Aus Indien - 5

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Geräuschlosigkeit vor sich geht und damit unsere südeuropäischen Städte
alle beschämt. Speziell die Singhalesen, so wenig sie sonst imponieren,
gehen allesamt durch ihr einfaches, leichtes, wenig differenziertes
Leben mit einer liebenswürdigen Sanftmut und einem stillen, rehartigen
Anstand, die man im Westen nicht findet.
Vor jeder Hütte hing, schwebend zwischen Hauswand und Straßenbord, ein
ganz kleines, naives Gärtchen, und in jedem blühten ein paar Rosen und
ein Bäumchen mit _Temple flowers_, und vor jeder Schwelle trieben sich
ein paar hübsche, schwarzbraune, langhaarige oder auch drollig rasierte
Kinder herum, die Kleineren völlig nackt, aber auf der Brust mit
Amuletten, an Fuß- und Handgelenken mit Silberspangen geschmückt. Sie
sind, was mir als Kontrast zu den Malayen auffiel, ohne jede Scheu vor
Fremden, kokettieren sogar sehr gerne und lernen den bettelnden Ruf nach
Money als erste englische Vokabel, oft noch, ehe sie Singhalesisch
können. Die Mädchen und ganz jungen Frauen sind oft wunderschön, und
schöne Augen haben sie alle ohne Ausnahme.
Ein steil ins dicke wirre Grün verschwindender Seitenweg zog mich an,
ich stieg hinab durch eine betäubend pflanzenreiche Schlucht, die wie
ein Treibhaus gärend duftete. Dazwischen lagen auf zahllosen, winzigen
Terrassen schlammige Reisfelder, in deren Morast die nackten Arbeiter
und die grauen Wasserbüffel pflügend wühlten.
Plötzlich, nach einem letzten Absturz des Pfades, stand ich überm Ufer
des Mahawelli. Der schöne, vom Regen geschwollene Bergfluß strömte in
raschem Fall am dunkeln Urgestein der engen Felsenufer hin, kleine wilde
Steininseln und Klippen standen schwarz und blank, wie aus glatter
Bronze im bräunlichen Wasserschaum.
An einer breiten Felsenbank legte eben eine floßartige Fähre an, ein
alter, blinder Mann ward ans Land geführt und tastete mit geduldigem
Gesicht und mit welken gelben Händen, von denen ihm das Regenwasser in
die Kleider rann, empor nach dem steilen Ufersteig. Rasch betrat ich das
kleine Floß und fuhr hinüber, durch die rötliche, felsige
Uferlandschaft, und stieg jenseits über die Felsstufen einen Weg durch
neue Buschfinsternis hinan, wieder an Hütten und Reisterrassen vorüber.
Die Leute haben soeben geerntet und pflügen nun den Sumpf ungesäumt
wieder um, um sofort wieder auszusäen, denn in diesem guten Klima und
auf diesem Urbrei von Boden wächst jahraus, jahrein Ernte nach Ernte.
Das enge Tal mit roter Erde und überquellend dichtem Wachstum strömte im
rauschenden Regen einen Geruch von heißer Fruchtbarkeit aus, als koche
überall der weiche Erdschlamm in geheimnisvoller Urzeugung.
Zwei Meilen weiter oben sollte ein buddhistischer Felsentempel stehen,
der älteste und heiligste von Ceylon, und bald sah ich das Klösterchen
und den kleinen Hausgarten der Priester über mir am steilen Bergabhang
kleben. Nun kam der Tempel, davor der ausgehöhlte Felsenboden voll
Regenwasser stehend, eine schäbige Vorhalle mit nackten Mauerbögen aus
neuerer Zeit, alles verlassen, dunkel und grämlich. Ein Junge lief und
holte mir einen Priester herbei, die erste Tür des Heiligtums ward
erschlossen, zwei winzige Stümpfe von Wachskerzen in der Hand des
Priesters flimmerten ängstlich und konnten die schwarzen, stillen Räume
nicht erhellen, es schwamm nur der greise, schlichte Kopf des Priesters
in einem dünnen, roten Lichtschimmer, der da und dort an den Wänden ein
Stück uralter Malerei auferweckte. Ich wollte die Wände besehen, und wir
leuchteten nun mit den beiden schwachen, rußenden Lichtlein Zoll für
Zoll die Wand entlang und bis zum Boden hinab, als wäre die mächtige
Freskenwand eine Briefmarkensammlung. In alten primitiven Konturen,
schwach gelb und rot gefärbt, kamen unzählige schöne, liebliche, auch
lustige Darstellungen aus der Buddhalegende zum Vorschein: Buddha, das
Vaterhaus verlassend, Buddha unter dem Bo-Baume, Buddha mit den Jüngern
Ananda und Kaundinya. Unwillkürlich fiel mir Assisi ein, wo in der
großen, leerstehenden Oberkirche von San Francesco Giottos Franzlegenden
die Wände bedecken. Es war genau derselbe Geist, nur war hier alles
klein und zierlich, und in der Zeichnung der Bildchen war wohl Kultur
und Leben, aber keine Persönlichkeit.
