Berlin — Panorama einer Weltstadt - 10

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Wir gestehen, daß Fanny Lewald ihren Helden vom Gesichtspunkt des Weibes
sehr wahr auffaßte. Statt aller Kritik über ihn hat sie sich ganz einfach
in ihn verliebt. Ich finde diesen Zug in ihrem Buche für den schönsten.
Da ist kein nüchternes Räsonnement, da ist keine Prüfung, kein Abwägen
von Mehr oder Minder, sie liebt den Prinzen, wie ihn Rahel Levin geliebt
hat. Und gerade das muß den Treubund entzücken, gerade daraufhin kann
Graf Schlippenbach sagen: Seht da eine Demokratin, eine Jüdin, eine
eifrige Verfechterin der Grundsätze ihrer Freunde Simon und Jacoby, seht
da eine Märzheldin, die mitten im Zeitalter der Barrikaden Triumphpforten
für preußische Prinzen baut! Wie wir mit Blumenkränzen unsern
Garderegimentern entgegenwallen und sie mit Treubundshuldigungen in den
Bahnhöfen empfangen, wenn sie mit demokratenblutgefärbten Bajonetten in
ihre Kasernen heimziehen, so jauchzen in diesem Buche Männer und Frauen
einem Prinzen entgegen, der im Grunde nichts für die Menschheit leistete,
sich aber als Hohenzoller fühlte! Und eine Demokratin trägt uns hier die
schwarzweiße Fahne voran! Eine Feindin der aristokratischen Literatur!
Die berühmte Gegnerin unserer unübertrefflichen Ida!
Fanny Lewald wird sich über den Grafen Schlippenbach, noch mehr aber über
mich, der ihn so reden läßt, sehr erzürnen. Sie wird, ich seh' es, alle
diese Konsequenzen ihrer Liebe und Begeisterung für einen preußischen
Prinzen zurückweisen, sie wird, ich hör' es, ausrufen: Kleinliche
Menschen die ihr seid, kann man denn nicht mehr dem Zuge seines Herzens
folgen? Soll denn alles, alles Partei sein? Soll es denn nicht mehr
möglich bleiben, daß man jede bedeutende Erscheinung der Menschenwelt,
sie tauche nun auf in einem Auerbachschen Schwarzwald-Dorfe oder einer
George Sandschen Mare au Diablo oder auf dem Parkett der Ministerhotels
und Prinzenpaläste, mit Interesse, ja mit Liebe umfaßt und das Schöne,
Wahre, Strebsame auf allen Klimmstufen der Gesellschaft anerkennt? Das
hat sich Fanny Lewald gedacht, als sie diesen Roman schreiben wollte. Sie
hat sich ohne Zweifel noch größeres gedacht. Sie hat das Bild eines
zerfallenden Staates zeichnen wollen, sie hat geglaubt, einer sich jetzt
unüberwindlich dünkenden Gegenwart den Spiegel der Vergangenheit
vorhalten zu können, indem sie im Staat, der Gesellschaft, im Militär und
Zivil die Grundgebrechen schilderte, an welchen der Stolz und die
Eitelkeit jener Tage krankte, ohne es zu wissen. Diese polemische
Tendenz, der auch manche vortreffliche Seite ihres Werkes gewidmet ist,
ermutigte sie, jenes Bild eines Prinzen als Mittelpunkt ihrer Dichtung
festzuhalten und so den Vorwürfen zu begegnen, gegen die sie als strenger
demokratischer Charakter empfindlich sein mußte.
Wie dem aber sei, sie ist ihrem weiblichen Herzen zum Opfer gefallen. Sie
hat, angeregt von Varnhagen von Ense, jene bedeutsam Zeit schildern
wollen, wo sich in der Tat trotz Goethes Spott "Musen und Grazien in der
Mark" begegneten und Schlegel, Gentz, Fichte, die Rahel und ihre "Kreise"
mit einem liebenswürdigen, genialen Prinzen des königl. Hauses in
Beziehungen kamen. Es hatte sie das interessiert, besonders Rahels wegen,
mit der sie sich in ihrem Roman auffallend identifiziert. Aber der Erfolg
ist bei vielen vortrefflichen Eigenschaften ihres Werkes nicht gelungen.
