Aus Indien - 4

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rasende Leben der Erde sich ergießen und vergeuden, und stand dazwischen
mit meinem europäischen Gehirn und Gefühlswesen, das sich dem Toben
nicht unterordnete, und sah neugierig zu und dachte an viele Nächte und
Tage meines Lebens, an alle die vielen, vielen Stunden, da ich so wie
hier irgendwo auf Erden gestanden war und fremde Dinge und Erscheinungen
betrachtet hatte, geführt und verlockt von dem seltsamen Trieb des
Zuschauens. Es kam mir nicht einen Augenblick sinnlos vor, daß ich im
Süden des Sumpfurwaldes von Sumatra stehe und einem tropischen
Nachtgewitter zusehe, ich empfand auch keinen Augenblick eine Ahnung von
Gefahr, sondern ich fühlte voraus und sah mich noch hundertmal, an weit
von hier entfernten Orten, einsam und neugierig stehen und dem
Unbegreiflichen mit Verwunderung zusehen, dem das Unbegreifliche und
Vernunftlose in mir selbst Antwort gab und sich verbrüderte. Genau mit
demselben Gefühl von Ergriffenheit und unverantwortlicher
Zuschauerschaft hatte ich als kleiner Knabe Tiere sterben oder
Schmetterlingspuppen aufbrechen sehen, mit demselben Gefühl hatte ich in
die Augen von Sterbenden und in die Kelche von Blumen gesehen – nicht
mit dem Wunsche, diese Dinge zu erklären, nur mit dem Bedürfnis, dabei
zu sein und ja keinen der seltenen Augenblicke zu versäumen, in denen
die große Stimme zu mir sprach und in denen ich und mein Leben und
Empfinden hinschwand und wertlos wurde, weil es nur ein dünner Oberton
zu dem tiefen Donner oder noch tieferen Schweigen des unbegreiflichen
Geschehens wurde.
Die Stunde war da, die seltene, lang erharrte, und ich stand und sah im
weißen Licht der tausend Blitze den Urwald sein Geheimnis vergessen und
in tiefer Todesangst erschauern, und was da zu mir sprach, das war genau
dasselbe, was ich zehn- und hundertmal im Leben gehört hatte, beim Blick
in eine Alpenschlucht, beim Fahren durch einen Meersturm, beim Sausen
des einbrechenden Föhns auf einer Skihalde, und was ich nicht ausdrücken
kann und doch immer wieder zu erleben trachten muß.
Und plötzlich war alles zu Ende, und das war sonderbarer und
schauerlicher als der ganze Gewitterlärm. Kein Blitz, kein Donner mehr,
nur namenlos dicke Finsternis und das Niederstürzen eines wilden,
gierigen, selbstmörderisch wütenden Regens. Ringsum nichts mehr als das
tiefe, wühlende Rauschen und der geile Geruch des aufgewühlten
Urwaldbodens, und eine so tiefe Müdigkeit und Schlafbereitschaft, daß
ich noch im Stehen einschlief und auf meine Matratze taumelte und nicht
wieder erwachte, bis beim gelben Sonnenaufgang der Wald vom
hundertstimmigen Gebrüll der Affen widerhallte.


