Aus Indien - 2

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gelber Seide. Dann kämen die Spitzen dran, von denen ich nichts
verstehe und die darum am meisten kosten, und dann die schönen
Elfenbeinschnitzereien: Elefanten und Tempel, Buddhas und Götzen,
Jackenknöpfe und Stockgriffe, auch ganze Elefantenzähne und Würfel und
Spielzeug, Figürchen und Dosen.
Nicht vergessen dürften wir, auch ins Chinesenviertel hinüberzufahren
und weit draußen in der North Bridge Road auszusteigen, wo Laden an
Laden die Geschäfte der Trödler und Antiquitätenhändler stehen. Da sind
neben Stiefeln und silbernen Matrosentaschenuhren, neben abgelegten
Herrenkleidern und messingenen Tabakspfeifen schöne, alte bronzene
Schalen und Vasen zu finden, manchmal auch altes Porzellan, wenn man
Zeit und Geduld hat. Auf alle Fälle aber hängen und liegen dort in
Glaskasten, geheimnisvoll im düsteren Ladenwinkel glühend, die schönsten
chinesischen Schmucksachen: einfache alte Fingerringe aus Gold oder
Silber mit einfach und schön gefaßten Steinen oder Perlen, dünne, lange
Goldketten jeder Art, alles aus dem chinesischen hellgelben, freudig
heiteren Gold, und dickere Ketten, an denen ein gelbgoldener Fisch
hängt, ein grotesker schwänzelnder Fisch mit tausend zarten Schuppen und
mit vorstehenden, glotzenden Augen aus Opalen, Armbänder aus Gold oder
aus milchig-hellgrünem Jettstein, jedes Band aus einem Stück
geschnitten, Broschen aus alten chinesischen Goldmünzen, alles ein wenig
verblaßt und antiquiert und alles von derselben wunderbar exakten,
kapriziös-spielerischen Arbeit. Das gemünzte Geld gilt hier wie bei
allen naiven Völkern unbedingt als schmückendes Wertstück; die
Schwarzwälder Bauern trugen und tragen da und dort heute noch
Silbertaler als Jackenknöpfe, zum selben Zweck werden alte silberne
Tikals in Siam verwendet, ich selbst trage solche Tikalknöpfe an meiner
weißen Jacke; chinesische und siamesische Goldmünzen mit den schönen,
dekorativen Schriftzeichen sieht man überall als Broschen und
Manschettenknöpfe, und hier in einem Laden sah ich einmal eine ganze
Kollektion von modernen billigen Broschen, die alle aus Geldmünzen der
verschiedensten Länder gemacht waren; darunter war auch eine mit einem
alten deutschen Zwanzigpfennigstück, mit einem jener dünnen, winzigen
Silberstückchen, die längst abgeschafft und verschwunden sind. (In
Schwaben sagte früher jedermann, wenn er im Bäckerladen ein paar solche
Zwanziger herausbekam: „Das ist doch ein zu dummes Geld, überall
verliert man sie, sie sind halt zu klein!“ Worauf der Bäcker unfehlbar
erwiderte: „Ach was, wenn ich nur genug von denen hätte! Mir wären sie
nicht zu klein.“)
Und wenn ich das alles gekauft hätte und ruiniert wäre und meine
Geliebte mich verlassen hätte, dann würde ich immer noch zuweilen durch
die Ladenstraßen gehen. Ich würde vor den Auslagen stehen und durch die
Schaufenster blicken, würde an feinen Hölzern riechen, zarte Gewebe
betasten und meine Geschicklichkeit an den hunderterlei Geduldspielen
und Schnurrpfeifereien üben, und ich hätte dabei die Augenlust, die der
Osten bietet und auf die er ganz allein gestellt ist. Alles, was man um
Geld haben kann, ist hier in Asien zweifelhaft, vom Bett bis zum Essen,
vom Diener bis zum Geldwechseln, aber ringsum glänzt unerschöpft der
Reichtum und die Kunst Asiens, von allen Seiten her bedrängt, bestohlen,
unterhöhlt und vergewaltigt, vielleicht schon arg geschwächt und
vielleicht schon im Todeskampf, aber auch so noch reicher und
vielfältiger, als wir im Westen es uns träumen können. Überall liegen
Schätze zur Schau, und alle gehören dem, der seine Augenlust daran zu
finden weiß, denn ob ich für hundert Dollar einkaufe oder für
zehntausend, ich bekomme für alles Geld doch nur das hübsche einzelne,
das vielleicht bald enttäuscht, und vom Bild der gehäuften Schätze, von
dem großen, bunten asiatischen Basarglanz kann ich nichts mit nach
Westen nehmen als einen Abglanz im Gedächtnis. Ob ich später zu Hause
eine Kiste voll chinesischer und indischer Sachen auspacke oder zehn
Kisten, das ist, als ob ich vom Meere eine oder zwanzig Flaschen voll
Wasser mitbrächte. Brächte ich auch hundert Tonnen heim, es wäre doch
kein Meer.


