Aus Indien - 7

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schlug die Augen nieder und schwieg eine Weile, dann aber bekannte er
freimütig, mit jenem frommen Willen sei es ihm zwar völlig ernst, doch
wäre er wohl nie auf den Gedanken gekommen, sich für Indien zu melden
und überhaupt Missionar zu werden, wenn nicht ein Gelüste nach den
herrlichen seltenen Pflanzen und Tieren der tropischen Lande, zumal nach
deren Schmetterlingen, ihn dazu verlockt hätte. Der alte Mann sah wohl,
daß der Jüngling ihm nun sein letztes Geheimnis preisgegeben und nichts
mehr zu bekennen habe. Lächelnd nickte er ihm zu und sagte freundlich:
„Nun, mit dieser Sünde müssen Sie selber fertig werden. Sie sollen nach
Indien fahren, lieber Junge!“ Und alsbald ernst werdend, legte er ihm
beide Hände aufs Haar und segnete ihn feierlich mit den Worten des
biblischen Segens.
Drei Wochen später reiste der junge Missionar, mit Kisten und Koffern
wohl ausgerüstet, auf einem schönen Segelschiff als Passagier hinweg,
sah sein Heimatland im grauen Meer versinken und lernte in der ersten
Woche, noch ehe Spanien erreicht war, die Launen und Gefahren des Meeres
kennen. In jenen Zeiten konnte ein Indienfahrer noch nicht so grün und
unerprobt sein Ziel erreichen wie heute, wo man in Europa seinen
bequemen Dampfer besteigt, sich auf dem Suezkanal um Afrika drückt und
nach kurzer Zeit, verwundert und träg vom vielen Schlafen und Essen, die
indische Küste erblickt. Damals mußten die Segelschiffe sich um das
ungeheure Afrika herum monatelang quälen, von Stürmen gefährdet und von
toten langen Windstillen gelähmt, und es galt zu schwitzen und zu
frieren, zu hungern und des Schlafes zu entbehren, und wer die Reise
siegreich vollendet hatte, der war nun längst kein Mutterkind und
unerprobter Neuling mehr, sondern hatte gelernt, sich einigermaßen auf
den Beinen zu halten und selber zu helfen. So ging es auch dem
Missionar. Er war zwischen England und Indien hundertsechsundfünfzig
Tage unterwegs und stieg in der Hafenstadt Bombay als ein gebräunter und
gemagerter Seefahrer an Land.
Indessen hatte er seine Freude und Neugierde nicht verloren, obwohl sie
stiller geworden war, und wie er schon auf der Reise jeden Strand mit
Forschersinn betreten und jede fremde Palmen- und Koralleninsel mit
ehrfürchtiger Neugierde betrachtet hatte, so betrat er das indische Land
mit begierig offenen, dankbar freudigen Augen und hielt seinen Einzug in
der schönen leuchtenden Stadt mit ungebrochenem Mut.
Zunächst suchte und fand er das Haus, an das er empfohlen war. Es lag
schön in einer stillen vorstädtischen Gasse, von Kokospalmen überragt,
und schaute dem frohen Ankömmling mit breiten Lauben und offenen
Fenstern recht wie eine wünschenswerte indische Heimat entgegen. Im
Eintreten streifte sein Blick den kleinen Vorgarten und fand, obwohl
jetzt eben Wichtigeres zu tun und zu betrachten war, gerade noch Zeit,
einen dunkelbelaubten Strauch mit großen goldgelben Blüten zu bemerken,
der von einer zierlichen Schar weißer Falter auf das fröhlichste
umgaukelt wurde. Dies Bild noch im leicht geblendeten Auge, trat er über
einige flache Stufen in den Schatten der breiten Veranda und durch die
offen stehende Haustüre. Ein dienender Hindu in einem weißen Kleide mit
nackten dunkelbraunen Beinen lief über den kühlen roten Ziegelboden
herbei, machte eine ergebene Verbeugung und begann in singendem Tonfall
hindostanische Worte zu näseln, merkte aber rasch, daß der Fremde ihn
nicht verstehe, und führte ihn mit neuen weichen Verbeugungen und
schlangenhaften Gebärden der Ergebenheit und Einladung tiefer ins Haus
und vor eine Türöffnung, die statt der Tür mit einer lose herabhängenden
Bastmatte verschlossen war. Zur gleichen Zeit ward diese Matte von innen
beiseite gezogen, und es erschien ein großer, hagerer, herrisch
aussehender Mann in weißen Tropenkleidern und mit Strohsandalen an den
nackten Füßen. Er richtete in einer unverständlichen indischen Sprache
eine Reihe von Scheltworten an den Diener, der sich klein machte und der
Wand entlang langsam davonschlich, dann wandte er sich an Aghion und
hieß ihn auf englisch eintreten.