Statt, wie eine künstlerische Intuition ihr sagen mußte, den Prinzen
episodisch zu benutzen, stellte sie ihn in den Vordergrund. Statt ihren
Roman z.B. durch eine Figur wie Karl Wegmann zu heben und zu tragen und
alle jene bedeutenden Menschen nur zuweilen in ihr Werk hineinragen zu
lassen, macht sie diese selbst zu Hauptträgern der Handlung und gibt eine
romantische Biographie, statt eines Romans. Prinz Louis bleibt immer der
Mittelpunkt. Sie dichtet ihm Empfindungen an, die zu beweisen sind, sie
gruppiert Menschen um ihn, die sie als edel, mindestens bedeutungsvoll
erscheinen läßt, während sie doch meist nur frivol und sittenlos sind.
Diese Pauline Wiesel, eine feine Berliner Kurtisane berüchtigten
Andenkens, erscheint bei unserer Verfasserin so relativ wertvoll und
interessant, so drapiert mit dem großen Umschlagetuch grell-moderner
Ideen und großblumiger Empfindungen, daß man erstaunt, wenn man sich
denken muß: Was wird Diogena zu diesem Buche sagen? Wenn sich bei dieser
Dame die Schichten der aristokratischen Gesellschaft zerbröckeln und in
die ihr eigene großstaffierte Salon- und Boudoir-Romantik zerblättern, wo
Liebe und Skandal bunt durcheinanderlaufen und parfümierte Billetts, von
galonierten Jockeys auf silbernen Tellern präsentiert, alle Schmerzen
"unverstandener" Seelen aushauchen, so gesellt sich hier wenigstens
Gleiches und Gleiches, und wir sind doch bewahrt vor der Fanny
Lewaldschen Zumutung, jene Berliner Beamtentöchter interessant zu finden,
die beim Blasen der Gardekürassiere an die Fenster rennen, sich in Helme
und Epauletten verlieben und Prinzen vollends alles gewähren, was Prinzen
nur von Bürgerstöchtern fordern können. Henriette Fromm, Pauline Wiesel
sind "Damen" dieses Berliner Schlages gewesen und verdienten nicht von
der Poesie so ausstaffiert zu werden, wie dies in unserm Gedenkbuch
geschieht. Welche großen Worte sind da an Niederes verschwendet! Welche
gemeinen Gesinnungen bunt aufgeputzt! Wer hat Berlin beobachtet und kennt
nicht jene Buhlerei der Mütter und jungen Frauen um Prinzengunst, wie sie
nach den Tagen der Lichtenau dort Mode war? Später mögen die Opfer dieser
Zustände mehr gelernt haben als Madame Rietz wußte, sie mögen französisch
parliert, Goethe und Schiller gelesen haben und mit Gentz und Schlegel in
Berührung gekommen sein; sie bleiben aber darum doch, was sie sind, mag
auch Varnhagen von Ense noch so milde Lichter über sie ausgegossen haben.
Die arme Lewald, in dem Drang das Judentum zu heben und eine Jüdin Rahel
Levin mit Prinzen von Preußen in Verbindung gebracht darzustellen, ist
hier von ihrem Herzen und dessen kühnsten Flügen geblendet gewesen und
hat eine Sphäre für dichtungswürdig gehalten, die es nicht war. Mamsell
Cäsar, die Berliner Geheimsekretärstochter, verdiente ebensowenig diesen
Aufwand von Seelenmalerei wie Henriette Fromm, die am Tage nach der
Verlobung an einen Ökonomen mit einem Prinzen auf- und davonging. Ein
Prinz kann doch meist nur von oben herab lieben, von oben herab einer
Bürgerlichen schmeicheln, nur in aller Kürze sie auffordern: Sei mein!
Einen (Roman) von Gefühl, Entwicklung, Herausstellung der ede1sten Triebe
des Menschen gibt es da höchst selten und im vorliegenden Fall gewiß
nicht. Wer kann Fanny Lewald in dieser Verirrung anders folgen als bloß
mit einem gewissen anekdotischen Interesse? Zu empfehlen, aufmerksam zu
machen, zu bewundern gibt es da nichts. Man liest es mit Neugier, mit
Spannung, würde aber erschrecken, wenn die Verfasserin verriete, sie
hätte beim Niederschreiben dieser Blätter auch nur im entferntesten
gedacht: (Entnehmt euch daraus etwas!)