Aber nun schloß der alte Mann die innerste Tür auf. Hier war es völlig
finster, im Hintergrunde schloß sich die Felsenhöhle. Dort war etwas
Ungeheuerliches zu ahnen, und da wir mit den Kerzen näher kamen,
entstand aus Glanzlichtern und Schatten schwankend eine riesige Form,
größer als der Kreis unserer schlechten Lichter, und allmählich erkannte
ich mit einem Schauder das liegende Haupt eines kolossalen Buddha. Weiß
und riesig glänzte das Gesicht des Bildes her, und unser bißchen Licht
ließ nur die Schultern und Arme noch erfühlen, das andere verlor sich in
der Dunkelheit, und ich mußte viel hin und her gehen und den Priester
bemühen und mit den zwei Kerzen Versuche machen, ehe ich dämmernd die
ganze Figur zu sehen bekam. Der liegende Buddha, den ich erblickte, ist
zweiundvierzig Fuß lang, er füllt die Höhlenwand mit seinem Riesenleib,
auf seiner linken Schulter ruht der Fels, und wenn er aufstünde, fiele
der Berg über uns zusammen.
Und auch hier fiel mir ungesucht ein ähnliches Erlebnis ein. Vor Jahren
trat ich einst in eine kleine gotische Kapelle in einem elsässischen
Dorf, das Tageslicht fiel schwach und farbig schräg durch gemalte und
verstaubte Scheiben, und aufblickend sah ich mit heftigem Erschrecken
über mir im halben Lichte einen riesengroßen, geschnitzten Christus
schweben, am Kreuz, mit roten grimmigen Wunden und mit blutiger Stirn.
Wir sind weit gekommen, und es ist schön, daß wir, ein kleiner, winziger
Teil der Menschheit, diese beiden nicht unbedingt mehr brauchen, den
blutigen Kruzifixus nicht und nicht den glatten lächelnden Buddha. Wir
wollen sie und andere Götter auch weiter überwinden und entbehren
lernen. Aber schön wäre es, wenn einst unsere Kinder, die ohne Götter
aufgewachsen sind, wieder den Mut und die Freudigkeit und den Schwung
der Seele fänden, so klare, große, eindeutige Denkmäler und Symbole
ihres Innern zu errichten.


Tagebuchblatt aus Kandy

Es ist Abend; ich liege im Hotelzimmer. Seit einigen Tagen lebe ich von
Rotwein und Opium, und mein Darm muß eine rasende Lebenskraft oder einen
verzweifelten Todesmut besitzen, daß er trotz allem noch nicht Ruhe
gibt. Zum Stehen und Gehen reicht heute abend der Mut und die Kraft
nimmer recht, auch haben wir Regenzeit, und draußen liegt eine
verregnete, tiefschwarze Nacht, obwohl es kaum erst Abend wurde. Ich muß
irgendwie von der augenblicklichen Gegenwart abstrahieren; so will ich
denn zu notieren versuchen, was ich vor zwei Stunden gesehen habe.
* * * * *
Es war etwa sechs Uhr und schon fast Nacht; der Regen floß; ich war vom
Bett aufgestanden und ausgegangen, schwach vom Liegen und Fasten und
betäubt von den Opiaten, mit denen ich gegen die Dysenterie ankämpfe.