Der Missionar suchte zuerst seine unangemeldete Ankunft zu entschuldigen
und den armen Diener zu rechtfertigen, der nichts verbrochen habe. Aber
der andere winkte ungeduldig ab und sagte: „Mit den Schlingeln von
Dienern werden Sie ja bald umzugehen lernen. Treten Sie ein! Ich erwarte
Sie.“
„Sie sind wohl Mister Bradley?“ fragte der Ankömmling höflich, während
doch bei diesem ersten Schritt in die exotische Wirtschaft und beim
Anblick des Ratgebers, Lehrers und Mitarbeiters eine Fremdheit und Kälte
in ihm aufstieg.
„Ich bin Bradley, gewiß, und Sie sind ja wohl Aghion. Also, Aghion,
kommen Sie nun endlich herein! Haben Sie schon Mittagbrot gehabt?“
Der große knochige Mann nahm alsbald mit aller kurz angebundenen,
herrischen Praxis eines bewährten Überseers und Handelsagenten, welcher
er war, den Lebenslauf seines Gastes in seine braunen, dunkelbehaarten
Hände. Er ließ ihm eine Reismahlzeit mit Hammelfleisch und brennendem
Currypfeffer bringen, er wies ihm ein Zimmer an, zeigte ihm das Haus,
nahm ihm seine Briefe und Aufträge ab, beantwortete seine ersten
neugierigen Fragen und gab ihm die ersten, notwendigsten indischen
Lebensregeln. Er setzte die vier braunen Hindudiener in Bewegung, befahl
und schnauzte in seiner kalten Zornigkeit durch das schallende Haus,
ließ auch einen indischen Schneidermeister kommen, der sofort ein
Dutzend landesüblicher Kleidungen für Aghion machen mußte. Dankbar und
etwas eingeschüchtert nahm der Neuling alles hin, obwohl es seinem Sinne
mehr entsprochen hätte, seinen Einzug in Indien stiller und feierlicher
zu begehen, sich erst einmal ein bißchen heimisch zu machen und sich in
einem freundlichen Gespräch seiner ersten Eindrücke und seiner vielen
starken Reiseerinnerungen zu entladen. Indessen lernt man auf einer
halbjährigen Seereise sich bescheiden und sich in viele Lagen finden,
und als gegen Abend Mister Bradley wegging, um seiner kaufmännischen
Arbeit in der Stadt nachzugehen, atmete der evangelische Jüngling
fröhlich auf und dachte nun allein in stillem Behagen seine Ankunft zu
feiern und das Land Indien zu begrüßen.
Feierlich verließ er, nachdem er darin eine erste flüchtige Ordnung
geschaffen, sein luftiges Zimmer, das weder Tür noch Fenster, sondern
nur leere geräumige Öffnungen in allen Wänden hatte, und ging ins Freie,
einen großrandigen Hut mit langem Sonnenschleier auf dem blonden Kopf
und einen tüchtigen Stock in der Hand. Beim ersten Schritt in den Garten
blickte er mit einem tiefen Atemzug herzlich ringsum und sog mit
witternden Sinnen die Lüfte und Düfte, Lichter und Farben des fremden,
sagenhaften Landes, das er als ein bescheidener Mitarbeiter erobern
helfen sollte und dem er, nach so langer Erwartung und banger Vorfreude,
sich nun willig und offen hinzugeben gesonnen war.