Einzelne Schilderungen sind der Verfasserin vortrefflich gelungen;
unstreitig immer die, wo sie sich eines gedrückten, leidenden Zustandes
der Gesellschaft annehmen kann. Sie empfindet mit der Armut, mit dem
gedemütigten Stolze, mit der getretenen Menschenwürde. Sie hat in ihrem
reinen und aufrichtigen Bekenntnis des Judentums eine Schule der
Beobachtung und des Mitgefühls für die Nachtseiten der Gesellschaft
durchgemacht. Warum erhob sie sich von dem strengen Gericht, das sie über
die Militärzustände Preußens von 1806, das Kasernenleben, das Ghetto, die
Bestechlichkeit der Beamten, die Ohnmacht und den Dünkel der Minister
anstellte, nicht auch zur Wahrheit über ihren aristokratischen Helden
selbst und noch mehr zur Wahrheit über das prahlende Zuschautragen des
Herzens bei den Weibern, die in diesem Gemälde aufrauschen? Warum wandeln
diese so pomphaft daher und bringen uns den abgenutzten Gefühlskram
unserer blasierten Frauenromane von 1840 zum Kauf? Ist es nicht eitle
Flitterware? Ist nicht selbst Rahels Liebesschmerz und entsagende
Großgefühligkeit um die königliche Hoheit affektierter Kram? Erschließen
uns diese Verirrungen, wenn sie stattfanden (und sie müssen es wohl, da
Varnhagen von Ense laut Widmung dieses Werkes Taufpate ist), irgendeine
große Perspektive auf die Tiefe der Menschenbrust? Ich kann der
Verfasserin überall folgen, wo sie praktisch und verständig ist. Wo sie
aber Gefühl geben will, Idealität in ihrem Sinn, da befinden wir uns doch
eben nur in derselben Sphäre, die sie an der Gräfin Hahn hat bekämpfen
wollen: Haß gegen das Übliche, Feindschaft gegen die gewöhnlichen Gleise
der Liebe, die sich in ihrer süßen Monotonie Jahrtausende lang durch die
Herzen der Menschheit ziehen. Sind euch denn die Mütter, die verheirateten
Frauen ewig gleichgültig und nur diese Rahelen, diese Henrietten und
Paulinen der poetischen Betrachtung würdig? Es wäre eine rechte Erquickung
gewesen, wenn wir in diesem Buche neben den vielen Weibern mit starkem
Herzen auch ein junges, schönes und bedeutendes mit einem nur guten
angetroffen hätten.
Das Buch schließt wie eine Symphonie mit unaufgelöster Dissonanz! Der
Held stirbt, und--das Ganze ist zu Ende. Alle Fäden, welche die
Verfasserin anspann, um uns zu unterhalten, sind zerrissen. Eben noch
Licht, und plötzlich Nacht. Dieser Schluß ist eine Kritik des Werkes. Er
sagt, daß mit dem Tode des Helden der ganze Apparat des Romans in Nichts
zusammensinkt, und es im Grunde nur ein Spuk war, der ihn umgab, kein
wirkliches, daseinberechtigtes Leben. Fanny Lewald hat so den Trieb nach
Wahrheit, so die schöne, oft grausame Leidenschaft aufrichtiger
Überzeugung, daß sie unstreitig fühlte: Die Menschen, die ich da mit dem
Prinzen zusammenkettete, sind nach seinem Tod unnütz, und keine Seele
mehr wird nach ihnen fragen. Ein ernstes Drama soll wie ein Grab enden,
ein ernster Roman aber wie ein Kirchhof. Das Auge soll mit Schmerz nach
vielen Gräbern sich umsehen und nicht wissen, welches von ihnen allen den
Immortellenkranz verdient.


Eine nächtliche Unterkunft (1870)

In jenen, noch dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts angehörenden
Tagen, wo Berlin rundum keine andere große Stadt in der Nachbarschaft
hatte, als eine solche, die erst nach einer Postreise von zwanzig Meilen
zu erreichen war, bildete sich jene noch jetzt nicht vollkommen
überwundene eigentümliche Naivität oder, nennen wir es beim richtigeren
Namen kleinstädtische Unzulänglichkeit aus, die den Charakter des
Berliner Pfahlbürgertums in manchem bezeichnen dürfte. Die Sperre gegen
eine Welt, die damals dem Berliner schon hinter Potsdam für gleichsam wie
"mit Brettern vernagelt" galt, war eine beinahe hermetische. Daher auch
die Langsamkeit, womit sich der Zeitgeist, die freiheitliche Entwicklung
Preußens erst allmählich, ja mit Beweisen völliger Unbeholfenheit und
Unreife anschickte, dem Fortschritt des übrigen Europa zu folgen.
