Aus Indien - 8

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Ein anderes Mal setzte ihn der Wasserträger in Erstaunen. Dieser Mann
erhielt seinen Lohn und sein Essen dafür, daß er täglich die Küche und
die beiden Badekammern aus der nächsten Zisterne her mit Wasser
versorgte. Er tat diese Arbeit stets am frühen Morgen und am Abend, den
ganzen übrigen Tag saß er in der Küche oder in der Dienerhütte und kaute
entweder Betel oder ein Stückchen Zuckerrohr. Einmal, da der andere
Diener ausgegangen war, gab ihm Aghion ein Beinkleid zum Ausbürsten, das
von einem Spaziergang her voll von Grassamen hing. Der Mann lachte nur
und steckte die Hände auf den Rücken, und als der Missionar unwillig
wurde und ihm streng befahl, sofort die kleine Arbeit zu tun, folgte er
zwar endlich, tat die Verrichtung aber unter Murren und Tränen, setzte
sich dann trostlos in die Küche und schalt und tobte eine Stunde lang
wie ein Verzweifelter. Mit unendlicher Mühe und nach Überwindung vieler
Mißverständnisse brachte Aghion an den Tag, daß er den Menschen schwer
beleidigt habe durch den Befehl zu einer Arbeit, die nicht zu seinem
Amte gehörte.
Alle diese kleinen Erfahrungen traten, sich allmählich verdichtend, wie
zu einer Glaswand zusammen, die den Missionar von seiner Umgebung
abtrennte und in eine immer peinlichere Einsamkeit verwies. Desto
heftiger, ja mit einer gewissen verzweifelten Gier lag er seinen
Sprachstudien ob, in denen er gute Fortschritte machte und die ihm, wie
er sehnlichst hoffte, dies fremde Volk doch noch erschließen sollten.
Immer häufiger konnte er es nun wagen, Eingeborene auf der Straße
anzureden, er ging ohne Dolmetscher zum Schneider, zum Krämer, zum
Schuhmacher. Manchmal gelang es ihm, mit einfachen Leuten ins Geplauder
zu kommen, etwa indem er einem Handwerker sein Werk, einer Mutter ihren
Säugling freundlich betrachtete und lobte, und aus Worten und Blicken
dieser Heidenmenschen, namentlich aber aus ihrem guten, kindlichen,
seligen Lachen, sprach ihn oft die Seele des fremden Volkes so klar und
brüderlich an, daß für Augenblicke alle Schranken fielen und das Gefühl
der Fremdheit sich verlor.
Schließlich meinte er entdeckt zu haben, daß Kinder und einfache Leute
vom Lande ihm fast immer zugänglich seien, ja daß alle Schwierigkeiten,
alles Mißtrauen und alle Verderbnis der Städter nur von der Berührung
mit den europäischen Schiffs- und Handelsleuten herkomme. Von da an
wagte er sich, häufig zu Pferde, auf Ausflügen immer weiter ins Land
hinein. Er trug kleine Kupfermünzen und manchmal auch Zuckerstücke für
die Kinder in der Tasche, und wenn er weit drinnen im hügeligen Lande
vor einer bäuerlichen Lehmhütte sein Pferd an eine Palme band, und unter
das Schilfdach tretend, grüßte und um einen Trunk Wasser oder Kokosmilch
bat, so ergab sich fast jedesmal eine harmlos freundliche Bekanntschaft
und ein Geplauder, bei dem Männer, Weiber und Kinder über seine noch
mangelhafte Kenntnis der Sprache oft im fröhlichsten Erstaunen hellauf
lachten, was er gar nicht ungerne sah.
Noch machte er keinerlei Versuche, den Leuten bei solchen Anlässen vom
lieben Gott zu erzählen. Es schien ihm das nicht nur nicht eilig,
sondern auch überaus heikel und fast unmöglich zu sein, da er für alle
die geläufigen Ausdrücke des biblischen Glaubens durchaus keine
indischen Worte finden konnte. Außerdem fühlte er kein Recht, sich zum
Lehrer dieser Leute aufzuwerfen und sie zu wichtigen Änderungen in ihrem
Leben aufzufordern, ehe er dieses Leben genau kannte und fähig war, mit
den Hindus einigermaßen auf gleichem Fuße zu leben und zu reden.
