🕥 33-minute read

Aus Indien - 8

Total number of words is 4344
Total number of unique words is 1759
36.0 of words are in the 2000 most common words
50.0 of words are in the 5000 most common words
55.8 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  Ein anderes Mal setzte ihn der Wasserträger in Erstaunen. Dieser Mann
  erhielt seinen Lohn und sein Essen dafür, daß er täglich die Küche und
  die beiden Badekammern aus der nächsten Zisterne her mit Wasser
  versorgte. Er tat diese Arbeit stets am frühen Morgen und am Abend, den
  ganzen übrigen Tag saß er in der Küche oder in der Dienerhütte und kaute
  entweder Betel oder ein Stückchen Zuckerrohr. Einmal, da der andere
  Diener ausgegangen war, gab ihm Aghion ein Beinkleid zum Ausbürsten, das
  von einem Spaziergang her voll von Grassamen hing. Der Mann lachte nur
  und steckte die Hände auf den Rücken, und als der Missionar unwillig
  wurde und ihm streng befahl, sofort die kleine Arbeit zu tun, folgte er
  zwar endlich, tat die Verrichtung aber unter Murren und Tränen, setzte
  sich dann trostlos in die Küche und schalt und tobte eine Stunde lang
  wie ein Verzweifelter. Mit unendlicher Mühe und nach Überwindung vieler
  Mißverständnisse brachte Aghion an den Tag, daß er den Menschen schwer
  beleidigt habe durch den Befehl zu einer Arbeit, die nicht zu seinem
  Amte gehörte.
  Alle diese kleinen Erfahrungen traten, sich allmählich verdichtend, wie
  zu einer Glaswand zusammen, die den Missionar von seiner Umgebung
  abtrennte und in eine immer peinlichere Einsamkeit verwies. Desto
  heftiger, ja mit einer gewissen verzweifelten Gier lag er seinen
  Sprachstudien ob, in denen er gute Fortschritte machte und die ihm, wie
  er sehnlichst hoffte, dies fremde Volk doch noch erschließen sollten.
  Immer häufiger konnte er es nun wagen, Eingeborene auf der Straße
  anzureden, er ging ohne Dolmetscher zum Schneider, zum Krämer, zum
  Schuhmacher. Manchmal gelang es ihm, mit einfachen Leuten ins Geplauder
  zu kommen, etwa indem er einem Handwerker sein Werk, einer Mutter ihren
  Säugling freundlich betrachtete und lobte, und aus Worten und Blicken
  dieser Heidenmenschen, namentlich aber aus ihrem guten, kindlichen,
  seligen Lachen, sprach ihn oft die Seele des fremden Volkes so klar und
  brüderlich an, daß für Augenblicke alle Schranken fielen und das Gefühl
  der Fremdheit sich verlor.
  Schließlich meinte er entdeckt zu haben, daß Kinder und einfache Leute
  vom Lande ihm fast immer zugänglich seien, ja daß alle Schwierigkeiten,
  alles Mißtrauen und alle Verderbnis der Städter nur von der Berührung
  mit den europäischen Schiffs- und Handelsleuten herkomme. Von da an
  wagte er sich, häufig zu Pferde, auf Ausflügen immer weiter ins Land
  hinein. Er trug kleine Kupfermünzen und manchmal auch Zuckerstücke für
  die Kinder in der Tasche, und wenn er weit drinnen im hügeligen Lande
  vor einer bäuerlichen Lehmhütte sein Pferd an eine Palme band, und unter
  das Schilfdach tretend, grüßte und um einen Trunk Wasser oder Kokosmilch
  bat, so ergab sich fast jedesmal eine harmlos freundliche Bekanntschaft
  und ein Geplauder, bei dem Männer, Weiber und Kinder über seine noch
  mangelhafte Kenntnis der Sprache oft im fröhlichsten Erstaunen hellauf
  lachten, was er gar nicht ungerne sah.
  Noch machte er keinerlei Versuche, den Leuten bei solchen Anlässen vom
  lieben Gott zu erzählen. Es schien ihm das nicht nur nicht eilig,
  sondern auch überaus heikel und fast unmöglich zu sein, da er für alle
  die geläufigen Ausdrücke des biblischen Glaubens durchaus keine
  indischen Worte finden konnte. Außerdem fühlte er kein Recht, sich zum
  Lehrer dieser Leute aufzuwerfen und sie zu wichtigen Änderungen in ihrem
  Leben aufzufordern, ehe er dieses Leben genau kannte und fähig war, mit
  den Hindus einigermaßen auf gleichem Fuße zu leben und zu reden.