Ohne viel Überlegung bog ich in der Finsternis in den Tempelweg ein und
stand nach einer Weile überm dunklen Wasser am Eingang des alten
Heiligtums, in welchem der schöne, lichte Buddhismus zu einer wahren
Rarität von Götzendienst gediehen ist, neben der auch der spanischste
Katholizismus noch geistig erscheint. Eine traumhaft dumpfe Musik scholl
mir entgegen; hier und da knieten dunkle Beter tiefgebückt und murmelnd;
ein süßer heftiger Blumenduft überfiel mich betäubend; durchs Tempeltor
sah ich in düster-nächtliche Räume, in denen viele einzelne dünne Kerzen
irrlichthaft und verwirrend brannten.
Ein Führer hatte sich meiner sofort bemächtigt und schob mich vorwärts;
zwei Jünglinge in weißen Kleidern mit guten, sanftäugigen
Singhalesengesichtern eilten herbei, jeder mit zwei brennenden Kerzchen
in der Hand, um mich führen zu helfen. Vorausschreitend beleuchteten sie
eifrig, im Gehen tiefgebückt, jede kleinste Stufe und jeden
Pfeilervorsprung, an den ich stoßen konnte; und benommenen Sinnes stieg
ich in das Abenteuer hinein wie in eine arabische Märchen- und
Schatzhöhle.
Eine Messingschale ward mir vorgehalten und eine Eintrittsgabe für den
Tempel gefordert, ich legte eine Rupie hinein und ging weiter, die
Kerzenträger vor mir her. Weiße süßduftende Tempelblumen wurden mir
geboten, ich nahm einige zu mir, gab dem Darbietenden Geld und legte die
Blüten in verschiedenen Nischen und vor verschiedenen Bildern als Opfer
nieder. Dem Führer folgend, während vor meinen Augen die Finsternis mit
hundert kleinen goldenen Kerzenpunkten flammend tanzte, kam ich an
kleinen steinernen Löwen und vielen Lotosblumenbildern, an geschnitzten
und bemalten Säulen und Pfeilern vorbei und eine dunkle Treppe empor und
stand vor einem großen gläsernen Schrein, der war an den Scheiben und
Stäben voll von Schmutz und innen voll von Buddhabildern, von goldenen
und messingenen, silbernen und elfenbeinernen, granitenen und hölzernen,
alabasternen und edelsteingezierten, von Bildern aus dem nördlichen und
südlichen Indien, aus Siam und aus Ceylon. In einem üppig ornamentierten
Silberschrein aber saß still und fein und unendlich apart ein schöner
alter Buddha, der war aus einem einzigen riesigen Kristall geschnitten,
und das Kerzenlicht, das ich dahinterhielt, schien farbig durch seinen
gläsernen Leib; und von allen diesen vielen Bildern des Vollendeten war
dies kristallene das einzige, das ich nicht vergesse und das den
schlackenlosen Erlösten wahrhaft ausdrückt.
Hier und überall waren Priester, Tempeldiener und Handlanger in Menge
da; Hände streckten sich mir entgegen, und feierliche messingene und
silberne Schalen wurden mir allenthalben vorgehalten. Ich gab, um es
kurz zu sagen, mehr als dreißig Trinkgelder. Doch tat ich dies, wie auch
alle Fragen an die Priester, nur in einem unzulänglichen Traumzustand
und Halbbewußtsein. Ich hatte keinerlei Achtung vor den miserablen
Priestern, ich verachtete die Bilder und Schreine, das lächerliche Gold
und Elfenbein, das Sandelholz und Silber, aber ich fühlte tief und
mitleidend mit den guten, sanften indischen Völkern, die hier in
Jahrhunderten eine herrlich reine Lehre zur Fratze gemacht und dafür
einen Riesenbau von hilfloser Gläubigkeit, von töricht herzlichen
Gebeten und Opfern, von rührend irrender Menschentorheit und
Kindlichkeit errichtet haben. Den schwachen, blinden Rest der
Buddhalehre, den sie in ihrer Einfalt verstehen konnten, den haben sie
verehrt und gepflegt, geheiligt und geschmückt, dem haben sie Opfer
gebracht und kostbare Bilder errichtet – was tun dagegen wir klugen und
geistigen Leute aus dem Westen, die wir dem Quell von Buddhas und von
jeder Erkenntnis viel näher sind? –
Weiter ward ich an Altären und Säulen vorübergeschleppt. Da und dort
glänzten Gold und Rubinen auf, mattes altes Silber in Menge, und neben
dem phantastischen Reichtum dieser Tempelschätze war die Schäbigkeit der
Diener und Priester, die Armut der Holzverschläge und Glaskästchen, die
bettelhafte Dürftigkeit der Beleuchtung ganz wunderlich anzusehen.
