Aus Indien - 9

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„Zum Beispiel in dem, was Sie heut morgen mir an den Kopf geworfen
haben.“
„Oh, wegen des Mädchens!“
„Gewiß. Sie sind Geistlicher gewesen; trotzdem werden Sie zugeben, daß
ein gesunder Mann nicht jahrelang leben und arbeiten und gesund bleiben
kann, ohne gelegentlich eine Frau bei sich zu haben. Mein Gott, darum
brauchen Sie doch nicht rot zu werden! Nun sehen Sie: als Weißer in
Indien, der sich nicht gleich eine Frau mit aus England herübergebracht
hat, hat man wenig Auswahl. Es gibt keine englischen Mädchen hier. Die
hier geboren werden, die schickt man schon als Kinder nach Europa heim.
Es bleibt nur die Wahl zwischen den Matrosendirnen und den Hindufrauen,
und die sind mir lieber. Was finden Sie daran schlimm?“
„Oh, hier verstehen wir uns nicht, Herr Bradley! Ich finde, wie es die
Bibel und unsere Kirche vorschreibt, jede uneheliche Verbindung schlimm
und unrecht!“
„Wenn man aber nichts anderes haben kann?“
„Warum sollte man nicht können? Wenn ein Mann ein Mädchen wirklich lieb
hat, so soll er es heiraten.“
„Aber doch nicht ein Hindumädchen?“
„Warum nicht?“
„Aghion, Sie sind weitherziger als ich! Ich will mir lieber einen Finger
abbeißen als eine Farbige heiraten, verstehen Sie? Und so werden Sie
später auch einmal denken!“
„O bitte, das hoffe ich nicht. Da wir so weit sind, kann ich es Ihnen ja
sagen: Ich liebe ein Hindumädchen, und es ist meine Absicht, sie zu
meiner Frau zu machen.“
Bradleys Gesicht wurde ernsthaft. „Tun Sie das nicht!“ sagte er fast
bittend.
„Doch, ich werde es tun,“ fuhr Aghion begeistert fort. „Ich werde mich
mit dem Mädchen verloben und sie dann so lange erziehen und
unterrichten, bis sie die christliche Taufe erhalten kann; dann lassen
wir uns in der englischen Kirche trauen.“
„Wie heißt sie denn?“ fragte Bradley nachdenklich.
„Naissa.“
„Und ihr Vater?“
„Das weiß ich nicht.“
„Na, bis zur Taufe hat es ja noch Zeit; überlegen Sie sich das lieber
noch einmal! Natürlich kann sich unsereiner in ein indisches Mädel
verlieben, sie sind oft hübsch genug. Sie sollen auch treu sein und
zahme Frauen abgeben. Aber ich kann sie doch immer nur wie eine Art
Tierchen ansehen, wie lustige Ziegen oder schöne Rehe, nicht wie
meinesgleichen.“
„Ist das nicht ein Vorurteil? Alle Menschen sind Brüder, und die Indier
sind ein altes edles Volk.“
„Ja, das müssen Sie besser wissen, Aghion. Was mich betrifft, ich habe
sehr viel Achtung vor Vorurteilen.“
Er stand auf, sagte Gutenacht und ging in sein Schlafzimmer, in dem er
gestern die hübsche große Wäscheträgerin bei sich gehabt hatte. „Wie
eine Art Tierchen“ hatte er gesagt, und Aghion lehnte sich nachträglich
in Gedanken dagegen auf.
Früh am andern Tage, noch ehe Bradley zum Frühstück gekommen war, ließ
Aghion das Reitpferd vorführen und ritt davon, während noch in den
wirren Baumwipfeln die Affen ihr Morgengeschrei verübten. Und noch stand
die Sonne nicht hoch, als er schon in der Nähe jener Hütte, wo er die
hübsche Naissa kennen gelernt hatte, sein Tier anband und zu Fuß sich
der Behausung näherte. Auf der Türschwelle saß nackt der kleine Sohn und
spielte mit einer jungen Ziege, von der er sich lachend immer wieder vor
die Brust stoßen ließ.
Eben als der Besucher vom Wege abbiegen wollte, um in die Hütte zu
treten, stieg über den kauernden Jungen hinweg vom Innern der Hütte her
ein junges Mädchen, das er sofort als Naissa erkannte. Sie trat auf die
Gasse, einen hohen irdenen Wasserkrug leer in der losen Rechten tragend,
und ging, ohne ihn zu beachten, vor Aghion her, der ihr mit Entzücken
folgte. Bald hatte er sie eingeholt und rief ihr einen Gruß zu. Sie hob
den Kopf, indem sie das Grußwort leise erwiderte, und sah aus den
schönen braungoldenen Augen kühl auf den Mann, als kenne sie ihn nicht,
und als er ihre Hand ergriff, zog sie sie erschrocken zurück und lief
mit beschleunigten Schritten weiter. Er begleitete sie bis zu dem
gemauerten Wasserbehälter, wo das Wasser einer schwachen Quelle dünn und
sparsam über moosig-alte Steine rann; er wollte ihr helfen, den Krug zu
füllen und emporzuziehen, aber sie wehrte ihn schweigend ab und machte