Was er um sich sah und verspürte, gefiel ihm alles wohl und kam ihm wie
eine tausendfältige strahlende Bestätigung vieler Träume und Ahnungen
vor. Dichte hohe Gebüsche standen rund und saftig im heftigen
Sonnenlicht und strotzten von großen, wunderlich starkfarbigen Blumen;
auf säulenschlanken glatten Stämmen ragten in erstaunlicher Höhe die
stillen runden Wipfel der Kokospalmen, eine Fächerpalme stand hinter dem
Hause und hielt ihr sonderbar strenges, gleichmäßiges Riesenrad von
gewaltigen mannslangen Blättern steif in die Lüfte, am Rand des Weges
aber nahm sein naturfreundliches Auge ein kleines lebendiges Wesen wahr,
dem er sich vorsichtig näherte. Es war ein kleines, grünes Chamäleon mit
einem dreieckigen Kopf und boshaften kleinen Augen. Er beugte sich
darüber und fühlte sich wie ein Knabe beglückt, daß er solche Dinge
sehen und die unerschöpflich reiche Natur nun am eigentlichen Quell
ihres Reichtums betrachten durfte.
Eine fremdartige Musik weckte ihn aus seiner andächtigen Versunkenheit.
Aus der flüsternden Stille der tiefen grünen Baum- und Gartenwildnis
brach der rhythmische Lärm metallener Trommeln und Pauken und schneidend
helltöniger Blasinstrumente. Erstaunt lauschte der fromme Naturfreund
hinüber und machte sich, da nichts zu sehen war, neugierig auf den Weg,
die Art und Herkunft dieser barbarisch-festlichen Klänge
auszukundschaften. Immer den Tönen folgend, verließ er den Garten,
dessen Tor weit offen stand, und verfolgte den hübschen grasigen Fahrweg
durch eine freundliche kultivierte Landschaft von Hausgärten,
Palmenpflanzungen und lachend hellgrünen Reisfeldern, bis er, um die
hohe Hecke eines Parks oder Gartens biegend, in eine dörflich anmutende
Gasse von indischen Hütten gelangte. Die kleinen Häuschen waren aus Lehm
oder auch nur aus Bambusgestänge erbaut, die Dächer mit trockenen
Palmblättern gedeckt, in allen Türöffnungen standen und hockten braune
Hindufamilien. Mit Neugierde sah er die Leute an und tat den ersten
Blick in das dörflich bescheidene Leben des fremden Naturvolkes, und vom
ersten Augenblick an gewann er die braunen Menschen lieb, deren schöne
kindliche Augen wie in einer unbewußten und unerlösten tierischen
Traurigkeit blickten. Schöne Frauen schauten aus mächtigen Flechten
langen, tiefschwarzen Haares hervor, still und rehhaft; sie trugen
mitten im Gesicht, sowie an den Hand- und Fußgelenken goldenen Schmuck
und Ringe an den Fußzehen. Kleine Kinder standen vollkommen nackt und
trugen nichts am Leibe als an dünner Bastschnur ein seltsames Amulett
aus Silber oder aus Horn.
Indessen hielt er sich nirgends auf, nicht weil es ihn bedrückt hätte,
sich von den meisten dieser Menschen mit starrender Neugierde beschaut
zu fühlen, sondern weil er sich der eigenen Schaulust heimlich schämte.
Außerdem tönte immer noch die tolle Musik, und nun ganz in der Nähe, und
an der Ecke der nächsten Gasse hatte er gefunden, was er suchte. Da
stand ein unheimlich sonderbares Gebäude von äußerst phantastischer Form
und beängstigender Höhe, ein ungeheures Tor in der Mitte, und indem er
daran empor staunte, fand er die ganze riesengroße Fläche des Bauwerks
aus lauter steinernen Figuren von fabelhaften Tieren, Menschen und
Göttern oder Teufeln zusammengesetzt, die sich zu Hunderten bis an die
ferne schmale Spitze des Tempels hinan türmten, ein Wald und wildes
Geflecht von Leibern, Gliedern und Köpfen. Dieser erschreckende
Steinkoloß, ein großer Hindutempel, leuchtete heftig in den wagrechten
Strahlen der späten Abendsonne und erzählte dem verblüfften Fremdling
deutlich, daß diese tierhaft sanften, halbnackten Menschen eben doch
keineswegs ein paradiesisches Naturvolk waren, sondern seit einigen
tausend Jahren schon Gedanken und Götter, Bildnisse und Religionen
besaßen.