Der Hanswurst

In Singapur besuchte ich wieder einmal ein malayisches Theater. Ich tat
es längst nicht mehr in der Hoffnung, hier etwas von Kunst und Volkstum
der Malayen zu sehen oder sonst wertvolle Studien machen zu können,
sondern lediglich in behaglicher Abendstimmung, wie man an einem müßigen
Abend in einer fremden Seestadt nach dem Essen und Kaffee Lust bekommt,
in ein Varietee zu gehen.
Die sehr geschickten Schauspieler, deren einer einen Europäer zu spielen
hatte, stellten eine moderne Ehegeschichte aus Batavia dar, die ein
Stückefabrikant auf Grund von Zeitungs- und Gerichtsnachrichten
dramatisiert hatte. Die Gesangseinlagen mit Begleitung eines alten
Klaviers, dreier Geigen, eines Basses, eines Horns und einer Klarinette
waren von rührender Komik. Unter den Frauen eine wunderschöne junge
Malayin, wohl Javanin, mit hinreißend edelm Gang.
Das Merkwürdige aber war eine magere junge Schauspielerin in der
seltsamen Rolle eines weiblichen Hanswurst. Die sehr sensible,
überintelligente, allen andern unendlich überlegene Frau stak in einem
schwarzen Sack, trug über ihrem schwarzen Haar eine fahlblonde
scheußliche Wergperücke und hatte das Gesicht mit Kalk beschmiert, auf
der rechten Wange einen großen schwarzen Klecks. In dieser toll
häßlichen Bettelmaske bewegte sich die nervös geschmeidige Person in
einer Nebenrolle, die zum Stück nur äußerst flüchtige Beziehungen hatte,
und war doch beständig auf der Bühne; denn sie spielte den vulgären
Hanswurst. Sie grinste und fraß auf affenhafte Art Bananen, sie
belästigte Mitspieler und Orchester, unterbrach die Handlung durch Witze
oder begleitete sie stumm mit parodierender Nachäffung; dann wieder saß
sie zehn Minuten lang teilnahmlos auf dem Fußboden, hielt die Arme
verschränkt und blickte mit gleichgültigen, krankhaft klugen, kalt
überlegenen Augen ins Leere oder fixierte uns Zuschauer der vordersten
Reihe mit kühler Kritik. In dieser Abseitigkeit sah sie nicht mehr
grotesk aus, eher tragisch, der schmale, brennend rote Mund teilnahmlos
ruhend, vom vielen Lachen ermüdet, die kühlen Augen aus dem fratzenhaft
bemalten Gesicht traurig, vereinsamt und erwartungslos blickend. Man
hätte mit ihr reden mögen wie mit einem Shakespeareschen Narren oder wie
mit Hamlet. Bis die Gebärde irgendeines Mitspielers sie reizte – dann
stand sie auf, von Leben durchflossen, und parodierte diese Gebärde mit
dem kleinsten Aufwande an Anstrengung in so hoffnungslos vernichtender
Übertreibung, daß die Mitspieler hätten verzweifeln müssen.
Aber diese geniale Frau war nur Hanswurst: sie durfte nicht italienische
Arien singen wie ihre Kolleginnen, sie trug das schwarze Kleid der
Erniedrigung, und ihr Name stand weder auf dem englischen noch auf dem
malayischen Theaterzettel.


