stadt. Gut, ich glaube,
daß es wünschenswert ist, auch die Droschkenfuhrleute an die Kirche zu
gewöhnen; aber hätte die gesunde Vernunft und die Billigkeit jenes
überchristlichen Juden, wahrscheinlich eines Kommerzienrates, nicht einen
andern Ausweg finden können? Wie nun, wenn man bei den Droschkenställen
keinen Gottesdienst errichtet, wohl aber jedem Droschkenführer es möglich
gemacht hätte, alle vierzehn Tage oder wenigstens alle vier Wochen einen
halben Sonntag frei zu haben, einen halben Sonntag, wo er die Kirche
besuchen kann? Erlaubte das die Dividende des Kommerzienrates nicht? Ihr
habt ein so großes Mitleid mit der Seele des Droschkenfuhrmanns und sorgt
für seinen Kirchgang, schenkt ihr ihm dann auch, dem geplagten, an seine
Karre gebundenen Menschen, einen Erholungstag? Spannt ihr ihn einmal aus
seinem Joche aus und errichtet einen Aktienverein zu einer Mittagsfreude,
zu einer Nachmittags-Belustigung? Statt daß also die hiesigen
Überchristen den Kommerzienrat zwingen sollten, jedem Droschkenfuhrmann
alle vierzehn Tage oder alle drei Wochen, die Reihe herum, einen freien
Sonntag zu geben, den er als freier Mensch, Christ und Staatsbürger
anwenden kann, wie er will, schlüpfen sie über den Mißbrauch des
privilegierten Droschkenregenten hinweg, sanktionieren die Tatsache, daß
kein Droschkenfuhrmann einen freien Sonntag hat, und sorgen nur einzig
dafür, daß ihm morgens vor Ausfahren aus dem Stall das Evangelium
gepredigt wird! O über den frommen Kommerzienrat!
Wenn dem religiösen Fanatismus keine Grenzen gesteckt werden, so erleben
wir noch die krankhaftesten Erscheinungen. Die übertriebene Heiligung des
Sonntags kann förmlich alttestamentarisch werden. Wenn sich z.B. Jemand
in den Gedanken vertieft, daß die Eisenbahnen an Sonntagen befahren
werden und das Bahnpersonal und die Lokomotivführer deshalb nicht die
Kirche besuchen können, würde man einem solchen Gemüt nicht zurufen
müssen: Behüte dich der Himmel vor Wahnsinn! Der religiöse Fanatismus,
der sich ferner der Armen und Kranken annimmt, hat Ansprüche auf unsere
vollkommenste Hochachtung, er steht den Geboten der reinen Humanität so
nahe, daß man nicht untersuchen mag, welches die Quelle seiner Hingebung,
Aufopferung und Liebe ist; wenn aber die Pflege der Armen strafend, die
Wartung der Kranken lästig und beängstigend wird, dann muß man selbst
gegen so an sich ehrenwerte Äußerungen des überchristlichen Sinnes kalt
werden. Strafend aber ist die Armenpflege, welche nur dem gibt, den sie
als rechten Glaubens erkennt; lästig und beängstigend ist die
Krankenwartung, die uns zwischen den Schmerzen des Körpers von der
Verworfenheit unserer Seele redet.
Es bereitet sich hier eine Menge praktischer Anwendungen des mildtätigen
Christentums vor. Die meisten davon stehen noch auf dem Papiere, einige
sind schon ins Leben getreten, z.B. ein Magdalenenstift zur Rettung
gefallener Mädchen. Was man von letzterem hört, läßt auf eine gesunde und
tatkräftige Ausführung dieser an sich löblichen Absicht nicht schließen.