Die schallende Paukenmusik war soeben verstummt, und es kamen aus dem
Tempel viele fromme Indier in weißen und farbigen Gewändern, voran und
vornehm abgetrennt eine kleine feierliche Schar von Brahmanen, hochmütig
in tausendjährig erstarrter Gelehrsamkeit und Würde. Sie schritten an
dem weißen Manne so stolz vorüber wie Edelleute an einem
Handwerksburschen, und weder sie noch die bescheideneren Gestalten, die
ihnen folgten, sahen so aus, als hätten sie die geringste Neigung, sich
von einem zugereisten Fremdling über göttliche und menschliche Dinge des
Rechten belehren zu lassen.
Als der Schwarm verlaufen und der Ort stiller geworden war, näherte sich
Robert Aghion dem Tempel und begann in verlegener Teilnahme das
Figurenwerk der Fassade zu studieren, ließ jedoch bald mit Betrübnis und
Schrecken davon wieder ab; denn die groteske Allegoriensprache dieser
Bildwerke, deren viele bei aller wahnsinnigen Häßlichkeit doch wertvolle
Künstlerarbeit zu sein schienen, verwirrte und ängstigte ihn nicht
minder als der Anblick einiger Szenen von schamloser Obszönität, die er
naiv mitten zwischen dem Göttergewimmel dargestellt fand.
Während er sich abwandte und nach seinem Rückweg ausblickte, erlosch der
Tempel und die Gasse plötzlich; ein kurzes zuckendes Farbenspiel lief
über den Himmel, und rasch brach die südliche Nacht herein. Das
unheimlich schnelle Eindunkeln, obwohl er es längst kannte, überfiel den
jungen Missionar mit einem leichten Schauder. Zugleich mit dem Anbruch
der Dämmerung begann aus allen Bäumen und Gebüschen ringsum ein grelles
Singen und Lärmen von tausend großen Insekten und in der Ferne erhob
sich das Wut- oder Klagegeschrei eines Tieres mit fremden wilden Tönen.
Eilig suchte Aghion seinen Heimweg, fand ihn glücklich wieder und hatte
die kleine Strecke Weges noch nicht völlig zurückgelegt, als schon das
ganze Land in tiefer Nachtfinsternis und der hohe schwarze Himmel voll
von Sternen stand.
Im Hause, wo er nachdenklich und zerstreut ankam und sich dem ersten
erleuchteten Raume näherte, empfing ihn Mister Bradley mit den Worten:
„So, da sind Sie. Sie sollten aber fürs erste so spät am Abend nicht
mehr ausgehen, es ist nicht ohne Gefahr. Übrigens, können Sie gut mit
Schießgewehr umgehen?“
„Mit Schießgewehr? Nein, das habe ich nicht gelernt.“
„Dann lernen Sie es bald ... Wo waren Sie denn heut abend?“
Aghion erzählte voll Eifer. Er fragte begierig, welcherlei Religion
jener Tempel angehöre und welcherlei Götter- oder Götzendienst darin
getrieben werde, was die vielen Figuren bedeuteten und was die seltsame
Musik, ob die schönen stolzen Männer in weißen Kleidern Priester seien
und wie denn ihre Götter hießen. Allein hier erlebte er die erste
Enttäuschung. Von allem, was er da fragte, wollte sein Ratgeber gar
nichts wissen. Er erklärte, daß kein Mensch sich in dem scheußlichen
Wirrwarr und Unflat dieser Götzendienste auskenne, daß die Brahmanen
eine heillose Bande von Ausbeutern und Faulenzern seien und daß
überhaupt diese Indier alle zusammen ein schweinisches Pack von Bettlern
und Unholden wären, mit denen ein anständiger Engländer lieber gar
nichts zu tun habe.
„Aber,“ meinte Aghion zaghaft, „meine Bestimmung ist es doch gerade,
diese verirrten Menschen auf den rechten Weg zu führen! Dazu muß ich sie
kennen und lieben und alles von ihnen wissen ...“
„Sie werden bald mehr von ihnen wissen, als Ihnen lieb sein wird.