Priester zeigten die alten heiligen Bücher des Tempels vor, die in
Silber reich gebunden sind und deren heilige Texte in Sanskrit und Pali
sie vermutlich selber nicht mehr lesen können; und was sie selber gegen
ein Trinkgeld auf Palmblätter schrieben, war kein schöner Spruch oder
Name, sondern das Datum des Tages und der Ortsname; eine nüchterne,
schäbige Quittung.
Schließlich ward mir der Altarschrein und das Behältnis gezeigt, worin
der heilige Zahn Buddhas verwahrt wird. Wir haben das alles in Europa
auch; ich gab meinen Obolus hin und ging weiter. Der Buddhismus von
Ceylon ist hübsch, um ihn zu photographieren und Feuilletons darüber zu
schreiben; darüber hinaus ist er nichts als eine von den vielen
rührenden, qualvoll grotesken Formen, in denen hilfloses Menschenleid
seine Not und seinen Mangel an Geist und Stärke ausdrückt.
Und nun zerrten sie mich unversehens in die Nacht hinaus; in der
wolligen Dunkelheit strömte immerzu der heftige Regen, unter mir
spiegelten die Kerzen der Jünglinge sich im heiligen Schildkrötenteich.
Ach, es fehlt hier nicht an Heiligkeit und heiligen Dingen; aber jenem
Buddha, der nicht aus Stein und Kristall und Alabaster war, dem war
alles heilig, dem war alles Gott!
Man zog und schob mich, der ich in der Dunkelheit mich blind fühlte und
willenlos mitlief, in Eile über einige Treppenstufen und über nasses
Gras hinweg ins Freie, wo plötzlich als rotes Viereck in der Nacht die
erleuchtete Türöffnung eines zweiten, kleineren Tempels vor uns stand.
Ich trat ein, opferte Blumen, ward zu einer inneren Tür gedrängt und sah
plötzlich erschreckend nahe vor mir einen großen liegenden Buddha in der
Wand, achtzehn Fuß lang, aus Granit und grell mit Rot und Gelb bemalt.
Wunderlich, wie noch aus der glatten Leere all dieser Figuren ihre
herrliche Idee hervorstrahlt, die faltenlos heitere Glätte im Angesicht
des Vollendeten.
Nun waren wir fertig; ich stand wieder im Regen und sollte noch den
Führer, die Kerzenträger und den Priester des kleineren Tempels
bezahlen, aber ich hatte all mein Geld weggegeben und sah nun, auf die
Uhr blickend, mit Befremdung, daß diese ganze nächtliche Tempelreise nur
zwanzig Minuten gedauert hatte. Rasch lief ich zum Hotel zurück, hinter
mir im Regen die kleine Schar meiner Gläubiger vom Tempel. Ich erhob
Geld an der Hotelkasse und teilte es aus; es verneigte sich vor seiner
Macht der Priester, der Führer, der erste und der zweite Kerzenjüngling;
und fröstelnd stieg ich die vielen Treppen zu meinem Zimmer hinauf.


Pedrotallagalla

Um in der Stille einen schönen und würdigen Abschied von Indien zu
feiern stieg ich an einem der letzten Tage vor der Abreise allein in
einer kühlen Regenmorgenfrische auf den höchsten Berggipfel von Ceylon,
den Pedrotallagalla. In englischen Fuß ausgedrückt, klingt seine Höhe
sehr respektabel, in Wirklichkeit sind es wenig über zweieinhalbtausend
Meter und die Besteigung ist ein Spaziergang.