  Dadurch dehnten seine Studien sich weiter aus. Er suchte Leben, Arbeit
  und Erwerb der Eingeborenen kennen zu lernen, er ließ sich Bäume und
  Früchte zeigen und benennen, Haustiere und Geräte, er erforschte nach
  und nach die Geheimnisse des nassen und des trockenen Reisbaues, der
  Gewinnung des Bastes und der Baumwolle, er betrachtete Hausbau und
  Töpferei, Strohflechten und Webearbeiten, worin er von der Heimat her
  Bescheid wußte. Er sah dem Pflügen schlammiger Reisfelder mit rosenroten
  fetten Wasserbüffeln zu, er lernte die Arbeit des gezähmten Elefanten
  kennen und sah zahme Affen für ihre Herren die reifen Kokosnüsse von den
  hohen Bäumen holen.
  Auf einem seiner Ausflüge, in einem friedevollen Tal zwischen hohen
  grünen Hügeln, überraschte ihn einst ein wilder Gewitterregen, vor
  welchem er in der nächsten Hütte, die er erreichen konnte, einen
  Unterstand suchte. Er fand in dem engen Raum zwischen lehmbekleideten
  Bambuswänden eine kleine Familie versammelt, die den hereintretenden
  Fremdling mit scheuem Erstaunen begrüßte. Die Hausmutter hatte ihr
  graues Haar mit Henna feurigrot gefärbt und zeigte, da sie zum Empfang
  aufs freundlichste lächelte, einen Mund voll ebenso roter Zähne, die
  ihre Leidenschaft für das Betelkauen verrieten. Ihr Mann war ein großer,
  ernsthaft blickender Mensch mit langen, noch dunkeln Haaren. Er erhob
  sich vom Boden und nahm eine königlich aufrechte Haltung an, tauschte
  Begrüßungsworte mit dem Gast und bot ihm alsbald eine frisch geöffnete
  Kokosnuß an, von deren süßlichem Safte der Engländer einen Schluck
  genoß. Ein kleiner Knabe, der bei seinem Eintritt still in die Ecke
  hinter der steinernen Feuerstelle geflohen war, blitzte von dort unter
  einem Wald von glänzend schwarzen Haaren hervor mit ängstlich
  neugierigen Augen; auf seiner dunkeln Brust schimmerte ein messingenes
  Amulett, das seinen einzigen Schmuck und seine einzige Kleidung bildete.
  Einige große Bananenbündel schwebten über der Türe zur Nachreife
  aufgehängt; in der ganzen Hütte, die all ihr Licht nur durch die offene
  Türe erhielt, war keine Armut, wohl aber die äußerste Einfachheit und
  eine hübsche, reinliche Ordnung zu bemerken.
  Ein leises, aus allerfernsten Kindheitserinnerungen emporduftendes
  Heimatgefühl, das den Reisenden so leicht beim Anblick zufriedener
  Häuslichkeit übernimmt, ein leises Heimatgefühl, das er in dem Bungalow
  des Herrn Bradley niemals gespürt hatte, kam über den Missionar, und es
  schien ihm beinahe so, als sei seine Einkehr hier nicht nur die eines
  vom Regen überfallenen Wanderers, sondern als wehe ihm, der sich in
  trüben Lebenswirrsalen verlaufen, endlich einmal wieder Sinn und Frohmut
  eines richtigen, natürlichen, in sich begnügten Lebens entgegen. Auf dem
  dichten Schilfblätterdach der Hütte rauschte und trommelte
  leidenschaftlich der wilde Regen und hing vor der Türe dick und blank
  wie eine Glaswand.
  Die Alten unterhielten sich froh und unbefangen mit ihrem ungewöhnlichen
  Gaste, und als sie am Ende mit Höflichkeit die natürliche Frage
  stellten, was denn seine Ziele und Absichten in diesem Lande seien, kam
  er in Verlegenheit und begann von anderem zu reden. Wieder, wie schon
  oft, wollte es dem bescheidenen Aghion als eine ungeheuerliche Frechheit
  und Überhebung erscheinen, daß er als Abgesandter eines fernen Volkes
  hierher gekommen sei mit der Absicht, diesen Menschen ihren Gott und
  Glauben zu nehmen und einen anderen dafür aufzunötigen. Immer hatte er
  gedacht, diese Scheu würde sich verlieren, sobald er nur die
  Hindusprache besser beherrsche; aber heute ward ihm unzweifelhaft klar,
  daß dies eine Täuschung gewesen war und daß er, je besser er das braune
  Volk verstand, desto weniger Recht und Lust in sich verspürte, herrisch
  in das Leben dieses Volkes einzugreifen.