Natürlich müssen Sie Hindostani und später vielleicht noch andere von
diesen infamen Niggersprachen lernen. Aber mit der Liebe werden Sie
nicht weit kommen.“
„Oh, die Leute sehen aber doch recht gutartig aus!“
„Finden Sie? Nun, Sie werden ja sehen. Von dem, was Sie mit den Hindus
vorhaben, verstehe ich nichts und will nicht darüber urteilen. Unsere
Aufgabe ist es, diesem gottlosen Pack langsam ein wenig Kultur und einen
schwachen Begriff von Anständigkeit beizubringen; weiter werden wir
vielleicht niemals kommen!“
„Unsere Moral, oder was Sie Anständigkeit heißen, ist aber die Moral
Christi, mein Herr!“
„Sie meinen die Liebe. Ja, sagen Sie nur einmal einem Hindu, daß Sie ihn
lieben. Dann wird er Sie heute anbetteln und Ihnen morgen das Hemd aus
dem Schlafzimmer stehlen!“
„Das ist möglich.“
„Das ist sogar ganz sicher, lieber Herr. Sie haben es hier gewissermaßen
mit Unmündigen zu tun, die noch keine Ahnung von Ehrlichkeit und Recht
haben, nicht mit gutartigen englischen Schulkindern, sondern mit einem
Volk von schlauen braunen Lausbuben, denen jede Schändlichkeit einen
Hauptspaß macht. Sie werden noch an mich denken!“
Aghion verzichtete traurig auf ein weiteres Fragen und nahm sich vor,
nun einmal vor allem fleißig und gehorsam alles zu lernen, was hier zu
lernen wäre, dann aber das zu tun, was ihm recht und klug scheinen
würde. Doch ob nun der strenge Bradley recht hatte oder nicht, schon
seit dem Anblick des ungeheuern Tempels und der unnahbar stolzen
Brahmanen war ihm sein Vorhaben und Amt in diesem Lande unendlich viel
schwieriger erschienen, als er je zuvor gedacht hätte.
Am nächsten Morgen wurden die Kisten ins Haus gebracht, in denen der
Missionar sein Eigentum aus der Heimat mit sich geführt hatte. Sorglich
packte er aus, legte Hemden zu Hemden und Bücher zu Büchern und fand
sich durch manche Gegenstände nachdenklich gestimmt. Es fiel ihm ein
kleiner Kupferstich in schwarzem Rahmen in die Hände, dessen Glas
unterwegs zerbrochen war und der ein Bildnis des Herrn Defoe, des
Verfassers des Robinson Crusoe, darstellte, und das alte, ihm von der
frühen Kindheit an vertraute Gebetbuch seiner Mutter, alsdann aber als
ermunternder Wegweiser in die Zukunft eine Landkarte von Indien, die ihm
sein Oheim geschenkt, und zwei stählerne Netzbügel für den
Schmetterlingsfang, die er sich selber noch in London hatte machen
lassen. Einen von diesen legte er sogleich zum Gebrauch in den nächsten
Tagen beiseite.
Am Abend war seine Habe verteilt und verstaut, der kleine Kupferstich
hing über seinem Bette, und das ganze Zimmer war in saubere Ordnung
gebracht. Die Beine seines Tisches und seiner Bettstatt hatte er, wie es
ihm empfohlen worden war, in kleine irdene Näpfe gestellt und die Näpfe
mit Wasser gefüllt, zum Schutz gegen die Ameisen. Mister Bradley war den
ganzen Tag in Geschäften abwesend, und es war dem jungen Manne
sonderbar, vom ehrfürchtigen Diener durch Zeichen zu den Mahlzeiten
gelockt und dabei bedient zu werden, ohne daß er ein einziges Wort mit
ihm reden konnte.
In der Frühe des folgenden Tages begann Aghions Arbeit. Es erschien und
wurde ihm von Bradley vorgestellt der schöne dunkeläugige Jüngling
Vyardenya, der sein Lehrmeister in der Hindostani-Sprache werden sollte.