Dadurch dehnten seine Studien sich weiter aus. Er suchte Leben, Arbeit
und Erwerb der Eingeborenen kennen zu lernen, er ließ sich Bäume und
Früchte zeigen und benennen, Haustiere und Geräte, er erforschte nach
und nach die Geheimnisse des nassen und des trockenen Reisbaues, der
Gewinnung des Bastes und der Baumwolle, er betrachtete Hausbau und
Töpferei, Strohflechten und Webearbeiten, worin er von der Heimat her
Bescheid wußte. Er sah dem Pflügen schlammiger Reisfelder mit rosenroten
fetten Wasserbüffeln zu, er lernte die Arbeit des gezähmten Elefanten
kennen und sah zahme Affen für ihre Herren die reifen Kokosnüsse von den
hohen Bäumen holen.
Auf einem seiner Ausflüge, in einem friedevollen Tal zwischen hohen
grünen Hügeln, überraschte ihn einst ein wilder Gewitterregen, vor
welchem er in der nächsten Hütte, die er erreichen konnte, einen
Unterstand suchte. Er fand in dem engen Raum zwischen lehmbekleideten
Bambuswänden eine kleine Familie versammelt, die den hereintretenden
Fremdling mit scheuem Erstaunen begrüßte. Die Hausmutter hatte ihr
graues Haar mit Henna feurigrot gefärbt und zeigte, da sie zum Empfang
aufs freundlichste lächelte, einen Mund voll ebenso roter Zähne, die
ihre Leidenschaft für das Betelkauen verrieten. Ihr Mann war ein großer,
ernsthaft blickender Mensch mit langen, noch dunkeln Haaren. Er erhob
sich vom Boden und nahm eine königlich aufrechte Haltung an, tauschte
Begrüßungsworte mit dem Gast und bot ihm alsbald eine frisch geöffnete
Kokosnuß an, von deren süßlichem Safte der Engländer einen Schluck
genoß. Ein kleiner Knabe, der bei seinem Eintritt still in die Ecke
hinter der steinernen Feuerstelle geflohen war, blitzte von dort unter
einem Wald von glänzend schwarzen Haaren hervor mit ängstlich
neugierigen Augen; auf seiner dunkeln Brust schimmerte ein messingenes
Amulett, das seinen einzigen Schmuck und seine einzige Kleidung bildete.
Einige große Bananenbündel schwebten über der Türe zur Nachreife
aufgehängt; in der ganzen Hütte, die all ihr Licht nur durch die offene
Türe erhielt, war keine Armut, wohl aber die äußerste Einfachheit und
eine hübsche, reinliche Ordnung zu bemerken.
Ein leises, aus allerfernsten Kindheitserinnerungen emporduftendes
Heimatgefühl, das den Reisenden so leicht beim Anblick zufriedener
Häuslichkeit übernimmt, ein leises Heimatgefühl, das er in dem Bungalow
des Herrn Bradley niemals gespürt hatte, kam über den Missionar, und es
schien ihm beinahe so, als sei seine Einkehr hier nicht nur die eines
vom Regen überfallenen Wanderers, sondern als wehe ihm, der sich in
trüben Lebenswirrsalen verlaufen, endlich einmal wieder Sinn und Frohmut
eines richtigen, natürlichen, in sich begnügten Lebens entgegen. Auf dem
dichten Schilfblätterdach der Hütte rauschte und trommelte
leidenschaftlich der wilde Regen und hing vor der Türe dick und blank
wie eine Glaswand.
Die Alten unterhielten sich froh und unbefangen mit ihrem ungewöhnlichen
Gaste, und als sie am Ende mit Höflichkeit die natürliche Frage
stellten, was denn seine Ziele und Absichten in diesem Lande seien, kam
er in Verlegenheit und begann von anderem zu reden. Wieder, wie schon
oft, wollte es dem bescheidenen Aghion als eine ungeheuerliche Frechheit
und Überhebung erscheinen, daß er als Abgesandter eines fernen Volkes
hierher gekommen sei mit der Absicht, diesen Menschen ihren Gott und
Glauben zu nehmen und einen anderen dafür aufzunötigen. Immer hatte er
gedacht, diese Scheu würde sich verlieren, sobald er nur die
Hindusprache besser beherrsche; aber heute ward ihm unzweifelhaft klar,
daß dies eine Täuschung gewesen war und daß er, je besser er das braune
Volk verstand, desto weniger Recht und Lust in sich verspürte, herrisch
in das Leben dieses Volkes einzugreifen.