ein trotziges Gesicht. Er war über soviel Sprödigkeit erstaunt und
enttäuscht, und nun suchte er aus seiner Tasche das Geschenk hervor, das
er für sie mitgebracht hatte, und es tat ihm nun doch ein wenig weh, zu
sehen, wie sie alsbald die Abwehr vergaß und nach dem Dinge griff, das
er ihr anbot. Es war eine emaillierte kleine Dose mit hübschen
Blumenbildchen darauf, und die innere Seite des runden Deckels bestand
aus einem kleinen Spiegel. Er zeigte ihr, wie man ihn öffne und gab ihr
das Ding in die Hand.
„Für mich?“ fragte sie mit Kinderaugen.
„Für dich!“ sagte er, und während sie mit der Dose spielte, streichelte
er ihren sammetweichen Arm und ihr langes schwarzes Haar.
Da sie ihm nun Dank sagte und mit unentschlossener Gebärde den vollen
Wasserkrug ergriff, versuchte er, ihr etwas Liebes und Zärtliches zu
sagen, was sie jedoch offenbar nur halb verstand und indem er sich auf
Worte besann und unbeholfen neben ihr stand, schien ihm plötzlich die
Kluft zwischen ihm und ihr ungeheuer, und er dachte mit Trauer, wie
wenig doch vorhanden sei, das ihn mit ihr verbinde, und wie lange, lange
es dauern mochte, bis sie einmal seine Braut und seine Freundin sein,
seine Sprache verstehen, sein Wesen begreifen, seine Gedanken teilen
könnte.
Mittlerweile hatte sie langsam den Rückweg angetreten, und er ging neben
ihr her, der Hütte entgegen. Der Knabe war mit der Ziege in einem
atemlosen Jagdspiel begriffen; sein schwarzbrauner Rücken glänzte
metallisch in der Sonne, und sein geblähter Reisbauch ließ die Beine zu
dünn erscheinen. Mit einem Anflug von Befremdung dachte der Engländer
daran, daß, wenn er Naissa heirate, dieses Naturkind sein Schwager sein
würde. Um sich diesen Vorstellungen zu entziehen, sah er das Mädchen
wieder an. Er betrachtete ihr entzückend feines, großäugiges Gesicht mit
dem kühlen kindlichen Munde und mußte denken, ob es ihm wohl glücken
werde, heute noch von diesen Lippen den ersten Kuß zu erhalten.
Aus diesem lieblichen Gedanken schreckte ihn eine Erscheinung, die
plötzlich aus der Hütte trat und wie ein Spuk vor seinen ungläubigen
Augen stand. Es erschien im Türrahmen, schritt über die Schwelle und
stand vor ihm eine zweite Naissa, ein Spiegelbild der ersten, und das
Spiegelbild lächelte ihm zu und grüßte ihn, griff in ihr Hüftentuch und
zog etwas hervor, das sie triumphierend über ihrem Haupte schwang, das
blank in der Sonne glitzerte und das er nach einer Weile denn auch
erkannte. Es war die kleine Schere, die er kürzlich Naissa geschenkt
hatte, und das Mädchen, dem er heute die Spiegeldose gegeben, in dessen
schöne Augen er geblickt und dessen Arm er gestreichelt hatte, war gar
nicht Naissa, sondern deren Schwester, und wie die beiden Mädchen
nebeneinander standen, noch immer kaum voneinander zu unterscheiden, da
kam sich der verliebte Aghion unsäglich betrogen und irregegangen vor.
Zwei Rehe konnten einander nicht ähnlicher sein, und wenn man ihm in
diesem Augenblick freigestellt hätte, eine von ihnen zu wählen und mit
sich zu nehmen und für immer zu behalten, er hätte nicht gewußt, welche
von beiden es war, die er liebte. Wohl konnte er allmählich erkennen,
daß die wirkliche Naissa die ältere und ein wenig kleinere sei; aber
seine Liebe, deren er vor Augenblicken noch so sicher zu sein gemeint
hatte, war ebenso auseinander gebrochen und zu zwei Hälften zerfallen
wie das Mädchenbild, das sich vor seinen Augen so unerwartet und
unheimlich verdoppelt hatte.
Bradley erfuhr nichts von dieser Begebenheit, er stellte auch keine
Fragen, als zu Mittag Aghion heimkehrte und schweigsam beim Essen saß.
Und am nächsten Morgen, als Aghions Kulis anrückten und seine Kisten und
Säcke aufpackten und wegtrugen und als der Abreisende dem Dableibenden
noch einmal Dank sagte und die Hand hinbot, da faßte Bradley die Hand
kräftig und sagte: „Gute Reise, mein Junge! Es wird später eine Zeit
kommen, wo Sie vor Sehnsucht vergehen werden, statt der süßen
Hinduschnauzen wieder einmal einen ehrlichen ledernen Engländerkopf zu
sehen! Dann kommen Sie zu mir, und dann werden wir über alles Mögliche
einig sein, worüber wir heute noch verschieden denken!“