Noch bis zur Märzrevolution befand sich im königlichen Schlosse, dicht
unter der Wohnung des Monarchen, in jenem Portal, das seit dem Jahre 1848
dem Publikum nicht mehr als Durchgang geöffnet ist, ein alter Rumpelkasten,
Portechaise genannt, an deren mit grünem Kattun verhangenem Fenster
unorthographisch zu lesen stand: "Wer sich dieser Portechaise bedienen
will, melde sich in der Nagelgasse." Letztere, jetzt zur "Rathausstraße"
avanciert, begrenzt die südöstliche Front des neuen Rathauses--gelegentlich
bemerkt eines Baues, dessen Großartigkeit den Stil, den kräftigen Griffel
des 19. Jahrhunderts in so überwältigendem Maße bezeichnet, daß bei allem
Reiz, den ein alter Rest der Vergangenheit, die "Gerichtslaube", für die
Tafeln der Chronik in Anspruch nehmen darf, ihn die Gegenwart doch für ihre
Überlieferungen an die Zukunft wie einen sinnstörenden--Druckfehler
beseitigen darf.
Und auf dem Gensdarmenmarkt, an derjenigen Seite des "französischen
Turms", die dem Wechselgeschäft der Herren Brest und Gelpke gerade
gegenüber liegt, wuchs nicht nur in den Winkeln, die von den dürftigen
Anbauten der beiden stolzen "Gensdarmenmarkttürme" gebildet werden, das
helle, frische, grüne Gras, untermischt zuweilen mit "Butterblumen",
sondern es war sogar möglich, daß die damalige schutzmannlose, nur auf
jene "Polizeikommissarien" mit den Dreimastern und karmoisinroten Kragen
und Aufschlägen am Rock angewiesene Zeit in einem dieser Winkel--einen
alten ausgedienten Leichenwagen duldete, der entweder durch irgendein
Mißverständnis zur Überwinterung dort stehengeblieben oder sonst aus dem
Inventar des Leichenfuhrwesens in der Georgenstraße ausgestrichen war.
Die Deichsel für die Rosse, die uns zum ewigen Frieden fahren, fehlte
nicht. Aber die schwarze Draperie schillerte schon ins vollkommen
Rötliche. Die Totengräber Hamlets hätten hier Betrachtungen anstellen
können über die Vergänglichkeit alles Irdischen. Ludwig Devrient, drüben
von Lutter und Wegener kommend und sich auf die Rolle besinnend, die der
große Mime am Abend zu spielen hatte, mag manchen verstohlenen Blick
hinübergeworfen haben auf den alten Charonsnachen, der manchmal fehlte,
nach kurzer Pause sich aber immer wieder einstellte unter den gewölbten
Türmen, um deren Säulen und Säulchen die Spatzen und die Krähen und die
Habichte nisteten. Berlin, das gegenwärtig alles brauchen kann, selbst
die Denkmäler von den Gräbern, Berlin, das jetzt die Bronzebilder der
Toten von den Kirchhöfen stiehlt, ließ diesen alten Leichenwagen
unangetastet.
Abends, wenn der Sturm brauste, die Laternen, ohne Gaslicht und manchmal
quer über die Straßen hinweggezogen, in ächzenden Tönen hin und her
schaukelten, die Wagen der Vornehmen und Reichen dumpf über ein noch
naturwüchsiges Pflaster rollten, hier und da ein Leierkasten aus einem
Keller wie ein ferner Unkenruf ertönte und in den Straßen jener
gespenstische Mann umging, der ein Fäßchen in der Hand tragend, aus einer
bis zu seinen Ohren, ja bis zur Nase hinaufreichenden stolzen roten
Kravatte mit einem gewissen würdevollen Anstand, aber geisterhaft hohl,
den Ausruf hervorpreßte: "Neunaugen! Neunaugen--!", da schlich sich
fröstelnd, die Hände in abgetragene, viel zu kurze, geflickte Beinkleider
gesteckt, einen verschossenen Frack auf dem ausgehungerten Leibe, einen
mannigfach brüchigen, beulenreichen Filzhut auf dem Haupte, eine
verwitterte, magere, kleine Gestalt über den Markt, auf welchem öde
Stille herrschte, nachdem sich eben die Zuschauer des Schauspielhauses,
die vielleicht eine neue Posse von Raupach ausgezischt, verlaufen hatten.