Das kühle grüne Hochtal von Nurelia lag silbrig in einem leichten
Morgenregen, typisch englisch-indisch mit seinen Wellblechdächern und
seinen verschwenderisch großen Tennis- und Golfgründen, die Singhalesen
lausten sich vor ihren Hütten oder saßen fröstelnd in wollene Kopftücher
gewickelt, die schwarzwaldähnliche Landschaft lag leblos und verhüllt.
Außer wenigen Vögeln sah ich lange Zeit kein Leben als in einer
Gartenhecke ein feistes, giftig grünes Chamäleon, dessen boshafte
Bewegungen beim Insektenfang ich lange beobachtete.
Der Pfad begann in einer kleinen Schlucht emporzusteigen, die paar
Dächer verschwanden, ein starker Bach brauste unter mir hin. Eng und
steil stieg der Weg eine gute Stunde lang gleichmäßig bergauf, durch
dürres Buschdickicht und lästige Mückenschwärme, nur selten ward an
Wegbiegungen die Aussicht frei und zeigte immer dasselbe hübsche, etwas
langweilige Tal mit dem See und den Hoteldächern. Der Regen hörte
allmählich auf, der kühle Wind schlief ein, und hin und wieder kam für
Minuten die Sonne heraus.
Ich hatte den Vorberg erstiegen, der Weg führte eben weiter über
elastisches Moor und mehrere schöne Bergbäche. Hier stehen die
Alpenrosen üppiger als daheim, in dreimal mannshohen starken Bäumen, und
ein silbriges, pelzig weiß blühendes Kraut erinnerte sehr an Edelweiß;
ich fand viele von unsern heimatlichen Waldblumen, aber alle seltsam
vergrößert und gesteigert und alle von alpinem Charakter. Die Bäume aber
kümmern sich hier um keine Baumgrenze und wachsen kräftig und laubreich
bis in die letzten Höhen hinauf.
Ich näherte mich der letzten Bergstufe, der Weg begann rasch wieder zu
steigen, bald war ich wieder von Wald umgeben, von einem sonderbar
toten, verzauberten Wald, wo schlangenhaft gewundene Stämme und Äste
mich blind mit langen, dicken, weißlichen Moosbärten anstarrten; ein
nasser, bitterer Laub- und Nebelgeruch hing dazwischen.
Das war alles ganz schön, aber es war nicht eigentlich das, was ich mir
heimlich ausgedacht hatte, und ich fürchtete schon, es möchte zu manchen
indischen Enttäuschungen heute noch eine neue kommen. Indessen nahm der
Wald ein Ende, ich trat warm und etwas atemlos auf ein graues
ossianisches Heideland hinaus und sah den kahlen Gipfel mit einer
kleinen Steinpyramide nahe vor mir. Ein harter, kalter Wind drang auf
mich ein, ich nahm den Mantel um und stieg langsam die letzten hundert
Schritte hinan.
Was ich da oben sah, war vielleicht nichts typisch Indisches, aber es
war der größte und reinste Eindruck, den ich von ganz Ceylon mitnahm.
Soeben hatte der Wind das ganze weite Tal von Nurelia klargefegt, ich
sah tiefblau und riesig das ganze Hochgebirge von Ceylon in mächtigen
Wällen aufgebaut, inmitten die schöne Pyramide des uralt-heiligen
Adams-Pik. Daneben in unendlicher Ferne und Tiefe lag blau und glatt das
Meer, dazwischen tausend Berge, weite Täler, schmale Schluchten, Ströme
und Wasserfälle, mit unzählbaren Falten die ganze gebirgige Insel, auf
der die alten Sagen das Paradies gefunden haben. Tief unter mir zogen
und donnerten mächtige Wolkenzüge über einzelne Täler hin, hinter mir
rauchte quirlender Wolkennebel aus schwarzblauen Tiefen, über alles weg
blies rauh der kalte sausende Bergwind. Und Nähe und Weite stand in der
feuchten Luft verklärt und tief gesättigt in föhnigem Farbenschmelz, als
wäre dieses Land wirklich das Paradies, und als stiege eben jetzt von
seinem blauen, umwölkten Berge groß und stark der erste Mensch in die
Täler nieder.