Werke von Hermann Hesse

Peter Camenzind
Roman. 60. Auflage. Geheftet 3 M., gebunden 4 M.
Wenn du aber zu den Menschen gehörst, die weinen können, weil der
Himmel kornblumenblau über einem goldenen Weizenfeld steht, wenn
du einer von denen bist, die jauchzen können, wenn der Wind durch
blühende Lindenbäume rauscht, dann schnür dein Bündel und pack
die Geschichte des Peter Camenzind obenauf. Und dann wandre und
wandre, bis du zu einem dunklen See kommst, der zu Füßen einiger
hoher Bergschroffen liegt. Dort sitz nieder und lies, was dir
Peter Camenzind von den Bergen und vom Walde, von den Strömen und
von der Liebe zu erzählen hat. Und glaub mir: Du wirst größer,
reiner, freier wieder heimkehren in die Stadtwirrnis.
(Die Woche)

Unterm Rad
Roman. 19. Auflage. Geheftet 3.50 M., geb. 4.50 M.
Es ist die einfache Geschichte von einem Jungen, der stolz und
mit der Anwartschaft auf Ruhm und Glück ins Leben eintritt und
unters Rad kommt und überfahren wird; ein Buch voll Schwermut und
heimlicher leiser Klage und ein Buch voll Anklage. Schwer und
gewichtig in seiner Einfachheit, die um so tiefer wirkt, als sie
das Resultat einer unnachahmlichen sprachlichen Meisterschaft und
stilistischen Adels ist.
(Münchener Zeitung)

Diesseits
Erzählungen. 18. Auflage. Geh. 3.50 M., geb. 4.50 M.
Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem
stillen, schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder
Alltäglichkeit weit entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der
leise schaffenden Natur lauschend, in solcher Sonntagsstimmung
sollte man Hermann Hesses neuen Novellenband „Diesseits“ lesen.
(Neue Zürcher Zeitung)

Nachbarn
Erzählungen. 12 Auflage. Geh. 3.50 M., geb. 4.50 M.
Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den fünf
Erzählungen des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch
zusammengeschweißt erscheinen sie. Ruhig, über allen Dingen
schwebend, ohne Leidenschaft und vollkommen abgeklärt werden uns
diese Geschichten erzählt. Aber in einer Sprache, die
ihresgleichen sucht und die den Stolz in uns aufleben läßt:
sehet, das ist Deutsch.
(Württembergische Zeitung, Stuttgart)

Umwege
Erzählungen. 10. Auflage. Geh. 3.50 M., geb. 4.50 M.
Wie Gottfried Keller in seinen „Seldwylern“, so hat Hesse in
seinen Gerbersauern seine sicherste Meisterschaft erreicht, seine
ganz persönliche Domäne gefunden. Nur ungern verläßt man den
Kreis derer, die sein Blick aus dem Alltage gehoben, gewählt und
geweiht hat zu Kunstwerklein, deren filigranfein gestichelte
Prägung dem Kenner und beschaulichen Genießer nachhaltige Freuden
gewährt.
(Berliner Tageblatt)

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig


Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Ausgaben, sind hier
aufgeführt (vorher/nachher):
[S. 62]:
... sein Getränke kommen, Whisky, Bitter und Bols, ...
... seine Getränke kommen, Whisky, Bitter und Bols, ...
[S. 136]:
... Still geht und fest das Schiff im Wellenschlag. ...
... Still geht und steht das Schiff im Wellenschlag. ...
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