Architektur

Große und prächtige Bauten sieht man in der malayischen Welt eigentlich
nirgends; die paar Fürsten sind ziemlich bescheiden, und die Bevölkerung
hat nie das Bedürfnis gekannt, sich in Bauorgien an Tempeln und anderen
Kultusbauten auszutoben. Die buddhistischen und Hindutempel sind ohne
viel Variationen von Vorderindien übernommen, die Moscheen sind ohne
Originalität, von der meist ganz stillosen modernen Prachtmoschee bis
zur kleinen, idyllischen mohammedanischen Dorfkirche, deren Turm aus
vier unbehauenen Baumstämmen besteht. Das Klima zerstört alles
Menschenwerk hier sehr rasch, die Wohnungen sind nicht auf Stabilität
und Dauer, sondern nur aus dem momentanen Bedürfnis nach Schatten, Kühle
und Regenschutz angelegt.
Der ebene Boden der malayischen Länder ist großenteils sumpfig und gärt
in Fieberluft; Schlangen und Raubtiere sind zu fürchten; so ist heute
wie vor viel tausend Jahren der Pfahlbau hier der herrschende Häusertyp.
Der Fußboden ruht auf eingerammten oder auch einfach lebendig abgesägten
Baumstämmen anderthalb bis zweieinhalb Meter über der Erde, mit ihr
verbunden durch eine oder zwei leichte Holztreppen, die zum Schutz gegen
Schlangen und anderes Getier möglichst steil angelegt und manchmal
mühsam zu ersteigen sind. Der Fußboden besteht häufig aus Brettern,
meistens aber nur aus einer losen Lage von Stangen, ist übrigens in
allen Häusern mit reinen, schönen Bastmatten belegt. Darüber ruht ein
einfaches Giebeldach, dessen vordere Balken häufig wie beim
niedersächsischen Bauernhaus kreuzweise überstehen, das Dachgerippe aus
Bambusstäben ist mit Palmblättern dicht belegt, leicht, kühl und sehr
wasserdicht. Ich habe mehrmals im Urwald bei rasenden Tropenregen nachts
unter einem solchen Blätterdach gelegen, ohne naß zu werden. Neuerdings
sieht man, auch schon auf dem Lande, viele Hohlziegeldächer.
Das ist der Typ des hinterindischen Wohnhauses. An manchen Orten sind
die Dächer nach chinesischer Art elegant geschweift und mit
Hörnerschmuck versehen. Eine auffallende malayische Eigenart ist das
Gliedern des Hauses und Bewerten der Räume durch Niveauverschiebung, so
daß vom Eingang her jeder Raum des Hauses um zwei, drei Handbreiten
höher liegt als der vorhergehende.
In den Städten, soweit sie trockenen und gesunden Boden haben, fällt der
Pfahlunterbau weg; hier bestimmt der chinesische Typ das Straßenbild,
das malayische Fischer- und Bauernhaus ist in die Vorstädte verdrängt.
Die Chinesenstraßen, alte wie neue, sind ohne Ausnahme zusammenhängende
Reihen kleiner Häuser von zwei, seltener drei Stockwerken; das
Erdgeschoß ist Werkstatt oder Laden, das Obergeschoß sieht, wenn die
Fensterläden offenstehen, mit offenen, leicht vergitterten Räumen nach
der Straße und gibt ihr eine feine Luftigkeit, die Bauten sind farbig
verputzt, meist heftig waschblau, was im starken Licht der Tropen kühl
und nobel aussieht. Die Vorderräume der Obergeschosse ruhen auf
Pfeilern, und so entsteht auf beiden Seiten jeder Straßenflucht eine
Kolonnade, fröhlich anzusehen und voll von Bildern des kleinen Lebens.
Der reiche Chinese freilich hat sein Landhaus im Villenquartier,
luxuriös und meist europäisch beeinflußt, darum her ein stiller,
steifer, sonniger Garten, wo jede Pflanze erhöht und isoliert in einer
Vase steht.