Schon daß diese unglücklichen Personen durch eine eigene Tracht kenntlich
gemacht werden, ist einer jener finstern Nebengedanken, die wir strafende
Armenpflege nannten. Wenn es einen Weg geben kann, um solche Personen
einer sichern Besserung entgegen zu führen, so kann es nur der sein, sie
auf eine möglichst geräuschlose, stillschweigend liebevolle Weise der
Gesellschaft wiederzugeben. Eine schwarze Tracht mag allerdings bewirken,
daß der, der sich dem Magdalenenstift in die Arme wirft, gleichsam die
Tür hinter sich auf immer zuwirft und eine fast kartäuserartige
Resignation zeigen muß, aber wie wenig Gemüter werden einer solchen
Abtötung des letzten Restes von Stolz fähig sein! Gerade das, was Ihr
zuerst brechen wollt, diesen letzten Rest von Stolz, gerade das ist nur
das Samenkorn, aus dem sich eine neue Blüte des sittlichen Menschen
erheben kann. Was wird das Ende dieses Beginnens sein? Daß eine solche
Anstalt hinter ihrer guten Absicht zurückbleibt und, statt gebesserter,
dem Leben wieder gewonnener Verirrten, Heuchlerinnen erzeugt, die, wie es
der Fall ist, beim geringsten verführenden Anlaß wieder in ihre alten
Lasterwege zurückfallen.
Nach allem, was sich hier beobachten läßt, sieht man, daß man die Übel,
an welchen die heutige Gesellschaft krankt, hier mehr als irgendwo
erkannt hat. Man hat sie erkannt, weil man sie fühlt, weil sie sich zu
unabweislich von selbst aufdrängen. Aber in den Mitteln, den
gesellschaftlichen Schäden abzuhelfen, vergreift man sich. Man will den
Schäden unmittelbar begegnen, statt daß sie nur da wahrhaft zu heilen
sind, wo man ihrem ersten Grunde auf die Spur gekommen ist. Die Wurzel
muß man entdecken und den Wurm töten, der an der Wurzel nagt. Das
Begießen des welken Blattes an dem verkrüppelten Stamme fristet ihm eine
Weile das frische Ansehen des Lebens, dann aber fällt es ersterbend ab,
weil der aus der Wurzel quellende Balsam des Lebens, der Saft der
Gesundheit ihm stärkend nicht zuströmt.
Theodor Mundt sprach in seiner kürzlich erwähnten Vorlesung von dem
durchgreifenden Streben unserer Zeit nach "Glückseligkeit und Vergnügen".
Ich erschrak, wie er diese Tatsache so ohne weiteres als einen
feststehenden Satz, wahrscheinlich als die Prämisse seiner frühern
Entwickelungen einwerfen und voraussetzen konnte. Und doch stellt sich
diesem Satze, um ihn zu widerlegen, wenig gegenüber. Er ist wahr, er ist
bewiesen; bewiesen nicht nur durch den Luxus der Reichen, sondern auch
durch die brennende Sehnsucht und Entsagungsunfähigkeit der Armen. Am
unersättlichsten aber in Zerstreuungen ist der Mitte1stand.
Glückseligkeit und Vergnügen ist mehr denn je die Devise des Berliners
geworden. Die öffentlichen und Privatgelegenheiten zu Erholungen aller
Art haben sich reißend vermehrt. Die Straßenecken sind täglich mit mehr
als einem Dutzend Zettel beklebt, um zu Zerstreuungen einzuladen. Dabei
ist der Zudrang zu solchen Nahrungszweigen, welche wenig Anstrengung
erfordern, unverhältnismäßig. Wer früher nicht wußte, welches Gewerbe er
treiben sollte, eröffnete einen Tabakshandel. Jetzt haben sich dazu
Anlagen von Kaffeehäusern, Vergnügungsgärten, Konditoreien gesellt, die
mit derselben Schnelligkeit aufschießen, wie hier Mode-, Schnittwaren-,
Kleiderhandlungen und Gewerbeläden von solchen eröffnet werden, die diese
Gewerbe nicht selber treiben, sondern nur von andern treiben lassen. Und
mitten in diesem Sausen und Brausen von Vergnügungen dann jene Zustände
der Not und des Elends, die Bettina jenen menschenfreundlichen Schweizer
im Anhange ihres Königsbuches hat schildern lassen--der Gegensatz ist
schneidend.
Auswärts fühlt man diesen Gegensatz fast noch mehr als hier. Auswärts hat
man sich verwundert, wie mitten in diesen Tatsachen des dringendsten
Bedürfens, mitten in diesen beredten Schilderungen der hiesigen Verarmung
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