  Der Regen ließ nach, und das mit der fetten roten Erde durchsetzte
  Wasser in der hügeligen Gasse lief davon, Sonnenstrahlen drangen
  zwischen den naß glänzenden Palmenstämmen hervor und spiegelten sich
  grell und blendend in den blanken Riesenblättern der Pisangbäume. Der
  Missionar bedankte sich bei seinen Wirten und machte Miene, sich zu
  verabschieden, da fiel ein Schatten auf den Boden und der kleine Raum
  verfinsterte sich. Schnell wandte er sich um und sah durch die Tür eine
  Gestalt lautlos auf nackten Sohlen hereintreten, eine junge Frau oder
  ein Mädchen, die bei seinem unerwarteten Anblick erschrak und zu dem
  Knaben hinter die Feuerstatt floh.
  „Heda, sag’ dem Herrn guten Tag!“ rief ihr der Vater zu, und sie trat
  schüchtern zwei Schritte vor, kreuzte die Hände vor der Brust und
  verneigte sich mehrmals. In ihrem dicken tiefschwarzen Haar schimmerten
  Regentropfen; der Engländer legte freundlich und befangen seine Hand
  darauf und sprach einen Gruß, und während er das weiche geschmeidige
  Haar lebendig in seinen Fingern fühlte, hob sie das Gesicht zu ihm auf
  und lächelte freundlich aus dunkeln wunderschönen Augen. Um den Hals
  trug sie eine rosenrote Korallenkette und am einen Fußgelenk einen
  schweren goldenen Ring, sonst nichts als das dicht unter den Brüsten
  gegürtete rotbraune Untergewand. So stand sie in ihrer einfachen
  Schönheit vor dem erstaunten Fremden; die schrägen Sonnenstrahlen
  spiegelten sich matt in ihrem Haar und auf ihren braunen blanken
  Schultern, blitzend funkelten die kleinen spitzen Zähne aus dem jungen
  Munde. Robert Aghion sah sie mit Entzücken an und suchte tief in ihre
  stillen sanften Augen zu blicken, wurde aber schnell verlegen; der
  feuchte Duft ihrer Haare und der Anblick ihrer nackten Schultern und
  Brüste verwirrte ihn, so daß er bald vor ihrem unschuldigen Blick die
  Augen niederschlug. Er griff in die Tasche und holte eine kleine
  stählerne Schere hervor, mit der er sich Nägel und Bart zu schneiden
  pflegte und die ihm auch beim Pflanzensammeln diente; die schenkte er
  dem schönen Mädchen und wußte wohl, daß dies eine recht kostbare Gabe
  sei. Sie nahm das Ding denn auch befangen und in beglücktem Erstaunen an
  sich, während die Eltern sich in Dankesworten erschöpften, und als er
  nun Abschied nahm und ging, da folgte sie ihm bis unter das Vordach der
  Hütte, ergriff seine linke Hand und küßte sie. Die laue, zärtliche
  Berührung dieser blumenhaften Lippen rann dem Manne ins Blut, am
  liebsten hätte er sie auf den Mund geküßt. Statt dessen nahm er ihre
  beiden Hände in seine Rechte, sah ihr in die Augen und sagte: „Wie alt
  bist du?“
  „Das weiß ich nicht,“ gab sie zur Antwort.
  „Und wie heißt du denn?“
  „Naissa.“
  „Leb’ wohl, Naissa, und vergiß mich nicht!“
  „Naissa vergißt ihren Herrn nicht.“
  Er ging von dannen und suchte den Heimweg, tief in Gedanken, und als er
  spät in der Dunkelheit ankam und in seine Kammer trat, bemerkte er erst
  jetzt, daß er heute keinen einzigen Schmetterling oder Käfer, nicht
  Blatt noch Blume von seinem Ausflug mitgebracht hatte. Seine Wohnung
  aber, das öde Junggesellenhaus mit den herumlungernden Dienern und dem
  kühlen mürrischen Herrn Bradley war ihm noch nie so unheimlich und
  trostlos erschienen wie in dieser Abendstunde, da er bei seiner kleinen
  Öllampe am wackligen Tischlein saß und in der Bibel zu lesen versuchte.