Die Europäer haben nun alle Städte ganz neu gestaltet und damit viel
Hygiene und Bequemlichkeit, aber wenig Schönheit hereingebracht. Von
allen Europäerbauten hier draußen sind einzig die Bungalows schön, die
in den Villenvorstädten erquickend wohnlich und lieblich in der üppigen
Parklandschaft stehen. Diese Bungalows sind darum schön, weil sie
notgedrungen sich den Bedürfnissen des Klimas fügen und sich darum an
den Urtyp des indischen Wohnhauses halten mußten. Alles andere, was die
Weißen hier gebaut haben und bauen, wäre durchaus würdig, in einer
deutschen Bahnhofstraße aus den achtziger Jahren zu stehen. Die
Engländer tun Großes für ihre Kolonien, die Anlage vieler
Geschäftsstraßen, Häfen, Villenviertel und Parkvorstädte samt
Straßenbau, Bewässerung und Beleuchtung sind musterhaft und oft von
glänzender Großzügigkeit, aber schöne Häuser (mit Ausnahme des
Bungalowtyps) konnten auch sie nicht bauen. Und nun wütet falscher
Marmor, Wellblech und Gewerbeschulrenaissance weiter und verseucht auch
die Modernen und Wohlhabenden unter den einheimischen Bauherren.
Japanische Zahnärzte und chinesische Wucherer bauen sich Häuser, die in
die geschmacklosesten Straßen deutscher Mittelstädte passen würden.
Entsprechend sind Brücken, Brunnen und Denkmäler. Das Übelste aber sind
die Kirchen. Von einem feinen stillen Palmenwalde, von einer weitern
hübschen Malayendorfgasse oder von einer tiefblauen, diskret uniformen
Chinesenstraße aus auf eine Kirche zu blicken, die auf ödem Platz in
entwurzelter und entgleister englischer Gotik das kulturelle Unvermögen
des Westens predigt, das gehört weit mehr als Schmutz und Fieber zu den
Peinlichkeiten einer indischen Reise; denn hier fühlt man sich im
Innersten mitverantwortlich. Und diese Dinge sind alle, gleich einem
deutschen Postgebäude, ebenso solide wie häßlich gemacht. Ein
Malayenhaus, das gestern fertig wurde, wird in drei Monaten wetterfarben
und angepaßt und völlig eingewachsen sein, als stände es fünfzig Jahre
da; ein holländisches Residentenpalais aber, eine englische Kirche oder
ein französisch-katholisches Schulhaus wird unser Auge nicht erfreuen
können, ehe es seine schuldbeladene Existenz zu Ende gelebt und seine
Bestandteile der Natur zurückgegeben hat.


Singapur-Traum

Den Vormittag hatte ich zwischen den Gärten der Europäer auf den
grasbewachsenen, laubig umrahmten Wegen Schmetterlinge gefangen, war in
der weißen Mittagsglut zu Fuß in die Stadt zurückgegangen und hatte den
Nachmittag mit Spazierengehen, Lädenbesuchen und Einkaufen in den
schönen, lebendig wimmelnden Straßen von Singapur hingebracht. Nun saß
ich im hohen Säulensaal des Hotels mit meinen Reisegefährten beim
Abendessen, die großen Flügel der Fächer surrten fleißig in der Höhe,
die weißleinenen Chinesenboys schlichen still und gelassen durch den
Saal und trugen das schlechte englisch-indische Essen auf, das
elektrische Licht blitzte in den kleinen schwimmenden Eisstückchen der
Whiskygläser. Müde und ohne Hunger saß ich meinen Freunden gegenüber,
schlürfte kaltes Getränk, schälte kleine goldgelbe Bananen und rief
frühzeitig nach Kaffee und Zigarren.
Die andern hatten beschlossen, in einen Kinematographen zu gehen, wozu
meine von der Arbeit in voller Sonne überangestrengten Augen keine Lust
hatten. Dennoch ging ich schließlich mit, nur um für den Abend versorgt
zu sein. Wir traten barhaupt und in leichten Abendschuhen vor das Hotel
und schlenderten durch die wimmelnden Straßen in gekühlter blauer
Nachtluft; in ruhigem Seitengassen hockten bei Windlichtern an langen
rohen Brettertischen Hunderte von chinesischen Kulis und aßen vergnügt
und sittsam ihre vielerlei geheimnisvollen und komplizierten Speisen,
die fast nichts kosten und voll unbekannter Gewürze stecken. Getrocknete
Fische und warmes Kokosöl dufteten intensiv durch die von tausend Kerzen
flimmernde Nacht, Rufe und Schreie in dunkeln östlichen Sprachen hallten
in den blauen Bogengängen wider, geschminkte hübsche Chinesinnen saßen
vor leichten Gittertüren, hinter denen reiche goldene Hausaltäre düster
funkelten.