Der sich scheu Umblickende hatte keine Wohnung. Sein Name war von den
Sternen hergekommen. Dort oben am blitzenden Nachthimmel stand die
Konstellation, die ihm den Vornamen gegeben. Besonders zur Winterszeit
leuchtete sein Stern hellauf in einem Licht, das alle andern Sterne
überstrahlte. In den Sternen auch hatte er seine eigentliche Behausung,
nicht in der Dorotheen-, nicht in der Friedrichstadt. Vorsichtig nähert
er sich dem Leichenwagen ... Bist du heute wieder da, alter Freund--? Hat
dich Charon heute Nacht nicht nötig, um vom "Türmchen" im "Voigtland"
eine Leiche auf die Anatomie zu fahren--? Schont der "Leichenkommissarius"
seine Gäule, wenn er sie erst hier einspannt, um einen Armen im
"Nasenquetscher" auf Saturns großes Brach- und Nivellierungsfeld, auf den
Friedhof, zu fahren--?.... Und husch--! Die verwitterte Gestalt,
herabgekommen wie der Apotheker von Mantua, der an Romeo Gift verkaufte,
weil die Geschäfte der üblichen Pharmakopoe so schlecht gingen, hebt die
Vorhangsfetzen des Wagens auf und schiebt sich langsam hinein in ein
damaliges--Asyl für Obdachlose.
Fand sich wohl ein Stück Holz, eine Planke darin vor--den Trägern mit den
langen Flören am Dreimaster benötigt, um den Sarg in die Grube zu
senken--so rückt sie der lebende Tote so, daß sein Haupt mit den langen
weißen Haaren eine Stütze findet beim Sichausstrecken. Vielleicht achtet
er auch die neue Beule nicht viel an seinem wettererprobten Zylinder,
wenn er damit dem harten Holz einige Weiche gibt und die hohle, gefurchte
Wange aufstützt. Ruhen wird er; er wird schlafen. An diesem schwarzen
Wagen huscht die von einem Ball bei "Dalichows" in der Dorotheenstraße
kommende Schöne aus dem Volke, der Spieler, der im Hinterzimmer eines
"Italieners"--wir meinen nicht gerade des damaligen Austern-Sala-Tarone
--einen glücklichen Wurf getan, der in der Nacht gerufene Arzt, der um
Mitternacht sein Coupé nicht anspannen lassen kann, schnell und scheu
vorüber. Selbst der Nachtwächter hält sich in der Ferne, dort, wo ein
Ruf: "Wächter--!" ihm ein Trinkgeld fürs Einlassen in ein verschlossenes
Haus, dessen Schlüssel an seinem klirrenden Eisenbunde hängt, sicherer
einbringt, als wenn er hier Posto faßte in der düster-unheimlichen Ecke
an einer Kirche, wo vielleicht damals--der junge Fournier als feuriger
Kandidat in französischer Sprache predigte und sich nicht träumen ließ,
wie übel später einem Konsistorialrat der Wetteifer mit dem leidenschaft-
lichen Pathos eines Schauspielers bekommen konnte.