Diese große Urlandschaft sprach stärker zu mir als alles, was ich sonst
von Indien gesehen habe. Die Palmen und die Paradiesvögel, die
Reisfelder und die Tempel der reichen Küstenstädte, die von
Fruchtbarkeit dampfenden Täler der tropischen Niederungen, das alles,
und selbst der Urwald, war schön und zauberhaft, aber es war mir immer
fremd und merkwürdig, niemals ganz nah und ganz zu eigen. Erst hier oben
in der kalten Luft und dem Wolkengebräu der rauhen Höhe wurde mir völlig
klar, wie ganz unser Wesen und unsre nördliche Kultur in rauheren und
ärmeren Ländern wurzeln. Wir kommen voll Sehnsucht nach dem Süden und
Osten, von dunkler, dankbarer Heimatsahnung getrieben, und wir finden
hier das Paradies, die Fülle und reiche Üppigkeit aller natürlichen
Gaben, wir finden die schlichten, einfachen, kindlichen Menschen des
Paradieses. Aber wir selbst sind anders, wir sind hier fremd und ohne
Bürgerrecht, wir haben längst das Paradies verloren, und das neue, das
wir haben und bauen wollen, ist nicht am Äquator und an den warmen
Meeren des Ostens zu finden, das liegt in uns und in unsrer eignen
nordländischen Zukunft.


Rückreise

Wieder fahre ich Tage und Nächte, Tage und Wochen auf dem blauschwarzen
Meer dahin, wohne in einem winzigen Kabinenloch und stehe zur Abendzeit
stundenlang an die Reling gelehnt, sehe die kahle, schwarze Fläche im
Abendlicht hell werden, sehe über dem grünen Späthimmel die wunderlich
verschobenen Sternbilder flammen und den gleißend blanken Halbmond
wagerecht wie ein Boot in der Schwärze schwimmen. Die Engländer liegen
in Deckstühlen und lesen alte englische Magazine und Reviews, die
Deutschen würfeln im Rauchzimmer mit Lederbechern, ich tue oft mit, und
von Zeit zu Zeit entsteht Stille und Spannung an Deck, wenn die
wunderbar gewachsene, braunschwarze, tigerhafte Frau aus Honolulu
vorübergeht, bei jedem Schritt federnd und von Lebenskraft und
animalischem Selbstgefühl gewiegt. Niemand ist in sie verliebt, niemand
fühlt sich ihr gewachsen; man sieht ihr nach wie einem schönen, doch
übermächtigen Naturereignis, einem Gewitter oder Erdbeben. Verliebt aber
sind viele von uns in das zarte, überschlanke, zwei Meter hohe Fräulein
aus England, das ein Knabengesicht hat und lächeln kann wie ein Engel.
Sie hat in China Verwandte besucht, sie fuhr über Wladiwostok hin und
fährt nun über Suez zurück, sie trägt tagsüber feine, diskrete,
praktische Reisekleider und abends große Toiletten, und sie verbringt
offenbar ihre ganze lächelnde Jugendzeit mit nichts anderem als damit,
ihre eigene Lieblichkeit durch alle Meere und Länder der Erde spazieren
zu führen.
Meine Wünsche und Gedanken sind schon alle in der Heimat, die trotzdem
in ihrer unendlichen Ferne noch halb unwirklich bleibt, während eine
Menge von Eindrücken der letzten Monate mich in junger sinnlicher
Frische umgibt. Wenn ich über sie nachdenke, so stellt sich heraus, daß
nur ganz wenige richtig „exotische“ dabei sind; die meisten sind von
rein menschlicher Art und wurden mir nicht durch das fremde Kostüm,
sondern durch ihre Verwandtschaft mit meinem eigenen und jedem
Menschenwesen wichtig und lieb.