Der Regen ließ nach, und das mit der fetten roten Erde durchsetzte
Wasser in der hügeligen Gasse lief davon, Sonnenstrahlen drangen
zwischen den naß glänzenden Palmenstämmen hervor und spiegelten sich
grell und blendend in den blanken Riesenblättern der Pisangbäume. Der
Missionar bedankte sich bei seinen Wirten und machte Miene, sich zu
verabschieden, da fiel ein Schatten auf den Boden und der kleine Raum
verfinsterte sich. Schnell wandte er sich um und sah durch die Tür eine
Gestalt lautlos auf nackten Sohlen hereintreten, eine junge Frau oder
ein Mädchen, die bei seinem unerwarteten Anblick erschrak und zu dem
Knaben hinter die Feuerstatt floh.
„Heda, sag’ dem Herrn guten Tag!“ rief ihr der Vater zu, und sie trat
schüchtern zwei Schritte vor, kreuzte die Hände vor der Brust und
verneigte sich mehrmals. In ihrem dicken tiefschwarzen Haar schimmerten
Regentropfen; der Engländer legte freundlich und befangen seine Hand
darauf und sprach einen Gruß, und während er das weiche geschmeidige
Haar lebendig in seinen Fingern fühlte, hob sie das Gesicht zu ihm auf
und lächelte freundlich aus dunkeln wunderschönen Augen. Um den Hals
trug sie eine rosenrote Korallenkette und am einen Fußgelenk einen
schweren goldenen Ring, sonst nichts als das dicht unter den Brüsten
gegürtete rotbraune Untergewand. So stand sie in ihrer einfachen
Schönheit vor dem erstaunten Fremden; die schrägen Sonnenstrahlen
spiegelten sich matt in ihrem Haar und auf ihren braunen blanken
Schultern, blitzend funkelten die kleinen spitzen Zähne aus dem jungen
Munde. Robert Aghion sah sie mit Entzücken an und suchte tief in ihre
stillen sanften Augen zu blicken, wurde aber schnell verlegen; der
feuchte Duft ihrer Haare und der Anblick ihrer nackten Schultern und
Brüste verwirrte ihn, so daß er bald vor ihrem unschuldigen Blick die
Augen niederschlug. Er griff in die Tasche und holte eine kleine
stählerne Schere hervor, mit der er sich Nägel und Bart zu schneiden
pflegte und die ihm auch beim Pflanzensammeln diente; die schenkte er
dem schönen Mädchen und wußte wohl, daß dies eine recht kostbare Gabe
sei. Sie nahm das Ding denn auch befangen und in beglücktem Erstaunen an
sich, während die Eltern sich in Dankesworten erschöpften, und als er
nun Abschied nahm und ging, da folgte sie ihm bis unter das Vordach der
Hütte, ergriff seine linke Hand und küßte sie. Die laue, zärtliche
Berührung dieser blumenhaften Lippen rann dem Manne ins Blut, am
liebsten hätte er sie auf den Mund geküßt. Statt dessen nahm er ihre
beiden Hände in seine Rechte, sah ihr in die Augen und sagte: „Wie alt
bist du?“
„Das weiß ich nicht,“ gab sie zur Antwort.
„Und wie heißt du denn?“
„Naissa.“
„Leb’ wohl, Naissa, und vergiß mich nicht!“
„Naissa vergißt ihren Herrn nicht.“
Er ging von dannen und suchte den Heimweg, tief in Gedanken, und als er
spät in der Dunkelheit ankam und in seine Kammer trat, bemerkte er erst
jetzt, daß er heute keinen einzigen Schmetterling oder Käfer, nicht
Blatt noch Blume von seinem Ausflug mitgebracht hatte. Seine Wohnung
aber, das öde Junggesellenhaus mit den herumlungernden Dienern und dem
kühlen mürrischen Herrn Bradley war ihm noch nie so unheimlich und
trostlos erschienen wie in dieser Abendstunde, da er bei seiner kleinen
Öllampe am wackligen Tischlein saß und in der Bibel zu lesen versuchte.