  In dieser Nacht, als er nach langer Gedankenunruhe und trotz den
  singenden Moskiten endlich den Schlaf gefunden hatte, wurde der
  Missionar von sonderbaren Träumen heimgesucht.
  Er wandelte in einem dämmernden Palmenhain, wo gelbe Sonnenflecke auf
  dem rotbraunen Boden spielten. Papageien riefen aus der Höhe, Affen
  turnten tollkühn an den unendlich hohen Baumsäulen, kleine
  edelsteinblitzende Kolibrivögel leuchteten kostbar auf, Insekten jeder
  Art gaben durch Töne, Farben oder Bewegungen ihre Lebensfreude kund. Der
  frohe Missionar spazierte dankbar und beglückt inmitten dieser Pracht;
  er rief einen seiltanzenden Affen an, und siehe, das flinke Tier
  kletterte gehorsam zur Erde und stellte sich wie ein Diener mit Gebärden
  der Ergebenheit vor Aghion auf. Dieser sah ein, daß er in diesem seligen
  Bezirk der Kreatur zu gebieten habe, und alsbald berief er die Vögel und
  Schmetterlinge um sich, und sie kamen in großen glänzenden Scharen, er
  winkte und taktierte mit den Händen, nickte mit dem Kopf, befahl mit
  Blicken und Zungenschnalzen, und gefügig ordneten sich alle die
  herrlichen Tiere in der goldigen Luft zu schönen schwebenden Reigen und
  Festzügen, pfiffen und summten, zirpten und rollten in feinen Chören,
  suchten und flohen, verfolgten und haschten einander, beschrieben
  feierliche Kreise und schalkhafte Spiralen in der Luft. Es war ein
  glänzendes herrliches Ballett und Konzert und ein wiedergefundenes
  Paradies, und der Träumer verweilte in dieser harmonischen Zauberwelt,
  die ihm gehorchte und zu eigen war, mit einer innig ergriffenen und
  beinahe schmerzlichen Lust; denn in all dem Glück war doch schon ein
  leises Ahnen oder Wissen enthalten, ein Vorgeschmack von Unverdientheit
  und Vergänglichkeit, wie ihn ein frommer Missionar ohnehin bei jeder
  Sinnenlust auf der Zunge haben muß.
  Dieser ängstliche Vorgeschmack trog denn auch nicht. Noch schwelgte der
  entzückte Naturfreund im Anblick einer Affenquadrille und liebkoste
  einen ungeheuren blauen Sammetfalter, der sich vertraulich auf seine
  linke Hand gesetzt hatte und sich wie ein Täubchen streicheln ließ, aber
  schon begannen Schatten der Angst und Auflösung in dem Zauberhain zu
  flattern und das Gemüt des Träumers zu umhüllen. Einzelne Vögel schrien
  plötzlich grell und angstvoll auf, unruhige Windstöße erbrausten in den
  hohen Wipfeln, das frohe warme Sonnenlicht wurde fahl und siech, die
  Vögel huschten nach allen Seiten davon, und die schönen großen Falter
  ließen sich in wehrlosem Schrecken vom Winde davonführen. Regentropfen
  klatschten erregt auf den Baumkronen, ein ferner leiser Donner rollte
  langsam austönend über das Himmelsgewölbe.
  Da betrat Mister Bradley den Wald. Der letzte bunte Vogel war entflogen.
  Hünenhaft groß von Gestalt und finster wie der Geist eines erschlagenen
  Königs kam Bradley heran, spuckte verächtlich vor dem Missionar aus und
  begann ihm in verletzenden, höhnischen, feindseligen Worten vorzuwerfen,
  er sei ein Gauner und Tagedieb, der sich von seinem Londoner Patron für
  die Bekehrung der Heiden anstellen und bezahlen lasse, statt dessen aber
  nichts tue als müßiggehen, Käfer fangen und spazieren laufen. Und Aghion
  mußte in Zerknirschung eingestehen, jener habe recht und er sei all
  dieser Versäumnis schuldig.