Zu den exotischen Bildern, die mich beständig noch in voller Frische
bedrängen, gehört der Palmenstrand von Penang mit dem weißen
Sandstreifen und den gelben Fischerhütten, die leuchtend blauen
Chinesenstraßen der Städte in den Straits und den Malay States, das
hügelige Inselgewimmel des Archipels bei Riouw, die Affenzüge im Urwald,
die Krokodilflüsse von Sumatra. Der letzte solche Eindruck war oben in
Nuwara Elia. Da war alles fast heimatlich einfach, rauh und grau, keine
Tempel, keine Palmen. Aber als ich den ersten Ausgang machte, sprach
plötzlich eine schöne, weiße Blume zu mir, die rührte bis zu jenem
Schatz von frühesten und stärksten Eindrücken hinab, die wir als Kinder
aufnehmen und denen es später kein Meer und Gebirge der Welt mehr gleich
tun kann. Ich fühlte, nach einem wochenlangen Leben in neuen, fremden,
oberflächlicheren Eindrücken, mich von dieser Blume im Innersten berührt
und erinnert, und als ich suchte, fand ich bald, daß es dieselbe weiße
großkelchige Kalla war, die zu meinen Knabenzeiten im Zimmer meiner
Mutter blühte. Und im Weiterschreiten fand ich diese selbe weiße große
Blume, die als Liebling und stolze Rarität in meinem Vaterhaus im
Schwarzwald gepflegt worden war, zu Hunderten und zu Tausenden stehen
und blühen wie bei uns die Butterblumen im April. Es war schön und üppig
zu sehen, aber es gefiel mir und freute mich doch nur halb, hier auf
Ceylon als mißachtetes Unkraut wachsen zu sehen, was einst meiner Mutter
Stolz und liebe Sorge gewesen war.
Von der langen Seereise war das Schönste und Eindringlichste vielleicht
die Insel Sokotra, von Norden gesehen, mit den bleichen, toten
Sandhängen und dem wilden, jäh zerklüftet starrenden Kalkgebirge, dann
das Südende von Calabrien mit den tausendjährig vereinsamten
Steinstädten in den rauhen Felsbergen. Nicht zu vergessen das
Sinaigebirge, mit den edlen Umrissen gläsern im weichen rosigen Lichte
stehend, und den Suezkanal, den ich auf der Rückfahrt im vollen
Farbenleuchten ägyptischer Lüfte sah.
Weit stärker noch als alle diese schönen Bilder steht mir der Anblick
vieler kleiner menschlicher Dinge im Gedächtnis. Der magere, stille
chinesische Diener, der auf dünner Bastmatte am Fußboden vor der
Türschwelle seines Herrn schläft. Er wird, einer Kleinigkeit wegen,
mitten in der Nacht vom Herrn wach gebrüllt. Müde wendet er den Kopf,
einen Augenblick zittern seine Lider, dann blickt er mit den klugen,
geduldigen braunen Augen auf und erhebt sich, wach und resigniert, mit
dem ergebenen leisen Ruf: „Tuan!“
Oder der malayische Anführer der Waldarbeiter am Batang Hari, ein
Verwandter der früheren Rajahs, aus adliger Familie, mager, mit einem
schönen traurigen Gesicht. Ich sah ihn eines Abends lautlos unsre
Veranda betreten, seine Laterne löschen und sich beim Hausherrn melden,
mit einem Anstand und Adel der Gebärde, wie wir es kaum bei einem feinen
adligen Offizier daheim sehen können.
Dann die schwärzlichen Kinderscharen der Urwalddörfer, die der Ankunft
unseres Bootes mit starrender Neugierde und Spannung zusahen und beim
ersten Schritt, den wir an Land taten, entsetzt und lautlos von dannen
flohen und wie Tierchen im Wald verschwanden.
Und wie schön war es, in Chinesenstädten am Abend junge Freundespaare
spazieren gehen zu sehen. Feine schlanke Jünglinge mit schönen braunen
Augen und lichten, heiteren, geistigen Gesichtern, ganz weiß oder ganz
schwarz gekleidet, mit unendlich nobeln, schmalen, vergeistigten Händen.
Zart und fröhlich ging einer mit dem andern, seine linke Hand lose in
die rechte Hand des Freundes oder den Arm auf dessen Schulter gelegt.