Der lächelnde junge Indier sprach nicht übel englisch und hatte die
besten Manieren; nur schreckte er ängstlich zurück, als der arglose
Engländer ihm freundlich die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte, und
vermied auch künftighin jede körperliche Berührung mit dem Weißen, die
ihn verunreinigt haben würde, da er einer hohen Kaste angehörte. Er
wollte sich auch durchaus niemals auf einen Stuhl setzen, den vor ihm
ein Fremder benutzt hatte, sondern brachte jeden Tag zusammengerollt
unterm Arm seine eigene hübsche Bastmatte mit, die er auf dem
Ziegelboden ausbreitete und auf welcher er mit gekreuzten Beinen edel
und aufrecht saß. Sein Schüler, mit dessen Eifer er wohl zufrieden sein
konnte, suchte auch diese Kunst von ihm zu lernen und kauerte während
seiner Lektionen stets auf einer ähnlichen Matte am Boden, obwohl ihm
dabei in der ersten Zeit alle Glieder weh taten, bis er daran gewöhnt
wurde. Fleißig und geduldig lernte er Wort für Wort, mit den
alltäglichen Begrüßungsformeln beginnend, die ihm der Jüngling unermüdet
und lächelnd vorsprach, und stürzte sich jeden Tag mit neuem Mut in den
Kampf mit den indischen Girr- und Gaumenlauten, die ihm zu Anfang als
ein unartikuliertes Röcheln erschienen waren und die er nun alle zu
unterscheiden und nachzuahmen lernte.
So merkwürdig das Hindostani war und so rasch die Vormittagsstunden mit
dem höflichen Sprachlehrer vergingen, welcher sich stets benahm wie ein
Prinz, der aus Not in einem Bürgerhause Unterricht gibt, so waren doch
die Nachmittage und gar die Abende lang genug, um den strebsamen Herrn
Aghion die Einsamkeit fühlen zu lassen, in der er lebte. Sein Wirt, zu
dem er in einem unklaren Verhältnisse stand und der ihm halb als Gönner,
halb als eine Art Vorgesetzter entgegentrat, war wenig zu Hause; er kam
meistens gegen Mittag zu Fuß oder zu Pferde aus der Stadt zurück,
präsidierte als Hausherr beim Essen, zu dem er manchmal einen englischen
Schreiber mitbrachte, und legte sich dann zwei, drei Stunden zum Rauchen
und Schlafen auf die Veranda, um gegen Abend nochmals für einige Stunden
in sein Kontor oder Magazin zu gehen. Zuweilen mußte er für mehrere Tage
verreisen, um Produkte einzukaufen, und sein neuer Hausgenosse hatte
wenig dagegen, da er mit dem besten Willen sich dem rauhen und
wortkargen Geschäftsmann nicht befreunden konnte. Auch gab es manches in
der Lebensführung Mister Bradleys, was dem Missionar nicht gefallen
konnte. Unter anderem kam es zuweilen vor, daß Bradley am Feierabend mit
jenem Schreiber zusammen bis zur Trunkenheit eine Mischung von Wasser,
Rum und Limonadensaft genoß; dazu hatte er in der ersten Zeit den jungen
Geistlichen mehrmals eingeladen, aber stets von ihm eine sanfte Absage
erhalten.
Bei diesen Umständen war Aghions tägliches Leben nicht gerade
kurzweilig. Er hatte versucht, seine ersten schwachen Sprachkenntnisse
anzuwenden, indem er an den langen öden Nachmittagen, wo das hölzerne
Haus ringsum von der stechenden Hitze belagert lag, sich zur
Dienerschaft in die Küche begab und sich mit den Leuten zu unterhalten
suchte. Der mohammedanische Koch zwar gab ihm keine Antwort und war so
hochmütig, daß er ihn gar nicht zu sehen schien, der Wasserträger aber
und der Hausjunge, die beide stundenlang müßig auf ihren Matten hockten
und Betel kauten, hatten nichts dagegen, sich an den angestrengten
Sprechversuchen des Master zu belustigen.
Eines Tages erschien aber Bradley in der Küchentür, als gerade die
beiden Schlingel sich über einige Irrtümer und Wortverwechslungen des
Missionars vor Vergnügen auf die mageren Schenkel klatschten. Bradley
sah der Lustbarkeit mit verbissenen Lippen zu, gab blitzschnell dem Boy
eine Ohrfeige, dem Wasserträger einen Fußtritt und zog den erschrockenen
Aghion stumm mit sich davon. In seinem Zimmer sagte er dann etwas
ärgerlich: „Wie oft muß ich Ihnen noch sagen, daß Sie sich nicht mit den
Leuten einlassen sollen! Sie verderben mir die Burschen,
selbstverständlich in der besten Absicht, und ohnehin geht es nicht an,
daß ein Engländer sich vor diesen braunen Schelmen zum Hanswurst macht!“
Er war wieder davongegangen, noch ehe der beleidigte Aghion sich
rechtfertigen konnte.