  Es erschien nun jener mächtige reiche Patron aus England, Aghions
  Brotgeber, sowie mehrere englische Geistliche, und diese zusammen mit
  Bradley trieben und hetzten den Missionar vor sich her durch Busch und
  Dorn, bis sie auf eine volkreiche Straße und in jene Vorstadt von Bombay
  kamen, wo der turmhohe groteske Hindutempel stand. Hier flutete eine
  bunte Menschenmenge aus und ein, nackte Kulis und weißgekleidete stolze
  Brahmanen, dem Tempel gegenüber aber war eine christliche Kirche
  errichtet, und über ihrem Portal war Gottvater in Stein gebildet, in
  Wolken schwebend mit ernstem Vaterauge und fließendem Bart.
  Auf die Stufen des Gotteshauses schwang sich der bedrängte Missionar,
  winkte mit den Armen und begann den Hinduleuten zu predigen. Mit lauter
  Stimme forderte er sie auf, herzuschauen und zu vergleichen, wie anders
  der wahre Gott beschaffen sei als ihre armen Fratzengötter mit den
  vielen Armen und Rüsseln. Mit ausgestrecktem Finger wies er auf das
  verschlungene Figurenwerk der indischen Tempelfassade, und dann wies er
  einladend auf das Gottesbild seiner Kirche. Aber wie sehr erschrak er
  da, als er seiner eigenen Gebärde folgend wieder emporblickte; denn
  Gottvater hatte sich verändert, er hatte drei Köpfe und sechs Arme
  bekommen und hatte statt des etwas blöden und machtlosen Ernstes ein
  feines, überlegen vergnügtes Lächeln in den Gesichtern, genau wie es die
  feineren unter den indischen Götterbildern nicht selten zeigten.
  Verzagend sah sich der Prediger nach Bradley, nach dem Patron und der
  Geistlichkeit um; sie waren aber alle verschwunden, er stand allein und
  kraftlos auf den Stufen der Kirche, und nun verließ ihn auch Gottvater
  selbst, denn er winkte mit seinen sechs Armen zu dem Tempel hinüber und
  lächelte den Hindugöttern mit göttlicher Heiterkeit zu.
  Vollständig verlassen, geschändet und verloren stand Aghion auf seiner
  Kirchentreppe. Er schloß die Augen und blieb aufrecht stehen, jede
  Hoffnung war in seiner Seele erloschen, und er wartete mit verzweifelter
  Ruhe darauf, von den Heiden gesteinigt zu werden. Statt dessen aber
  fühlte er sich, nach einer furchtbaren Pause, von einer starken, doch
  sanften Hand beiseite geschoben, und als er die Augen aufriß, sah er den
  steinernen Gottvater groß und ehrwürdig die Stufen herabschreiten,
  während gegenüber die Götterfiguren des Tempels in ganzen Scharen von
  ihren Schauplätzen herabstiegen. Sie alle wurden von Gottvater begrüßt,
  der sodann in den Hindutempel eintrat und mit freundlicher Gebärde die
  Huldigung der weißgekleideten Brahmanen entgegennahm. Die Heidengötter
  aber mit ihren Rüsseln, Ringellocken und Schlitzaugen besuchten einmütig
  die Kirche, fanden alles gut und hübsch und zogen viele Beter nach sich,
  und so entstand ein Umzug der Götter und Menschen zwischen Kirche und
  Tempel; Gong und Orgel tönten geschwisterlich ineinander, und stille
  dunkle Indier brachten auf nüchternen englisch-christlichen Altären
  Lotosblumen dar.
  Mitten im festlichen Gedränge aber schritt mit den glatten, glänzend
  schwarzen Haaren und den großen kindlichen Augen die schöne Naissa. Sie
  kam zwischen vielen anderen Gläubigen vom Tempel herübergegangen, stieg
  die Stufen zur Kirche empor und blieb vor dem Missionare stehen. Sie sah
  ihm ernst und lieblich in die Augen, nickte ihm zu und bot ihm eine
  Lotosblüte hin. Er aber, in überwallendem Entzücken, beugt sich über ihr
  klares stilles Gesicht herab, küßt sie auf die Lippen und schließt sie
  in seine Arme.
  Noch ehe er hatte sehen können, was Naissa dazu sage, erwachte Aghion
  aus seinem Traum und fand sich müde und erschrocken in tiefer Dunkelheit
  auf seinem Lager hingestreckt. Eine schmerzliche Verwirrung aller
  Gefühle und Triebe quälte ihn bis zur Verzweiflung. Der Traum hatte ihm
  sein eigenes Selbst unverhüllt gezeigt, seine Schwäche und Verzagtheit,
  den Unglauben an seinen Beruf, seine Verliebtheit in die braune Heidin,
  seinen unchristlichen Haß gegen Bradley, sein schlechtes Gewissen dem
  englischen Brotgeber gegenüber. Es war so, es war alles wahr und nicht
  zu ändern.