Und überall im Archipel die gutmütigen, hübschen Malayen, von den
Holländern streng gehalten, höflich und ergeben, und auf Ceylon die
sanften, zarten Singhalesen. Man schilt sie und sie machen betrübte
Kindergesichter, man befiehlt ihnen und sie beginnen die Arbeit mit
geheucheltem heftigem Eifer, man wirft ihnen ein Scherzwort zu und sie
lachen breit und selig übers ganze Gesicht. Sie haben alle dieselben
schönen, flehenden Augen, und sie haben alle einen Rest von wilder
Unschuld und Rechenschaftslosigkeit im leicht bewegten Gemüt. Sie
vergessen wichtige Dinge über einer Mahlzeit, und sie verlieren sich im
Spiel so maßlos, daß sie manchmal Ernst daraus machen und einander
totschlagen, wozu sie im wirklichen Ernst und um wichtige Dinge viel zu
feige sind. In Nurelia sah ich einen Arbeiter, der vom Bauplatz
weggejagt und vom Aufseher vertrieben und immer wieder geschlagen wurde.
Er hatte irgendeine Gaunerei begangen, und er war bereit, eine Strafe zu
tragen, aber er wollte durchaus nicht fortgehen, er wollte dableiben,
nur dableiben bei seiner Arbeit und bei seinem Brot, bei seiner Ehre und
bei der Gemeinschaft mit den andern. Der junge, kräftige Mann ließ sich
ohne Widerstand stoßen und mit einem Strickende hauen, langsam wich er
der Gewalt, er heulte dazu laut und unbeherrscht wie ein verwundetes
Tier, und über sein dunkles Gesicht liefen dicke Tränen.
Schön und nachdenklich war es auch, alle diese Menschen bei ihren
religiösen Übungen zu sehen, Hindu, Mohammedaner und Buddhisten. Sie
haben alle, vom reichen städtischen Häuserbesitzer bis zum geringsten
Kuli und Paria herab, Religion. Ihre Religion ist minderwertig,
verdorben, veräußerlicht, verroht, aber sie ist mächtig und
allgegenwärtig wie Sonne und Luft, sie ist Lebensstrom und magische
Atmosphäre und sie ist das einzige, um was wir diese armen und
unterworfenen Völker ernstlich beneiden dürfen. Was wir Nordeuropäer in
unserer intellektualistischen und individualistischen Kultur nur selten,
etwa beim Anhören einer Bachmusik, empfinden dürfen, das
selbstvergessene Gefühl der Zugehörigkeit zu einer ideellen Gemeinschaft
und des Kräfteschöpfens aus unversieglich magischer Quelle, das hat der
Mohammedaner, der am fernsten Winkel der Welt abends seine Verbeugungen
und Gebete verrichtet, und hat der Buddhist in der kühlen Vorhalle
seines Tempels jeden Tag. Und wenn wir das, in einer höheren Form, nicht
wieder gewinnen, dann werden wir Europäer bald kein Recht auf den Osten
mehr haben. Die Engländer, die in ihrem Nationalitätsgefühl und in ihrer
strengen Pflege der eigenen Rasse eine Art von Ersatzreligion besitzen,
sind denn auch die einzigen Westländer, die es da draußen zu einer
wirklichen Macht und Kulturbedeutung gebracht haben.
Mein Schiff fährt und fährt. Vorgestern brannte noch die unbändige Sonne
Asiens auf unser Deck, wir saßen luftig in weißen dünnen Kleidern und
tranken eisgekühlte Sachen; jetzt sind wir schon nahe am europäischen
Winter, der uns mit Kühle und Regenschauern schon bald nach Port Said
empfing. Dann werden die heißen Küsten der östlichen Inseln und die
glühenden Mittage von Singapur in der Erinnerung noch an Glanz gewinnen;
aber dies alles wird mir nie so lieb und wertvoll werden wie das starke
Gefühl von der Einheit und nahen Verwandtschaft alles Menschenwesens,
das ich unter Indiern, Malayen, Chinesen und Japanern gewonnen habe.


Reisende Asiaten

Eines fiel mir, seit ich die erste indische Hafenstadt sah und solange
ich im Osten unterwegs war, täglich stärker auf: Wie viel die Asiaten
reisen! Im Westen, in Europa und Amerika, hält man das Reisen und den
„modernen Verkehr“ für eine Art westlicher Spezialität. Dabei gilt dem
Durchschnittsbürger in ganz Europa eine Eisenbahnfahrt von mehr als
sechs oder acht Stunden schon für eine bemerkenswerte Reise, und ein
Handlungskommis oder Portier, der etwa in Paris, in Genf oder Nizza oder
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