Von der dunkeln Brettertribüne des Kinotheaters blickten wir über
unzählige langzopfige Chinesenköpfe hinweg auf das grelle Lichtviereck,
wo eine Pariser Spielergeschichte, der Raub der Mona Lisa und Szenen aus
Schillers Kabale und Liebe, alle in derselben seelenlosen
Anschaulichkeit, vorübergeisterten, doppelt gespensterhaft in der
Atmosphäre von Unwirklichkeit oder peinlicher Zweifelhaftigkeit, welche
diese westlichen Angelegenheiten hier zwischen Chinesen und Malayen
annehmen.
Meine Aufmerksamkeit war bald erlahmt, mein Blick ruhte zerstreut in der
Dämmerung des hohen Saales aus, und meine Gedanken fielen auseinander
und blieben leblos liegen wie die Glieder einer Marionette, die man im
Augenblick nicht braucht und weggelegt hat. Ich senkte den Kopf in die
aufgestützten Hände und war alsbald allen Launen meines denkmüden und
mit Bildern gesättigten Gehirns preisgegeben.
Es umgab mich zunächst eine schwach murmelnde Dämmerung, in der ich mich
wohl fühlte und über welche nachzusinnen ich kein Verlangen trug.
Allmählich begann ich zu merken, daß ich auf dem Deck eines Schiffes
lag, es war Nacht, und nur wenige Öllaternen brannten, neben mir lagen
viele andere Schläfer Mann an Mann, jeder am Boden auf seiner Reisedecke
oder Bastmatte hingestreckt.
Ein Mann, der mir zur Seite lag, schien nicht zu schlafen. Sein Gesicht
war mir bekannt, ohne daß ich seinen Namen wußte. Er bewegte sich,
stützte die Ellbogen auf, nahm eine goldene Brille ohne Ränder von den
Augen und begann sie mit einem weichen, flanellenen Tüchlein sorgfältig
zu reinigen. Da erkannte ich ihn; es war mein Vater.
„Wohin fahren wir?“ fragte ich schläfrig.
Er putzte, ohne aufzublicken, an seiner Brille weiter und sagte ruhig:
„Wir fahren nach Asien.“
Wir redeten Malayisch, mit Englisch vermischt, und dieses Englisch
erinnerte mich daran, daß meine Kindheit lang vorüber sei, denn damals
besprachen meine Eltern ihre Geheimnisse alle englisch, und ich verstand
nichts davon.
„Wir fahren nach Asien,“ wiederholte mein Vater, und plötzlich wußte ich
alles wieder. Jawohl, wir fuhren nach Asien, und Asien war nicht ein
Weltteil, sondern ein ganz bestimmter, doch geheimnisvoller Ort,
irgendwo zwischen Indien und China. Von dort waren die Völker und ihre
Lehren und Religionen ausgegangen, dort waren die Wurzeln alles
Menschenwesens und die dunkle Quelle alles Lebens, dort standen die
Bilder der Götter und die Tafeln der Gesetze. Oh, wie hatte ich das nur
einen Augenblick vergessen können! Ich war ja schon so lange Zeit
unterwegs nach jenem Asien, ich und viele Männer und Frauen, Freunde und
Fremde.
Leise sang ich unser Reiselied vor mich hin: „Wir fahren nach Asien!“
und ich gedachte des goldenen Drachens, des ehrwürdigen Bobaumes und der
heiligen Schlange.
Freundlich sah mich mein Vater an und sagte: „Ich lehre dich nicht, ich
erinnere dich nur.“ Und indem er es sagte, war er nicht mein Vater mehr,
sein Gesicht lächelte eine Sekunde lang genau so wie das Gesicht, mit
welchem in den Träumen unser Führer, der Guru, zu lächeln pflegt, und im
selben Augenblick erlosch das Lächeln, und das Gesicht war rund und
still wie die Lotosblüte und glich genau dem goldenen Bildnis Buddhas,
des Vollendeten, und wieder lächelte es, und es war das reife,
schmerzliche Lächeln des Heilands.