  Eine Weile lag er traurig und bis zu Tränen erregt im Dunkeln. Er
  versuchte zu beten und vermochte es nicht, er versuchte sich die Naissa
  als Teufelin vorzustellen und seine Neigung als verworfen zu erkennen
  und konnte auch das nicht. Am Ende erhob er sich, einer halbbewußten
  Regung folgend und noch von den Schatten und Schauern des Traumes
  umgeben; er verließ sein Zimmer und suchte Bradleys Stube auf,
  ebensosehr im triebhaften Bedürfnis nach Menschenanblick und Trost wie
  in der frommen Absicht, sich seiner Abneigung gegen diesen Mann zu
  schämen und durch Offenheit ihn sich zum Freunde zu machen.
  Leise schlich er auf dünnen Bastsohlen die dunkle Veranda entlang bis
  zum Schlafzimmer Bradleys, dessen leichte Tür aus Bambusgestäbe nur bis
  zur halben Höhe der Türöffnung reichte und den hohen Raum schwach
  erleuchtet zeigte; denn jener pflegte, gleich vielen Europäern in
  Indien, die ganze Nacht hindurch ein kleines Öllicht zu brennen.
  Behutsam drückte Aghion die dünnen Türflügel nach innen und ging hinein.
  Der kleine Öldocht schwelte in einem irdenen Schüsselchen am Boden des
  Gemachs und warf schwache, ungeheure Schatten an den kahlen Wänden
  aufwärts. Ein brauner Nachtfalter umsurrte das Licht in kleinen Kreisen.
  Um die umfangreiche Bettstatt her war der große Moskitoschleier
  sorgfältig zusammengezogen. Der Missionar nahm die Lichtschale in die
  Hand, trat ans Bett und öffnete den Schleier eine Spanne weit. Eben
  wollte er des Schläfers Namen rufen, da sah er mit heftigem Erschrecken,
  daß Bradley nicht allein sei. Er lag, vom dünnen, seidenen Nachtkleide
  bedeckt, auf dem Rücken, und sein Gesicht mit dem emporgereckten Kinn
  sah um nichts zarter oder freundlicher aus als am Tage. Neben ihm aber
  lag nackt eine zweite Gestalt, eine Frau mit langen schwarzen Haaren.
  Sie lag auf der Seite und wendete dem Missionar das schlafende Gesicht
  zu, und er erkannte sie: es war das starke große Mädchen, das jede Woche
  die Wäsche abzuholen pflegte.
  Ohne den Vorhang wieder zu schließen floh Aghion hinaus und in sein
  Zimmer zurück. Er versuchte wieder zu schlafen, doch gelang es ihm
  nicht; das Erlebnis des Tages, der seltsame Traum und endlich der
  Anblick der nackten Schläferin hatten ihn gewaltig erregt. Zugleich war
  seine Abneigung gegen Bradley viel stärker geworden, ja er scheute sich
  vor dem Augenblick des Wiedersehens und der Begrüßung beim Frühstück. Am
  meisten aber quälte und bedrückte ihn die Frage, ob es nun seine Pflicht
  sei, dem Hausgenossen wegen seiner Lebensführung Vorwürfe zu machen und
  seine Besserung zu versuchen. Aghions ganze Natur war dagegen, aber sein
  Amt schien es von ihm zu fordern, daß er seine Feigheit überwinde und
  dem Sünder unerschrocken ins Gewissen rede. Er zündete seine Lampe an
  und las, von den singenden Mücken umschwärmt und gepeinigt, stundenlang
  im Neuen Testament, ohne doch Sicherheit und Trost zu gewinnen. Beinahe
  hätte er ganz Indien fluchen mögen oder doch seiner Neugierde und
  Wanderlust, die ihn hieher und in diese Sackgasse geführt hatte. Nie war
  ihm die Zukunft so düster erschienen, und nie hatte er sich so wenig zum
  Bekenner und Märtyrer geschaffen gefühlt wie in dieser Nacht.
  Zum Frühstück kam er mit unterhöhlten Augen und müden Zügen, rührte
  unfroh mit dem Löffel im duftenden Tee und schälte in verdrossener
  Spielerei lange Zeit an einer Banane herum, bis Herr Bradley erschien.