Palembang

Palembang ist eine Pfahlbaustadt von etwa fünfundsiebzigtausend
Einwohnern im Südosten von Sumatra, am sumpfigen Ufer eines großen
Flusses gelegen, und hat von oberflächlichen Reisenden den sehr
unzutreffenden Namen des malayischen Venedig erhalten, womit nichts
gesagt ist, als daß die Stadt an und auf dem Wasser liegt und
hauptsächlich Wasserverkehr hat.
Palembang liegt von Mittag bis Mitternacht im Wasser, von Mitternacht
bis Mittag im Sumpf, in einem grauen, zähen Schmutz, der fabelhaft
stinkt und dessen Anblick und Geruch mich eine Woche lang und nach der
Abreise noch bis aufs offene Meer hinaus mit einem leisen Schleier von
Ekel und Fiebergefühl verfolgte. Dazwischen und durch diesen Schleier
hindurch erlebte ich die schöne, merkwürdige Stadt wie ein aufregendes
Abenteuer.
Der Fluß und die hundert stillen, kanalartigen Seitenflüßchen, an deren
Ufern Palembang liegt, fließen am Morgen alle in entgegengesetzter
Richtung als am Abend, denn die ganze völlig flache Gegend liegt nur
etwa zwei Meter über dem Meere, das siebzig oder achtzig Kilometer weit
entfernt ist und dessen Flut jeden Tag den weiten Weg herauf kommt, die
Strömung umkehrt, die Sümpfe zu Seen, die Schmutzstadt zu einem
herrlichen Märchenort und das ganze Gebiet überhaupt bewohnbar macht.
Während dieser Flutzeit, die mit den Tagen wechselt und während meines
Dortseins um Mittag begann, spiegeln sich die tausend Pfahlbauten zart
und berückend in dem bräunlichen, schwach bewegten Wasser, auf dem
kleinsten Kanal wimmeln hundert schlanke, malerische Prauwen mit stiller
Lebendigkeit und verblüffender Geschicklichkeit durcheinander, nackte
Buben und verhüllte Frauen baden am Fuß der steilen Holztreppen, die von
jedem Haus ins Wasser führen, und die Laternen der schmucken, auf Flößen
schwimmenden Chinesenkaufläden reißen wundervolle Ausschnitte eines
asiatischen Abend- und Wasserlebens aus der Dunkelheit.
Zur Zeit der Ebbe aber ist dieselbe Stadt zur Hälfte eine schwarze
Gosse, die kleinen Hausboote liegen schräg im toten Sumpf, braune
Menschen baden harmlos in einem Brei von Wasser, Schlamm, Marktabfällen
und Mist, das Ganze schaut blind und glanzlos in den unbarmherzig heißen
Himmel und stinkt unsäglich.
Übrigens darf ich den Eingebornen nicht unrecht tun. Sie können nichts
dafür, daß ihr Fluß kein Gefälle und darum kein sauberes Wasser hat, daß
der Abfall der Küchen und der Kot der Abtritte um die Häuser her stehen
bleibt und daß die wilde Sonne den Schlamm so rasch zur Gärung
bringt. So sehr es dem Fremden manchmal graut, wenn er hiesige
Reinlichkeitsverhältnisse betrachtet, so stolz er sich den Malayen
überlegen fühlen mag, wenn er tagelang aufs Bad verzichtet und seine
Zähne mit Sodawasser putzt, so bleibt doch die Wahrheit bestehen, daß
der Ostasiate viel reinlicher ist als der Europäer und daß wir unsre
ganze moderne europäische Reinlichkeit von den Indiern und Malayen
gelernt haben. Diese moderne Reinlichkeit, die mit der Forderung des
täglichen Bades beginnt, stammt von England, und sie kam in England auf
unter dem Einfluß der vielen Angloindier und heimgekehrter Tropenleute,
und diese hatten das Baden, das häufige Mundspülen und alle diese
Reinlichkeitskünste von den Natives in Indien, Ceylon und der
malayischen Welt gelernt. Ich sah einfache Weiber aus dem Volk nach
jeder Mahlzeit die Zähne mit feinen Holzstäbchen und den Mund mit
frischer Wasserspülung reinigen, was bei uns keine fünf oder zehn
Prozent der Bevölkerung tun, und in Württemberg und Baden kenne ich
Bauern genug, die allerhöchstens zwei oder dreimal im Jahre baden,
während die Malayen und Chinesen das mindestens einmal im Tage, meistens
öfter, tun. Und sie tun es schon sehr lange, wenigstens findet man schon
in uralten chinesischen Büchern gelegentlich solche Reinlichkeitsübungen
als selbstverständlich erwähnt, zum Beispiel im „Buch vom quellenden
Urgrund“: „Als er zur Herberge kam und fertig war mit Waschen,
Mundausspülen, Abtrocknen und Kämmen – –“.
In Palembang, in dieser sonderbaren Stadt, wird mit Yeloton und Rubber,
mit Baumwolle und Rottang, mit Fischen und Elfenbein, mit Pfeffer,
Kaffee, Baumharzen, mit einheimischen Geweben und Spitzen gehandelt;
eingeführt werden imitierte Sarongstoffe aus England und der Schweiz,
Bier aus München und Bremen, deutsche und englische Trikotwaren,
sterilisierte Milch aus Mecklenburg und Holland, eingemachte Früchte aus
Lenzburg und aus Kalifornien. In der holländischen Buchhandlung sind
Übersetzungen der übelsten Kolportageromane aller Sprachen zu haben,
Multatulis Havelaar aber nicht. Für den Gebrauch der Weißen sind die
abgelegtesten Geschenkartikel aus europäischen Kleinstadtläden da, die
Natives werden durch japanische Schundgeschäfte mit deutscher und
amerikanischer Talmiware versehen. Tausend Meter davon entfernt holt
sich der Tiger Ziegen und wühlt der Elefant die Stangen der
Telegraphenleitung zuschanden. Über dem sumpfigen, von herrlichen
Wasservögeln, Reihern und Adlern wimmelnden Lande und unter den Kanälen
durch fließt unsichtbar und still, Hunderte von Meilen weit her, immerzu
das rohe Petroleum in Eisenröhren nach den Raffinerien der Stadt. Einen
alten chinesischen Seidenschal kaufte ich hier für das Anderthalbfache
der Summe, die der Händler für eine Zwölfdutzendschachtel europäischer
Stahlfedern verlangte. Und komischerweise lebt man in den zollfreien
englischen Hafenstädten Penang und Singapur oder Colombo fast doppelt so
teuer als hier bei den überaus hohen holländischen Zöllen, die den
Handel lahmlegen, wie denn überall der holländische Kolonialbetrieb ein
wenig den Eindruck einer kurzsichtigen Ausbeutung der Natives macht.
Hingegen ist die niederländisch-indische Reistafel zwar nicht immer
glänzend, aber sie ist noch im schlimmsten Falle ein Paradies im
Vergleich mit dem Essen, das die Engländer in den teuren Prachthotels
ihrer Kolonien sich vorsetzen lassen. Schade, die Engländer wären
weitaus das erste Volk der Erde, wenn ihnen nicht zwei elementare und
für ein Kulturvolk kaum zu entbehrende Talente fehlten: der Sinn für
feine Küche und der Sinn für Musik. In diesen beiden Punkten erwarte man
in englischen Kolonien das geringste; alles andere ist erster Klasse.
Das Volk hat hier jene furchtsam kriechende Unterwürfigkeit, die der
europäische Beamte und Kaufmann schätzt, die unsereinem aber
gelegentlich störend auffällt. Indessen ist der geknechtete Malaye
äußerst flink im Übernehmen europäischer Bequemlichkeiten, Genüsse und
Herrenmanieren. Der Kuli, den du vor einer Stunde in seiner dienstbaren
Dürftigkeit tief bedauert hast, begegnet dir stolz im weißen Anzug (der
vielleicht dir gehört und den dein Wäscher ihm vermietet hat) auf dem
gemieteten Zweirad, die Stunde für zehn Cents, und tritt herrisch als
Habituee in gelben Schuhen und mit brennender Zigarette in den
Billardsaal. Nachher geht er in seine Hütte zurück, zieht den Sarong
wieder an, macht sichs bequem und putzt auf der hölzernen Treppe am Ufer
seine Zähne im Kanalwasser genau an derselben Stelle, an der er eine
Minute zuvor seine Notdurft verrichtet hat.