Unter Menschen kam der vereinsamte Missionar nur am Sonntag, wo er
regelmäßig zur Kirche ging, auch selbst einmal für den wenig arbeitsamen
englischen Pfarrer die Predigt übernahm. Aber er, der daheim vor den
Bauern und Wollwebern seiner Gegend mit Liebe gepredigt hatte, fand sich
hier vor einer kühlen Gemeinde von reichen Geschäftsleuten, müden,
kränklichen Damen und lebenslustigen jungen Angestellten, fremd und
ernüchtert. Das kalte kaufmännische oder herrisch abenteuerhafte Wesen
dieser Leute, die das reiche Land ausbeuteten und von denen keiner ein
gutes Wort für die Eingeborenen hatte, tat ihm weh und verschob
allmählich alle seine Begriffe, so daß er, der stets für die Hindus
Partei nahm und von den Pflichten der Europäer gegen die eingeborenen
Völker sprach, sich lächerlich und unbeliebt machte und als ein
Schwärmer und naiver Bursche verachtet wurde.
Wenn er nun über dem Betrachten seiner Lage zuweilen recht betrübt wurde
und sich erbarmenswert vorkam, so gab es einen Trost für sein Gemüt, der
niemals ganz versagte. Dann rüstete er sich zu einem Ausflug, hängte die
Botanisierbüchse um und nahm das Netz zur Hand, das er mit einem langen
schlanken Bambusstab versehen hatte. Gerade das, worüber die meisten
anderen Engländer sich bitter zu beklagen pflegten, die glühende
Sonnenhitze und das ganze indische Klima, war ihm lieb und schien ihm
herrlich; denn er hielt sich an Leib und Seele frisch und ließ keine
Erschlaffung aufkommen. Für seine Naturstudien und Liebhabereien
vollends war dieses Land eine unermeßliche Weide, auf Schritt und Tritt
hielten unbekannte Bäume, Blumen, Vögel, Insekten ihn auf, die er mit
der Zeit alle namentlich kennen zu lernen beschloß. Seltsame Eidechsen
und Skorpione, riesengroße dicke Tausendfüßler und anderes Koboldzeug
erschreckte ihn selten mehr, und seit er eine dicke Schlange in der
Badekammer mutig mit dem hölzernen Eimer erschlagen hatte, fühlte er
seine Bangnis vor unheimlicher Tiergefahr immer mehr dahinschwinden.
Als er zum erstenmal mit seinem Netz nach einem großen prächtigen
Schmetterling schlug, als er ihn gefangen sah und mit vorsichtigen
Fingern das stolze strahlende Tier an sich nahm, dessen breite starke
Flügel alabastern glänzten und mit dem duftigsten Farbenflaum behaucht
waren, da schlug ihm das Herz in einer unbändigen Freude, wie er sie
nicht mehr empfunden hatte, seit er als Knabe nach langer, atemloser
Jagd seinen ersten Schwalbenschwanz erbeutet hatte. Fröhlich gewöhnte er
sich an die Unbequemlichkeiten des Dschungels und verzagte nicht, wenn
er im wilden Urwald tief in versteckte Schlammgruben einbrach, von
heulenden Affenherden verhöhnt und von wütenden Ameisenvölkern
überfallen wurde. Nur einmal lag er zitternd und betend hinter einem
ungeheuren Gummibaum auf den Knien, während in der Nähe wie ein Gewitter
und Erdbeben ein Trupp von Elefanten durchs dichte Gehölz brach. Er
gewöhnte sich daran, in seinem luftigen Schlafzimmer frühmorgens vom
rasenden Affengebrüll aus dem nahen Walde geweckt zu werden und bei
Nacht das heulende Schreien der Schakale zu hören. Seine Augen glänzten
hell und wachsam aus dem gemagerten, braun und männlich gewordenen
Gesicht.