Der Obdachlose war ein Dichter ohne Verleger. Er lebte in einer Zeit, wo
die Journale Berlins unter Zensur standen. Ein Absatz von 500 Exemplaren
war schon die allerglücklichste Chance für--"Belletristik". Ein Honorar
von einem Taler zahlte man für ein Gedicht, von fünfzehn Silbergroschen
für eine Reihe von Lückenbüßern, damals "Aphorismen", "Streckverse",
"Sternschnuppen" oder ähnlich genannt. Ach ja, die Sterne, die hatten es
dem halben Polen angetan. Er hatte sich die Sprache Schillers und Goethes
angeeignet, sang Dithyramben, Oden, Bardenlieder--alles in einem Stil,
der an Pindar erinnerte--seiner Unverständlichkeit wegen. Aber schon in
jener Zeit war die Lektüre frivol. Lieber wollte man Clauren lesen, als
Klopstock. Die Gebildeteren hatten gerade van der Velde. Sogar die
Ästhetiker sprachen zwar von Goethe, nippten aber, wie in dem Hinterzimmer
des "Italieners" Rosoglio, so an den "Teufelselexieren" von Hoffmann. Was
war da der verkommene Träumer, der noch bei Ossian stand und bei Jean
Paul! Der einen Gedanken, der ihm aufgeblitzt bei seinem jeweiligen
Erwachen in seinem dunkeln Leichenwagen (--und wo denken wir wahrer,
fühlen wir tiefer als in der Nähe der Toten!--) nur dadurch schlagend,
zündend, lapidar zu machen glaubte, daß er ihn immer enger und enger,
immer epigrammatischer und epigrammatischer, zuletzt in zwei Zeilen
drängte, wie bei Rochefoucauld und Montaigne, jedes Wort eine ganze
Welt--aber--die Zeile laut Quartalsberechnung des Journals drei bis
vier Pfennige!
Dieser Obdachlose hieß Orion Julius. Seine Werke stehen nicht in den
Katalogen der Leihbibliotheken. Wer sich aber die Mühe geben will, in
alten Jahrgängen des "Freimütigen", des "Gesellschafters" zu blättern,
der wird dort--dem nächtlichen Bewohner des Leichenwagens am
Gensdarmenmarkt zuweilen begegnen.


Zum Gedächtnis Wilhelm Härings (Willibald Alexis') (1872)

Einstimmig berichtete die deutsche Presse das im Dezember vorigen Jahres
zu Arnstadt in Thüringen erfolgte Ableben Wilhelm Härings, genannt
Willibald Alexis, mit dem Ausdruck der innigsten Teilnahme. Die
gewandtesten dichterischen Gaben, edle menschliche Eigenschaften, ein
Charakter voll Gesinnung und ein herbes tragisches Schicksal hatten die
Nachrufe, ganz in der ungeteilten Hingebung, wie sie in den Blättern
erschollen, verdient.
Wenn die "Allgemeine Zeitung", diesmal später kommend als andere Organe
der Öffentlichkeit, ihren Nachruf nicht ganz in dem Ton einer bloßen
Trauerrede am Grabe hält, sondern persönlicher auf den Verstorbenen
eingeht, so wolle man darin ein Bestreben erblicken, uns das Bild des
Dahingegangenen recht nahe zu rücken. Schon die Wendung dieser Nachrufe,
daß der Tod den Unglücklichen, der fast fünfzehn Jahre in geistiger und
körperlicher Paralyse gelebt hatte, "von seinen Leiden erlöste", ist
nicht vollkommen zutreffend. Die liebevol1ste Hingebung einer erst in
spätern Jahren geheirateten Gattin, einer geborenen Engländerin, die
Pflege derselben, die an Geduld ihresgleichen suchte, diese war es, die
erlöst wurde. Der Gegenstand eines bewunderungswürdigen Kultus der Liebe
selbst fühlte kaum sein Leid in ganzer Größe. Die Stunden, die Tage, die
Jahre schwanden an dem Beklagenswerten in seinem Rollsessel gleichmäßig
dahin. Er glaubte, die volle Klarheit seiner Ideen zu besitzen und nur am
Aussprechen derselben verhindert zu sein. Eine in Westermanns
"Monatsheften" gegebene photographische Abbildung der äußeren Erscheinung
Härings in den Tagen seines Leidens zeigt einen--lachenden Demokrit, der
der Welt gegenüber sein besseres Teil gefunden zu haben scheint. In der
Tat gibt das Bild den vollen Gegensatz der geistesklaren Zeit des edlen
Toten, wo seine Mienen in der Regel den Ausdruck der Besorgnis, des
ängstlich aufgeregten Beschäftigtseins durch die Zeit, des bänglichen
Erwartens düsterer öffentlicher Erlebnisse trugen.