In dieser Nacht, als er nach langer Gedankenunruhe und trotz den
singenden Moskiten endlich den Schlaf gefunden hatte, wurde der
Missionar von sonderbaren Träumen heimgesucht.
Er wandelte in einem dämmernden Palmenhain, wo gelbe Sonnenflecke auf
dem rotbraunen Boden spielten. Papageien riefen aus der Höhe, Affen
turnten tollkühn an den unendlich hohen Baumsäulen, kleine
edelsteinblitzende Kolibrivögel leuchteten kostbar auf, Insekten jeder
Art gaben durch Töne, Farben oder Bewegungen ihre Lebensfreude kund. Der
frohe Missionar spazierte dankbar und beglückt inmitten dieser Pracht;
er rief einen seiltanzenden Affen an, und siehe, das flinke Tier
kletterte gehorsam zur Erde und stellte sich wie ein Diener mit Gebärden
der Ergebenheit vor Aghion auf. Dieser sah ein, daß er in diesem seligen
Bezirk der Kreatur zu gebieten habe, und alsbald berief er die Vögel und
Schmetterlinge um sich, und sie kamen in großen glänzenden Scharen, er
winkte und taktierte mit den Händen, nickte mit dem Kopf, befahl mit
Blicken und Zungenschnalzen, und gefügig ordneten sich alle die
herrlichen Tiere in der goldigen Luft zu schönen schwebenden Reigen und
Festzügen, pfiffen und summten, zirpten und rollten in feinen Chören,
suchten und flohen, verfolgten und haschten einander, beschrieben
feierliche Kreise und schalkhafte Spiralen in der Luft. Es war ein
glänzendes herrliches Ballett und Konzert und ein wiedergefundenes
Paradies, und der Träumer verweilte in dieser harmonischen Zauberwelt,
die ihm gehorchte und zu eigen war, mit einer innig ergriffenen und
beinahe schmerzlichen Lust; denn in all dem Glück war doch schon ein
leises Ahnen oder Wissen enthalten, ein Vorgeschmack von Unverdientheit
und Vergänglichkeit, wie ihn ein frommer Missionar ohnehin bei jeder
Sinnenlust auf der Zunge haben muß.
Dieser ängstliche Vorgeschmack trog denn auch nicht. Noch schwelgte der
entzückte Naturfreund im Anblick einer Affenquadrille und liebkoste
einen ungeheuren blauen Sammetfalter, der sich vertraulich auf seine
linke Hand gesetzt hatte und sich wie ein Täubchen streicheln ließ, aber
schon begannen Schatten der Angst und Auflösung in dem Zauberhain zu
flattern und das Gemüt des Träumers zu umhüllen. Einzelne Vögel schrien
plötzlich grell und angstvoll auf, unruhige Windstöße erbrausten in den
hohen Wipfeln, das frohe warme Sonnenlicht wurde fahl und siech, die
Vögel huschten nach allen Seiten davon, und die schönen großen Falter
ließen sich in wehrlosem Schrecken vom Winde davonführen. Regentropfen
klatschten erregt auf den Baumkronen, ein ferner leiser Donner rollte
langsam austönend über das Himmelsgewölbe.
Da betrat Mister Bradley den Wald. Der letzte bunte Vogel war entflogen.
Hünenhaft groß von Gestalt und finster wie der Geist eines erschlagenen
Königs kam Bradley heran, spuckte verächtlich vor dem Missionar aus und
begann ihm in verletzenden, höhnischen, feindseligen Worten vorzuwerfen,
er sei ein Gauner und Tagedieb, der sich von seinem Londoner Patron für
die Bekehrung der Heiden anstellen und bezahlen lasse, statt dessen aber
nichts tue als müßiggehen, Käfer fangen und spazieren laufen. Und Aghion
mußte in Zerknirschung eingestehen, jener habe recht und er sei all
dieser Versäumnis schuldig.