  Dieser grüßte kurz und kühl wie sonst, setzte den Boy und den
  Wasserträger durch laute Befehle in Trab, suchte sich mit langwieriger
  Umsicht die goldigste Frucht aus dem Bananenbüschel und aß dann rasch
  und herrisch, während im sonnigen Hof der Diener sein Pferd vorführte.
  „Ich hätte noch etwas mit Ihnen zu besprechen,“ sagte der Missionar, als
  der andere eben aufbrechen wollte. Argwöhnisch blickte Bradley auf.
  „So? Ich habe sehr wenig Zeit. Muß es gerade jetzt sein?“
  „Ja, es ist besser. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, daß ich
  von dem unerlaubten Umgange weiß, den Sie mit einem Hinduweib haben. Sie
  können sich denken, wie peinlich es mir ist ...“
  „Peinlich!“ rief Bradley aufspringend und brach in ein zorniges
  Gelächter aus. „Herr, Sie sind ein größerer Esel, als ich je gedacht
  hätte! Was Sie von mir halten, ist mir natürlich durchaus einerlei, daß
  Sie aber in meinem Hause herumschnüffeln und spionieren, finde ich
  niederträchtig. Machen wir die Sache kurz! Ich lasse Ihnen Zeit bis
  Sonntag. Bis dahin suchen Sie sich freundlichst eine neue Unterkunft in
  der Stadt; denn in diesem Hause werde ich Sie keinen Tag länger dulden!“
  Aghion hatte eine barsche Abfertigung, nicht aber diese Antwort
  erwartet. Doch ließ er sich nicht einschüchtern.
  „Es wird mir ein Vergnügen sein,“ sagte er mit guter Haltung, „Sie von
  meiner lästigen Einquartierung zu befreien. Guten Morgen, Herr Bradley!“
  Er ging weg, und Bradley sah ihm aufmerksam nach, halb betroffen, halb
  belustigt. Dann strich er sich den harten Schnurrbart, rümpfte die
  Lippen, pfiff seinem Hunde und stieg die Holztreppe zum Hof hinab, um in
  die Stadt zu reiten.
  Beiden Männern war die kurze gewitterhafte Aussprache und Klärung der
  Lage im Herzen willkommen. Aghion allerdings sah sich unerwartet vor
  Sorgen und Entschlüsse gestellt, die ihm bis vor einer Stunde noch in
  angenehmer Ferne geschwebt hatten. Aber je ernstlicher er seine
  Angelegenheiten bedachte und je deutlicher es ihm wurde, daß der Streit
  mit Bradley eine Nebensache, die Lösung seines ganzen verworrenen
  Zustandes aber nun eine unerbittliche Notwendigkeit geworden sei, desto
  klarer und wohler wurde ihm in den Gedanken. Das Leben in diesem Hause,
  das Brachliegen seiner Kräfte, ungestillte Begierden und tote Stunden
  waren ihm zu einer Qual geworden, die seine einfältige Natur ohnehin
  nicht lange mehr ertragen hätte, und so ward es ihm leicht, sich des
  Endes einer halben Gefangenschaft zu freuen, komme danach, was da wolle.
  Es war noch früh am Morgen, und eine Ecke des Gartens, sein
  Lieblingsplatz, lag noch kühl im halben Schatten. Hier hingen die Zweige
  verwilderter Gebüsche über einen ganz kleinen, gemauerten Weiher nieder,
  der einst als Badestelle angelegt, aber verwahrlost und nun von einem
  Völkchen gelber Schildkröten bewohnt war. Hieher trug er seinen
  Bambusstuhl, legte sich nieder und sah den schweigsamen Tieren zu,
  welche träg und wohlig im lauen grünen Wasser schwammen und still aus
  klugen kleinen Augen blickten. Jenseits im Wirtschaftshofe kauerte in
  seinem Winkel der unbeschäftigte Stalljunge und sang; sein eintöniges
  näselndes Lied klang wie Wellenspiel herüber und zerfloß in der warmen
  Luft, und unversehens überfiel nach der schlaflosen erregten Nacht den
  Liegenden die Müdigkeit, er schloß die Augen, ließ die Arme sinken und
  schlief ein.