Von "Leiden erlöst"? Gewiß! Aber doch noch zu modifizieren. Die ganze
Sehnsucht eines an die Bedingungen Norddeutschlands gebundenen Herzens
ging bei Häring auf idyllisches "Am Land"-Wohnen. In seinen jungen Jahren
suchte er einen ihm innewohnenden Trieb, irdische Hilfsquellen, die ihm
zu Gebote standen, zu Spekulationen und sogar im Sinn unserer heutigen
neuen großstädtischen Gründer-Ideen zu verwenden, mit seiner Liebe zur
Natur zu vereinigen. Wie mit Ironie auf seinen Namen suchte er unter den
alten Eichen und in den Fischerhütten Heringsdorfs an der Ostsee den
Besuch eines poetisch gelegenen Seebades zu fördern. Später gab er seine
dortige Besitzung mit ihren nur relativen Schönheiten auf und zog sich,
seiner ganzen Kraft sich noch bewußt und mit literarischen Plänen, deren
einige auch dort noch ausgeführt wurden, nach Arnstadt, einer ohne
Zweifel--ich kenne den altberühmten Ort nicht--reizend gelegenen Stadt,
die schon manchen Dichter angezogen hat. Da erzählt man von Härings
anmutiger Besitzung, von seiner Liebe zur Natur selbst trotz seiner
geschwächten Geisteskräfte. Wenn die Rosen blühten, sammelten liebliche
junge Mädchen, Verwandte seiner Gattin, die sich schon entblätternden
verblühten Blumen und bewarfen damit den im Rol1stuhl Sitzenden. Anakreon
wünschte sich solche Spiele mit der Jugend. Auch unser Dulder lachte
herzlich. Ist ihm also das demokritische Antlitz der Photographie bis
zuletzt geblieben, so rief ihn der Tod aus einer Welt, die er bei alledem
und alledem ungern verließ. Sein Lebensende war keineswegs das seines
gekrönten Widersachers in Sanssouci, der ihm einst auf eine vertrauens-
volle Übersendung eines seiner "märkischen Romane" oder bei einer
sonstigen Annäherung, welche Huld und Güte voraussetzte, die bekannt-
gewordenen rauhen, verletzenden Worte entgegenherrschte: "Er hätte sich
von ihm in seiner politischen Haltung eines Bessern versehen." Auch
Friedrich Wilhelm IV. hatte das Los, gelähmt zu werden wie Dr. Häring.
Aber jener bot ein Bild des Jammers, wenn er unter den Bäumen Sanssoucis,
die den an Plänen und Ideen überreichen genialen Kronprinzen einst unter
sich hatten wandeln, zeichnen, malen, studieren sehen, gefahren wurde und
nichts mehr von der Welt erkannte. Häring ließ sich in seinem Rollsessel
an seine Blumen fahren und pflegte diese.
Unsere jüngere Generation macht sich das Leben eines solchen
abscheidenden Charakters früherer Tage nach äußern Notizen leicht
zurecht. Geboren den 23. Juni 1797, Studierender der Rechte, Referendar,
Mystifikator des Publikums mit einer Nachahmung Walter Scotts--dann eine
Zusammenfassung seiner letzten Tätigkeit, die dem "brandenburgischen
Roman" gewidmet gewesen--und der Kern scheint getroffen zu sein. Und
dennoch bieten diese Momente für den Forscher, der dem Sein und Werden,
dem Umirren und Wegeverfehlen, dem Suchen und Finden in der Literatur
folgt, bei weitem nicht die genügenden Anhaltspunkte. Man las bisher über
Häring nur Zusammenfassungen, kurze Resümees einer dahineilenden Zeit,
die ihre Opfer der Pietät rasch vollzieht, immer bedacht, nur bald wieder
auf sich selbst zurückzukommen.