Es erschien nun jener mächtige reiche Patron aus England, Aghions
Brotgeber, sowie mehrere englische Geistliche, und diese zusammen mit
Bradley trieben und hetzten den Missionar vor sich her durch Busch und
Dorn, bis sie auf eine volkreiche Straße und in jene Vorstadt von Bombay
kamen, wo der turmhohe groteske Hindutempel stand. Hier flutete eine
bunte Menschenmenge aus und ein, nackte Kulis und weißgekleidete stolze
Brahmanen, dem Tempel gegenüber aber war eine christliche Kirche
errichtet, und über ihrem Portal war Gottvater in Stein gebildet, in
Wolken schwebend mit ernstem Vaterauge und fließendem Bart.
Auf die Stufen des Gotteshauses schwang sich der bedrängte Missionar,
winkte mit den Armen und begann den Hinduleuten zu predigen. Mit lauter
Stimme forderte er sie auf, herzuschauen und zu vergleichen, wie anders
der wahre Gott beschaffen sei als ihre armen Fratzengötter mit den
vielen Armen und Rüsseln. Mit ausgestrecktem Finger wies er auf das
verschlungene Figurenwerk der indischen Tempelfassade, und dann wies er
einladend auf das Gottesbild seiner Kirche. Aber wie sehr erschrak er
da, als er seiner eigenen Gebärde folgend wieder emporblickte; denn
Gottvater hatte sich verändert, er hatte drei Köpfe und sechs Arme
bekommen und hatte statt des etwas blöden und machtlosen Ernstes ein
feines, überlegen vergnügtes Lächeln in den Gesichtern, genau wie es die
feineren unter den indischen Götterbildern nicht selten zeigten.
Verzagend sah sich der Prediger nach Bradley, nach dem Patron und der
Geistlichkeit um; sie waren aber alle verschwunden, er stand allein und
kraftlos auf den Stufen der Kirche, und nun verließ ihn auch Gottvater
selbst, denn er winkte mit seinen sechs Armen zu dem Tempel hinüber und
lächelte den Hindugöttern mit göttlicher Heiterkeit zu.
Vollständig verlassen, geschändet und verloren stand Aghion auf seiner
Kirchentreppe. Er schloß die Augen und blieb aufrecht stehen, jede
Hoffnung war in seiner Seele erloschen, und er wartete mit verzweifelter
Ruhe darauf, von den Heiden gesteinigt zu werden. Statt dessen aber
fühlte er sich, nach einer furchtbaren Pause, von einer starken, doch
sanften Hand beiseite geschoben, und als er die Augen aufriß, sah er den
steinernen Gottvater groß und ehrwürdig die Stufen herabschreiten,
während gegenüber die Götterfiguren des Tempels in ganzen Scharen von
ihren Schauplätzen herabstiegen. Sie alle wurden von Gottvater begrüßt,
der sodann in den Hindutempel eintrat und mit freundlicher Gebärde die
Huldigung der weißgekleideten Brahmanen entgegennahm. Die Heidengötter
aber mit ihren Rüsseln, Ringellocken und Schlitzaugen besuchten einmütig
die Kirche, fanden alles gut und hübsch und zogen viele Beter nach sich,
und so entstand ein Umzug der Götter und Menschen zwischen Kirche und
Tempel; Gong und Orgel tönten geschwisterlich ineinander, und stille
dunkle Indier brachten auf nüchternen englisch-christlichen Altären
Lotosblumen dar.
Mitten im festlichen Gedränge aber schritt mit den glatten, glänzend
schwarzen Haaren und den großen kindlichen Augen die schöne Naissa. Sie
kam zwischen vielen anderen Gläubigen vom Tempel herübergegangen, stieg
die Stufen zur Kirche empor und blieb vor dem Missionare stehen. Sie sah
ihm ernst und lieblich in die Augen, nickte ihm zu und bot ihm eine
Lotosblüte hin. Er aber, in überwallendem Entzücken, beugt sich über ihr
klares stilles Gesicht herab, küßt sie auf die Lippen und schließt sie
in seine Arme.
Noch ehe er hatte sehen können, was Naissa dazu sage, erwachte Aghion
aus seinem Traum und fand sich müde und erschrocken in tiefer Dunkelheit
auf seinem Lager hingestreckt. Eine schmerzliche Verwirrung aller
Gefühle und Triebe quälte ihn bis zur Verzweiflung. Der Traum hatte ihm
sein eigenes Selbst unverhüllt gezeigt, seine Schwäche und Verzagtheit,
den Unglauben an seinen Beruf, seine Verliebtheit in die braune Heidin,
seinen unchristlichen Haß gegen Bradley, sein schlechtes Gewissen dem
englischen Brotgeber gegenüber. Es war so, es war alles wahr und nicht
zu ändern.