  Als ein Mückenstich ihn erweckte, sah er mit Beschämung, daß er fast den
  ganzen Vormittag verschlafen hatte. Aber er fühlte sich nun frisch und
  ungetrübt und ging jetzt ungesäumt daran, seine Gedanken und Wünsche zu
  ordnen und die Wirrnis seines Lebens sachte auseinander zu falten. Da
  wurde ihm unzweifelhaft klar, was unbewußt seit langem ihn gelähmt und
  seine Träume beängstigt hatte, daß nämlich seine Reise nach Indien zwar
  durchaus gut und klug gewesen war, daß aber zum Missionar ihm der
  richtige innere Beruf und Antrieb fehle. Er war bescheiden genug, darin
  eine Niederlage und einen betrübenden Mangel zu sehen; aber zur
  Verzweiflung war kein Grund vorhanden. Vielmehr schien ihm jetzt, da er
  entschlossen war, sich eine angemessenere Arbeit zu suchen, das reiche
  Indien erst recht eine gute Zuflucht und Heimat zu sein. Mochte es
  traurig sein, daß alle diese Eingeborenen sich falschen Göttern
  verschrieben hatten – sein Beruf war es nicht, das zu ändern. Sein Beruf
  war, dieses Land für sich zu erobern und für sich und andere das Beste
  daraus zu holen, indem er sein Auge, seine Kenntnisse, seine zur Tat
  gewillte Jugend darbrachte und überall bereit stand, wo eine Arbeit für
  ihn sich böte.
  Noch am Abend desselben Tages wurde er, nach einer Besprechung, die kaum
  eine Stunde gedauert hatte, von einem in Bombay wohnhaften Herrn
  Sturrock als Sekretär und Aufseher für eine benachbarte Kaffeepflanzung
  angestellt. Einen Brief an seinen bisherigen Brotgeber, worin Aghion
  sein Tun erklärte und sich zum spätern Ersatz des Empfangenen
  verpflichtete, versprach Sturrock nach London zu besorgen. Als der neue
  Aufseher in seine Wohnung zurückkehrte, fand er Bradley in Hemdärmeln
  allein beim Abendessen sitzen. Er teilte ihm, noch ehe er neben ihm
  Platz nahm, das Geschehene mit.
  Bradley nickte mit vollem Munde, goß etwas Whisky in sein Trinkwasser
  und sagte fast freundlich: „Sitzen Sie und bedienen Sie sich, der Fisch
  ist schon kalt. Nun sind wir ja eine Art von Kollegen. Na, ich wünsche
  Ihnen Gutes. Kaffee bauen ist leichter als Hindus bekehren, das ist
  gewiß, und möglicherweise ist es ebenso wertvoll. Ich hätte Ihnen nicht
  soviel Vernunft zugetraut, Aghion!“
  Die Pflanzung, die er beziehen sollte, lag zwei Tagereisen weit
  landeinwärts, und übermorgen sollte Aghion in Begleitung einer
  Kulitruppe dorthin aufbrechen; so blieb ihm zum Besorgen seiner
  Angelegenheiten nur ein einziger Tag. Zu Bradleys Verwunderung erbat er
  sich für morgen ein Reitpferd, doch enthielt sich jener aller Fragen,
  und die beiden Männer saßen, nachdem sie die von tausend Insekten
  umflügelte Lampe hatten wegtragen lassen, in dem lauen, schwarzen
  indischen Abend einander gegenüber und fühlten sich einander näher als
  in all diesen vielen Monaten eines gezwungenen Zusammenlebens.
  „Sagen Sie,“ fing Aghion nach einem langen Schweigen an, „Sie haben
  sicher von Anfang an nicht an meine Missionspläne geglaubt?“
  „O doch,“ gab Bradley ruhig zurück. „Daß es Ihnen damit Ernst war,
  konnte ich ja sehen.“
  „Aber Sie konnten gewiß auch sehen, wie wenig ich zu dem paßte, was ich
  hier tun und vorstellen sollte! Warum haben Sie mir das nie gesagt?“
  „Ich war von niemand dazu angestellt. Ich liebe es nicht, wenn mir
  jemand in meine Sachen hineinredet; so tue ich das auch bei anderen
  nicht. Außerdem habe ich hier in Indien schon die verrücktesten Dinge
  unternehmen und gelingen sehen. Das Bekehren war Ihr Beruf, nicht
  meiner. Und jetzt haben Sie ganz von selber einige Ihrer Irrtümer
  eingesehen! So wird es Ihnen auch noch mit anderen gehen ...“
  „Mit welchen zum Beispiel?“
  
You have read 1 text from German literature.