Der neben mir lag und gelächelt hatte, war nicht mehr da. Es war Tag,
und alle Schläfer hatten sich erhoben. Bestürzt raffte auch ich mich
empor und irrte auf dem ungeheuren Schiff umher, zwischen fremden
Menschen, und sah auf dem schwarz-blauen Meere Inseln mit wilden,
gleißenden Kalkfelsen und Inseln mit wehenden hohen Palmen und
tiefblauen Vulkanbergen. Kluge, braune Araber und Malayen standen mit
vor der Brust gekreuzten mageren Händen, verneigten sich bis zum Boden
und verrichteten die vorgeschriebenen Gebete.
„Ich habe meinen Vater gesehen,“ rief ich laut, „mein Vater ist auf dem
Schiff!“
Ein alter englischer Offizier in einem geblümten japanischen
Morgenkleide sah mich aus hellblauen Augen glänzend an und sagte: „Ihr
Vater ist hier und ist dort, er ist in Ihnen und außer Ihnen, Ihr Vater
ist überall.“
Ich gab ihm die Hand und erzählte ihm, daß ich nach Asien fahre, um den
heiligen Baum und die Schlange zu sehen und um in die Quelle des Lebens
zurückzugehen, in welcher alles seinen Anfang nahm und welche die ewige
Einheit der Erscheinungen bedeutet.
Aber ein Händler hielt mich eifrig an und nahm mich in Anspruch. Es war
ein Englisch redender Singhalese, er zog aus einem Körbchen kleine
Lappenbündel hervor, die er auseinanderwickelte und aus denen kleine und
große Mondsteine zum Vorschein kamen.
„_Nice moonstones, Sir,_“ flüsterte er beschwörend, und da ich mich
heftig abwenden wollte, legte jemand eine leichte Hand auf meinen Arm
und sagte: „Schenken Sie mir ein paar Steinchen, sie sind wirklich
hübsch.“ Die Stimme fing mein Herz alsbald ein wie eine Mutter ihr
entlaufenes Kind, ich wandte mich glühend um und begrüßte Miß Wells aus
Amerika. Unbegreiflich, daß ich sie so ganz hatte vergessen können!
„O Miß Wells,“ rief ich erfreut, „Miß Annie Wells, sind Sie denn auch
hier?“
„Wollen Sie mir einen Mondstein schenken, Deutscher?“
Ich griff schnell in die Tasche und zog den langen gestrickten
Geldbeutel hervor, den ich als Knabe von meinem Großvater bekommen und
als Jüngling auf meiner ersten Italienreise verloren hatte. Es war mir
lieb, ihn wiederzuhaben, und ich schüttete eine Menge silberner Ceyloner
Rupien heraus; aber mein Reisekamerad, der Maler, von dem ich nicht
gewußt hatte, daß er noch da sei und neben mir stehe, sagte lächelnd:
„Die können Sie als Hosenknöpfe tragen, sie gelten hier keinen Cent.“
Verwundert fragte ich ihn, wo er herkomme und ob er die Malaria wirklich
überwunden habe. Er zuckte die Achseln und sagte: „Man sollte die
modernen europäischen Maler alle einmal in die Tropen schicken, da
könnten sie sich ihre Orangepalette wieder abgewöhnen. Gerade hier kommt
man mit einer dunkleren Palette der Natur viel näher.“
Es war klar, und ich stimmte lebhaft bei. Aber die schöne Miß Annie
hatte sich inzwischen im Gedränge verloren. Beklommen ging ich auf dem
riesigen Schiffe weiter, wagte jedoch nicht, mich an einer Gruppe von
Missionsleuten vorbeizudrängen, die im Kreise sitzend die ganze
Deckbreite versperrten. Sie sangen ein frommes Lied, in das ich bald
einstimmte, da ich es von Hause her kannte:
Darunter das Herze sich naget und plaget
Und dennoch kein wahres Vergnügen erjaget ...
Ich war damit einverstanden, und die schwermütig pathetische Melodie
stimmte mich traurig, ich dachte an die schöne Amerikanerin und an unser
Reiseziel Asien und fand so viel Ursache zur Ungewißheit und Kümmernis,
daß ich einen der Missionare fragte, wie denn das nun sei, ob sein
Glauben denn wirklich gut und auch für einen Mann wie mich zu brauchen
sei.