Eine Weile lag er traurig und bis zu Tränen erregt im Dunkeln. Er
versuchte zu beten und vermochte es nicht, er versuchte sich die Naissa
als Teufelin vorzustellen und seine Neigung als verworfen zu erkennen
und konnte auch das nicht. Am Ende erhob er sich, einer halbbewußten
Regung folgend und noch von den Schatten und Schauern des Traumes
umgeben; er verließ sein Zimmer und suchte Bradleys Stube auf,
ebensosehr im triebhaften Bedürfnis nach Menschenanblick und Trost wie
in der frommen Absicht, sich seiner Abneigung gegen diesen Mann zu
schämen und durch Offenheit ihn sich zum Freunde zu machen.
Leise schlich er auf dünnen Bastsohlen die dunkle Veranda entlang bis
zum Schlafzimmer Bradleys, dessen leichte Tür aus Bambusgestäbe nur bis
zur halben Höhe der Türöffnung reichte und den hohen Raum schwach
erleuchtet zeigte; denn jener pflegte, gleich vielen Europäern in
Indien, die ganze Nacht hindurch ein kleines Öllicht zu brennen.
Behutsam drückte Aghion die dünnen Türflügel nach innen und ging hinein.
Der kleine Öldocht schwelte in einem irdenen Schüsselchen am Boden des
Gemachs und warf schwache, ungeheure Schatten an den kahlen Wänden
aufwärts. Ein brauner Nachtfalter umsurrte das Licht in kleinen Kreisen.
Um die umfangreiche Bettstatt her war der große Moskitoschleier
sorgfältig zusammengezogen. Der Missionar nahm die Lichtschale in die
Hand, trat ans Bett und öffnete den Schleier eine Spanne weit. Eben
wollte er des Schläfers Namen rufen, da sah er mit heftigem Erschrecken,
daß Bradley nicht allein sei. Er lag, vom dünnen, seidenen Nachtkleide
bedeckt, auf dem Rücken, und sein Gesicht mit dem emporgereckten Kinn
sah um nichts zarter oder freundlicher aus als am Tage. Neben ihm aber
lag nackt eine zweite Gestalt, eine Frau mit langen schwarzen Haaren.
Sie lag auf der Seite und wendete dem Missionar das schlafende Gesicht
zu, und er erkannte sie: es war das starke große Mädchen, das jede Woche
die Wäsche abzuholen pflegte.
Ohne den Vorhang wieder zu schließen floh Aghion hinaus und in sein
Zimmer zurück. Er versuchte wieder zu schlafen, doch gelang es ihm
nicht; das Erlebnis des Tages, der seltsame Traum und endlich der
Anblick der nackten Schläferin hatten ihn gewaltig erregt. Zugleich war
seine Abneigung gegen Bradley viel stärker geworden, ja er scheute sich
vor dem Augenblick des Wiedersehens und der Begrüßung beim Frühstück. Am
meisten aber quälte und bedrückte ihn die Frage, ob es nun seine Pflicht
sei, dem Hausgenossen wegen seiner Lebensführung Vorwürfe zu machen und
seine Besserung zu versuchen. Aghions ganze Natur war dagegen, aber sein
Amt schien es von ihm zu fordern, daß er seine Feigheit überwinde und
dem Sünder unerschrocken ins Gewissen rede. Er zündete seine Lampe an
und las, von den singenden Mücken umschwärmt und gepeinigt, stundenlang
im Neuen Testament, ohne doch Sicherheit und Trost zu gewinnen. Beinahe
hätte er ganz Indien fluchen mögen oder doch seiner Neugierde und
Wanderlust, die ihn hieher und in diese Sackgasse geführt hatte. Nie war
ihm die Zukunft so düster erschienen, und nie hatte er sich so wenig zum
Bekenner und Märtyrer geschaffen gefühlt wie in dieser Nacht.
Zum Frühstück kam er mit unterhöhlten Augen und müden Zügen, rührte
unfroh mit dem Löffel im duftenden Tee und schälte in verdrossener
Spielerei lange Zeit an einer Banane herum, bis Herr Bradley erschien.