Auch in der Stadt und noch lieber in den friedlichen gartenartigen
Außendörfern sah er sich immer besser um, und die Hinduleute gefielen
ihm desto mehr, je mehr er von ihnen sah. Störend und äußerst peinlich
war ihm nur die Sitte der unteren Stände, ihre Frauen mit nacktem
Oberkörper laufen zu lassen. Nackte Frauenhälse und Arme und
Frauenbrüste auf der Gasse zu sehen, daran konnte der Missionar sich
schwer gewöhnen, obgleich es häufig sehr hübsch aussah und obwohl diese
Nacktheit durch die tiefe Bronzefarbe der sonnenharten Haut und durch
die freimütig unbefangene Art, mit der sie von den armen Weiblein
getragen wurde, den Anschein der größten Natürlichkeit gewann.
Nächst dieser Anstößigkeit machte nichts ihm so viel zu schaffen und zu
denken wie die Rätsel, die ihm das geistige Leben dieser Menschen
entgegenhielt. Wohin er blicken mochte, überall war Religion. In London
konnte man gewiß am höchsten kirchlichen Feiertag nicht so viel
Frömmigkeit wahrnehmen wie hier an jedem Werktag und in jeder Gasse;
überall waren Tempel und Bilder, war Gebet und Opfer, waren Umzüge und
Zeremonien, Büßer und Priester zu sehen. Aber wer wollte sich jemals in
diesem wirren Knäuel von Religionen zurechtfinden? Da waren Brahmanen
und Mohammedaner, Feueranbeter und Buddhisten, Diener des Schiwa und des
Krischna, Turbanträger und Gläubige mit glattrasierten Köpfen,
Schlangenanbeter und Diener heiliger Schildkröten. Wo war der Gott, dem
alle diese Verirrten dienten? Wie sah er aus und welcher Kultus von den
vielen war der ältere, heiligere, reinere? Das wußte niemand und
namentlich den Indiern selber war dies vollkommen einerlei; wer von dem
Glauben seiner Väter nicht befriedigt war, der ging zu einem anderen
über oder zog als Büßer dahin, um eine neue Religion zu finden oder gar
zu schaffen. Göttern und Geistern, deren Namen niemand wußte, wurden
Speisen in kleinen Schalen geopfert, und alle diese hundert
Gottesdienste, Tempel und Priesterschaften lebten vergnügt nebeneinander
hin, ohne daß es den Anhängern des einen Glaubens einfiel, die anderen
zu hassen oder totzuschlagen, wie es daheim in den Christenländern Sitte
war. Vieles sogar sah sich hübsch und lieblich an, Flötenmusik und zarte
Blumenopfer, und auf gar vielen frommen Gesichtern wohnte ein Friede und
heiter stiller Glanz, den man in den Gesichtern der Engländer vergeblich
suchte. Schön und heilig schien ihm auch das von den Hindus streng
gehaltene Gebot, kein Tier zu töten, und er schämte sich zuweilen und
suchte Rechtfertigung vor sich selbst, wenn er ohne Erbarmen einige
schöne Schmetterlinge und Käfer umgebracht und auf Nadeln gespießt
hatte. Andererseits waren unter diesen selben Völkern, denen jeder Wurm
als Geschöpf Gottes heilig galt und die sich innig in Gebeten und
Tempeldienst hingaben, Diebstahl und Lüge, falsches Zeugnis und
Vertrauensbruch ganz alltägliche Dinge, über die keine Seele sich
empörte oder nur wunderte. Je mehr es der wohlmeinende Glaubensbote
bedachte, desto mehr schien ihm dieses Volk zum undurchdringlichen
Rätsel zu werden, das jeder Logik und Theorie Hohn sprach. Der Diener,
mit dem er trotz Bradleys Verbot bald wieder Gespräche pflog und der
soeben ein Herz und eine Seele mit ihm zu sein schien, stahl ihm eine
Stunde später ein baumwollenes Hemd, und als er ihn mit liebreichem
Ernst zur Rede stellte, leugnete er zuerst unter Schwüren, gab dann
lächelnd alles zu, zeigte das Hemd her und sagte zutraulich, es habe ja
schon ein kleines Loch und so habe er gedacht, der Master werde es gewiß
nimmer tragen mögen.
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