„Sehen Sie,“ sagte ich trostbegierig, „ich bin Schriftsteller und
Schmetterlingssammler – –.“
„Sie irren sich,“ sagte der Missionar.
Ich wiederholte meine Erklärung. Aber auf alles, was ich sagen mochte,
gab er mit einem hellen, kindlichen, bescheiden triumphierenden Lächeln
dieselbe Antwort: „Sie irren sich.“
Verwirrt floh ich davon. Ich sah, daß ich hier nicht zurecht kam, und
ich beschloß, auf alles zu verzichten und meinen Vater zu suchen, der
würde mir gewiß helfen. Wieder sah ich das Gesicht des ernsten
englischen Offiziers und glaubte seine Worte zu hören: „Ihr Vater ist
hier und ist dort, er ist in Ihnen und außer Ihnen.“ Ich begriff, daß
dies eine Mahnung war, und ich kauerte mich nieder, um mich zu versenken
und meinen Vater in mir selbst zu suchen.
So saß ich still und versuchte zu denken. Allein es ging schwer, die
ganze Welt schien auf diesem Schiffe versammelt, um mich zu stören. Auch
war es furchtbar heiß, und ich hätte gerne meines Großvaters gestrickten
Geldbeutel für einen frischen Whisky-Soda hingegeben.
Von diesem Augenblick an, wo sie mir zum Bewußtsein gekommen war, schien
diese satanische Hitze beständig anzuschwellen wie ein furchtbarer,
unerträglich gellender Klang. Die Menschen verloren alle Haltung, sie
soffen aus Korbflaschen gierig wie Wölfe, sie machten es sich auf die
seltsamsten Arten bequem, und es geschahen rings um mich her
unbeherrschte und sinnlose Taten; das ganze Schiff war offenbar im
Begriff, wahnsinnig zu werden.
Der freundliche Missionar, mit dem ich mich nicht hatte verständigen
können, war zwei riesengroßen chinesischen Kulis zum Opfer gefallen und
wurde von ihnen auf das schamloseste als Spielzeug benützt. Sie wußten
ihn durch einen heillosen Kunstgriff echt chinesischer Mechanik dazu zu
bringen, daß er auf einen Druck hin seine gestiefelten Füße zu seinem
eigenen Mund herausstreckte. Auf einen anderen Druck hin hing er beide
Augen lang wie Würste aus den Höhlen, und als er sie wieder zurückziehen
wollte, sah er sich dadurch verhindert, daß sie ihm Knoten darein
geschlungen hatten.
Es war grotesk häßlich, aber es focht mich weniger an, als ich gedacht
hätte, jedenfalls weniger als der Anblick, den Miß Wells mir bot, denn
sie hatte sich ihrer Kleider entledigt und trug in überraschend draller
Nacktheit nichts auf dem Leibe als eine wundervolle, braungrüne
Schlange, die sich rund um sie geringelt hatte.
Verzweifelt schloß ich die Augen. Ich hatte das Gefühl, unser Schiff
fahre sehr rasch abwärts in einen glühenden Höllenrachen.
Da hörte ich, dem Herzen tröstlich wie Glockengeläut einem im Nebel
verlaufenen Wanderer, vielstimmig ein feierliches Lied ertönen, das ich
alsbald mitsang. Es war das heilige Reiselied: „Wir fahren nach Asien,“
und es klangen darin alle menschlichen Sprachen, es rauschte darin alle
Ehrfurcht, alle müde Menschensehnsucht, die Not und das wilde Verlangen
aller Kreatur. Ich fühlte mich von Vater und Mutter geliebt, vom Guru
geleitet, von Buddha gereinigt und vom Heiland erlöst, und ob das, was
nun käme, Tod sei oder Seligkeit, schien mir durchaus gleichgültig.