Dieser grüßte kurz und kühl wie sonst, setzte den Boy und den
Wasserträger durch laute Befehle in Trab, suchte sich mit langwieriger
Umsicht die goldigste Frucht aus dem Bananenbüschel und aß dann rasch
und herrisch, während im sonnigen Hof der Diener sein Pferd vorführte.
„Ich hätte noch etwas mit Ihnen zu besprechen,“ sagte der Missionar, als
der andere eben aufbrechen wollte. Argwöhnisch blickte Bradley auf.
„So? Ich habe sehr wenig Zeit. Muß es gerade jetzt sein?“
„Ja, es ist besser. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, daß ich
von dem unerlaubten Umgange weiß, den Sie mit einem Hinduweib haben. Sie
können sich denken, wie peinlich es mir ist ...“
„Peinlich!“ rief Bradley aufspringend und brach in ein zorniges
Gelächter aus. „Herr, Sie sind ein größerer Esel, als ich je gedacht
hätte! Was Sie von mir halten, ist mir natürlich durchaus einerlei, daß
Sie aber in meinem Hause herumschnüffeln und spionieren, finde ich
niederträchtig. Machen wir die Sache kurz! Ich lasse Ihnen Zeit bis
Sonntag. Bis dahin suchen Sie sich freundlichst eine neue Unterkunft in
der Stadt; denn in diesem Hause werde ich Sie keinen Tag länger dulden!“
Aghion hatte eine barsche Abfertigung, nicht aber diese Antwort
erwartet. Doch ließ er sich nicht einschüchtern.
„Es wird mir ein Vergnügen sein,“ sagte er mit guter Haltung, „Sie von
meiner lästigen Einquartierung zu befreien. Guten Morgen, Herr Bradley!“
Er ging weg, und Bradley sah ihm aufmerksam nach, halb betroffen, halb
belustigt. Dann strich er sich den harten Schnurrbart, rümpfte die
Lippen, pfiff seinem Hunde und stieg die Holztreppe zum Hof hinab, um in
die Stadt zu reiten.
Beiden Männern war die kurze gewitterhafte Aussprache und Klärung der
Lage im Herzen willkommen. Aghion allerdings sah sich unerwartet vor
Sorgen und Entschlüsse gestellt, die ihm bis vor einer Stunde noch in
angenehmer Ferne geschwebt hatten. Aber je ernstlicher er seine
Angelegenheiten bedachte und je deutlicher es ihm wurde, daß der Streit
mit Bradley eine Nebensache, die Lösung seines ganzen verworrenen
Zustandes aber nun eine unerbittliche Notwendigkeit geworden sei, desto
klarer und wohler wurde ihm in den Gedanken. Das Leben in diesem Hause,
das Brachliegen seiner Kräfte, ungestillte Begierden und tote Stunden
waren ihm zu einer Qual geworden, die seine einfältige Natur ohnehin
nicht lange mehr ertragen hätte, und so ward es ihm leicht, sich des
Endes einer halben Gefangenschaft zu freuen, komme danach, was da wolle.
Es war noch früh am Morgen, und eine Ecke des Gartens, sein
Lieblingsplatz, lag noch kühl im halben Schatten. Hier hingen die Zweige
verwilderter Gebüsche über einen ganz kleinen, gemauerten Weiher nieder,
der einst als Badestelle angelegt, aber verwahrlost und nun von einem
Völkchen gelber Schildkröten bewohnt war. Hieher trug er seinen
Bambusstuhl, legte sich nieder und sah den schweigsamen Tieren zu,
welche träg und wohlig im lauen grünen Wasser schwammen und still aus
klugen kleinen Augen blickten. Jenseits im Wirtschaftshofe kauerte in
seinem Winkel der unbeschäftigte Stalljunge und sang; sein eintöniges
näselndes Lied klang wie Wellenspiel herüber und zerfloß in der warmen
Luft, und unversehens überfiel nach der schlaflosen erregten Nacht den
Liegenden die Müdigkeit, er schloß die Augen, ließ die Arme sinken und
schlief ein.