Bei solchen Resümees fehlt natürlich auch das Zuviel nicht. Die
"märkischen Romane" des dahingegangenen Vortrefflichen sind in der Tat
nicht ganz so hoch zu stellen, wie sie etwa die Ankündigung des
Buchhändlers stellt, der sie als Eigentum besitzt und sie gern "in jeder
deutschen Hütte eingebürgert" sehen möchte. Diese Romane sind reich an
Vorzügen aller Art. Doch reißen sie nicht durch eine mächtige und
eigentümliche Erfindung fort. Es sind sinnig gedachte, doch nur mit
reproduktiver Umständlichkeit langsam sich fortbewegende Kulturstudien
(übertreibend bis zu Phantasien) über eine Mark Brandenburg, die jetzt
mit Gewalt aus einer bescheidenen Magd in eine seither verkannte Königin
aufgeputzt werden soll. Das Toilettenstück ist ja im vollen Gange. Hätte
man nicht Berechtigung, jetzt auszurufen: Wollt doch nicht Feigen lesen
von den Disteln, und Trauben von den Dornen! Wollt doch nicht die alten
Gesetze dessen, was schön ist, auf den Kopf stellen! Seitdem unsere
Reichstagsabgeordneten ihre Exkursionen nach Potsdam machen und erstaunt
zurückkehren, dort so herrliche Bäume, große Gewässer, sogar in Berlins
nächster Nähe Spuren von "Gegend" zu finden, hat man die märkischen
Tannen- und Fichtenwälder, diese durchsichtigen Linienregimenter, überaus
poetisch, ja im verwehten Flugsand und dessen dürftiger Vegetation
landschaftliche Stimmung finden wollen. Kauft man dann noch gar in
Gründer-Compagnien diesen Sand mit Fichtenwäldern in Masse und will
Deutschland einladen, dort Hütten, d.h. Villen, zu bauen, dann zwingt in
der Tat die Außerkurssetzung des Murg- und Nero-Tals, des rauschenden
Waldes um Eisenach oder Berchtesgaden zum Widerspruch--auch gegen die
Übertreibung des Poetischen, das sich in Härings märkischen Romanen
finden soll. In allem Ernst, durch das Preisen und Aufputzen des
Dürftigen, Ärmlichen, Unzulänglichen der Mark versündigt man sich an
jener Welt, die seither für schön gegolten hat und deren Zaubergewalt
auch dem märkischen Romantiker Häring selbst zu oft vor die Seele trat,
als daß es ihn nicht mächtig nach dem Süden hätte ziehen, zu dem
Geständnisse zwingen sollen: "Ja in Neapel!" Seine "Wiener Bilder" sind
eine wahre Befreiung des Gemüts vom Tifteln einer Stimmung, die sich auch
in Pankow und Schönhausen bei Berlin (ja, ja, die Eichen und Erinnerungen
Schönhausens sind schön, und wäre nur dem Park mehr Pflege zu wünschen!)
dem großen Naturgeiste nahe fühlen möchte. In dem frisch geschriebenen
Buche, das wir nannten, wird dem deutschen Süden, der blauen Donau, den
schneebekränzten Alpen, seinen Menschen und Sitten ihr volles
Recht zuteil.
Vor sechs Jahren, bald nach den Tagen von Königgrätz und Nikolsburg,
brachte die "Allg. Ztg." einen Aufsatz: "Willibald Alexis und die
'preußische' Dichtung unserer Zeit." Der Verfasser war einer der
begabtesten unserer jüngern Erzähler, Wilhelm Jensen. Dieser, selbst aus
Deutschlands nordischer Mark, aus den Herzogtümern, gebürtig, glaubte mit
seinem beredten Fürwort einen Beitrag zu geben zur Annäherung zwischen
deutschem Süd und Nord. Der Streit, welcher in der Familie geführt worden
wäre, hieß es, müßte auch in der Familie geschlichtet werden. "Wenn ein
Dichter oder irgendein Mann der Gegenwart es vermag, die Abneigung
auszutilgen, welche sich des deutschen Südens gegen den Norden, gegen
Preußen und vor allem gegen dasjenige, was man sich gewöhnt hat, als den
Kern und Typus dieses Volkes anzusehen, gegen die Mark Brandenburg und
ihre Hauptstadt bemächtigt hat, so ist es Willibald Alexis." Der junge
Nordlandssohn fordert Süddeutschland auf, an diese Quelle der Versöhnung,
"die Werke des Hrn. G. W. Häring", sich zu begeben. Scherenberg, setzt er
hinzu, Hesekiel, Fontane (Namen, die seit Jahren die Ansprüche auch der
"Kreuzzeitung" auf den Parnaß vertreten) reihen sich dann bei dem
Vermittler an den Hauptvertreter der geistigen Versöhnung an, welchem der
vielleicht feurigste Mund, der sich je über einen noch lebenden Autor
ergangen hat, Opfer der Anerkennung bringt, die in der Tat den Leser
fortzureißen vermögen, weil der frische Geist der Huldigung Satz für Satz
zu gleicher Zeit Behauptungen aufstellt, die frappieren, zum Nachdenken
reizen, zuweilen als unhaltbar, oft aber als treffend erscheinen dürfen
und somit zuletzt den Leser in einen Strudel von Herrlichkeiten
fortreißen, die er alle in Willibald Alexis' Romanen finden soll....
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