Ich erhob mich und tat die Augen auf. Um mich her waren sie alle, mein
Vater, mein Freund, der Engländer, der Guru und alle, alle
Menschengesichter, die ich je mit Augen gesehen. Sie schauten geradeaus,
mit ergriffenen, schönen Blicken, und auch ich schaute, und vor uns tat
ein vieltausendjähriger Hain sich auf, aus himmelhoher Wipfeldämmerung
rauschte Ewigkeit, und tief in der Nacht des heiligen Schattens glänzte
golden ein uraltes Tempeltor.
Da fielen wir alle auf die Knie nieder, unser Sehnen war gestillt und
unsere Reise zu Ende. Wir schlossen die Augen, und wir beugten uns tief
und schlugen unsere Häupter an die Erde, einmal, und wieder, und
nochmals, in atemloser, rhythmischer Andacht.
Hart schlug meine Stirn auf und schmerzte, Lichtfunken drangen in meine
Augen, und mein Körper arbeitete sich mühsam aus tiefer Erstarrung.
Meine Stirn lag auf der hölzernen Kante der Brüstung, unter mir
dämmerten bleich die rasierten Schädel der chinesischen Zuschauer, die
Bühne war dunkel, und Beifallgemurmel hallte in dem großen
Kinematographentheater wider.
Wir standen auf und gingen. Es war quälend heiß und roch durchdringend
nach Kokosöl. Draußen aber wehte uns nächtliche Meerluft,
Lichtergeflimmer des Hafens und matter Sternenschein entgegen.


Überfahrt

Von Singapur aus fuhr ich auf einem kleinen holländischen Küstendampfer
über den Äquator weg nach Südsumatra. Die Sache begann mit
Gepäckschwierigkeiten am Pier und wäre beinahe im ersten Anfang schon
verunglückt, denn kaum war das kleine Motorbötchen, das uns und unsre
vielen Kisten an Bord des Brouwer bringen sollte, vom Pier abgestoßen,
so fuhr uns ein etwas größeres Boot in eiliger Konkurrenz so wild mitten
in der Breitseite an, daß wir alle übereinander fielen und schon ans
Schwimmen dachten. Es war jedoch wider alle Wahrscheinlichkeit
Gerechtigkeit geschehen und der Angreifer war der Geschädigte; mit einem
großen Loch im Bug mußte er abziehen.
Auf dem Brouwer waren wir zu dreien die einzigen Passagiere der ersten
Klasse und hatten das Schiff für uns wie eine Privatjacht. Das kleine
Hinterdeck ward mit holländischer Behaglichkeit für uns eingerichtet,
ein weiß gedeckter Tisch mit altväterischen Lehnstühlen, daneben vier
von den nicht genug zu lobenden asiatischen Liegestühlen mit
Holzgestellen zum Hochlegen der Beine, weiter zwei naive biedere
Kanapees mit weiß und rot gestreiften Bezügen. Die gesamte Bedienung war
malayisch, und alsbald wurde uns von drei aufmerksamen, geschickten,
hübschen Javanen eine erste Mahlzeit aufgetragen, ein überaus
reichhaltiges, solides Reisessen, das ich nach den schlimmen Schaubroten
der indischen Gasthöfe mit Dankbarkeit begrüßte. In den Hotels der
Straits und Malay States wird man überall von chinesischen Boys bedient,
die fast ebenso schlecht und lieblos servieren wie europäische Kellner
in einem Durchschnittshotel. Die Javanen hier waren dagegen um unser
Wohlergehen mit der einschmeichelnden Treue guter Krankenschwestern
bemüht, sie umkreisten uns beständig mit Aufmerksamkeit und kamen jedem
kleinsten Bedürfnisse lächelnd und ohne Hast zuvor; sie trugen uns
Speisen auf, boten das Beste mit bescheidener Gebärde lobend an,
schenkten jedes Trinkglas nach jedem Schluck wieder sorglich voll,
verteilten den Rest der gemeinsamen Flasche mit liebevoller
Gerechtigkeit zwischen uns dreien, schützten uns vor der Sonne und vor
dem Winde, standen augenblicks mit brennendem Streichholz bereit, wenn
eine Zigarre ausgegangen war, und alle ihre Mienen und Bewegungen
drückten weder widerwilliges Diensttun noch feige Sklaverei aus, sondern
eitel freudige Dienerschaft und ergebenstes Wohlwollen.
Mittschiffs lagen drei Chinesen und spielten Karten, ohne zu sprechen,
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