Als ein Mückenstich ihn erweckte, sah er mit Beschämung, daß er fast den
ganzen Vormittag verschlafen hatte. Aber er fühlte sich nun frisch und
ungetrübt und ging jetzt ungesäumt daran, seine Gedanken und Wünsche zu
ordnen und die Wirrnis seines Lebens sachte auseinander zu falten. Da
wurde ihm unzweifelhaft klar, was unbewußt seit langem ihn gelähmt und
seine Träume beängstigt hatte, daß nämlich seine Reise nach Indien zwar
durchaus gut und klug gewesen war, daß aber zum Missionar ihm der
richtige innere Beruf und Antrieb fehle. Er war bescheiden genug, darin
eine Niederlage und einen betrübenden Mangel zu sehen; aber zur
Verzweiflung war kein Grund vorhanden. Vielmehr schien ihm jetzt, da er
entschlossen war, sich eine angemessenere Arbeit zu suchen, das reiche
Indien erst recht eine gute Zuflucht und Heimat zu sein. Mochte es
traurig sein, daß alle diese Eingeborenen sich falschen Göttern
verschrieben hatten – sein Beruf war es nicht, das zu ändern. Sein Beruf
war, dieses Land für sich zu erobern und für sich und andere das Beste
daraus zu holen, indem er sein Auge, seine Kenntnisse, seine zur Tat
gewillte Jugend darbrachte und überall bereit stand, wo eine Arbeit für
ihn sich böte.
Noch am Abend desselben Tages wurde er, nach einer Besprechung, die kaum
eine Stunde gedauert hatte, von einem in Bombay wohnhaften Herrn
Sturrock als Sekretär und Aufseher für eine benachbarte Kaffeepflanzung
angestellt. Einen Brief an seinen bisherigen Brotgeber, worin Aghion
sein Tun erklärte und sich zum spätern Ersatz des Empfangenen
verpflichtete, versprach Sturrock nach London zu besorgen. Als der neue
Aufseher in seine Wohnung zurückkehrte, fand er Bradley in Hemdärmeln
allein beim Abendessen sitzen. Er teilte ihm, noch ehe er neben ihm
Platz nahm, das Geschehene mit.
Bradley nickte mit vollem Munde, goß etwas Whisky in sein Trinkwasser
und sagte fast freundlich: „Sitzen Sie und bedienen Sie sich, der Fisch
ist schon kalt. Nun sind wir ja eine Art von Kollegen. Na, ich wünsche
Ihnen Gutes. Kaffee bauen ist leichter als Hindus bekehren, das ist
gewiß, und möglicherweise ist es ebenso wertvoll. Ich hätte Ihnen nicht
soviel Vernunft zugetraut, Aghion!“
Die Pflanzung, die er beziehen sollte, lag zwei Tagereisen weit
landeinwärts, und übermorgen sollte Aghion in Begleitung einer
Kulitruppe dorthin aufbrechen; so blieb ihm zum Besorgen seiner
Angelegenheiten nur ein einziger Tag. Zu Bradleys Verwunderung erbat er
sich für morgen ein Reitpferd, doch enthielt sich jener aller Fragen,
und die beiden Männer saßen, nachdem sie die von tausend Insekten
umflügelte Lampe hatten wegtragen lassen, in dem lauen, schwarzen
indischen Abend einander gegenüber und fühlten sich einander näher als
in all diesen vielen Monaten eines gezwungenen Zusammenlebens.
„Sagen Sie,“ fing Aghion nach einem langen Schweigen an, „Sie haben
sicher von Anfang an nicht an meine Missionspläne geglaubt?“
„O doch,“ gab Bradley ruhig zurück. „Daß es Ihnen damit Ernst war,
konnte ich ja sehen.“
„Aber Sie konnten gewiß auch sehen, wie wenig ich zu dem paßte, was ich
hier tun und vorstellen sollte! Warum haben Sie mir das nie gesagt?“
„Ich war von niemand dazu angestellt. Ich liebe es nicht, wenn mir
jemand in meine Sachen hineinredet; so tue ich das auch bei anderen
nicht. Außerdem habe ich hier in Indien schon die verrücktesten Dinge
unternehmen und gelingen sehen. Das Bekehren war Ihr Beruf, nicht
meiner. Und jetzt haben Sie ganz von selber einige Ihrer Irrtümer
eingesehen! So wird es Ihnen auch noch mit anderen gehen ...“
„Mit welchen zum Beispiel?“
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