Wassermärchen

Mit einer geliebten Frau möchte ich den Weg noch einmal machen, den ich
gestern von Palembang aus in der kleinen, schmalen Prauw gefahren bin.
Wir fuhren in dem schwankenden Bötchen, das keine Handbreite Tiefgang
hat und darum das kleinste Rinnsal noch befahren kann, eines der
schmalen, braunen Seitenflüßchen hinauf, gegen Abend noch mit der Flut.
Da war zwischen den Pfahlhütten das gewohnte unschuldig bewegte Leben,
Netzfischerei jeder Art, worin die Malayen wie im Vogelfangen und im
Rudern wahre Meister sind, nacktes, schreiendes Kindergewimmel, kleine,
schwimmende Händler mit Sodawasser und Syrup, leise rufende Verkäufer
von Koranen und winzigen mohammedanischen Andachtsbüchlein, badende
Buben. Streitende sieht man hier selten, Betrunkene nie, und der
Reisende aus dem Westen schämt sich, daß dies ihm auffällt.
Wir fuhren gemächlich weiter, der Bach ward schmal und seicht, die
Hütten hörten auf, Sumpf und Busch umgab uns grün und schweigend, Bäume
standen da und dort am Ufer und im Wasser selbst. Sie wurden unmerklich
zahlreicher, streckten tausendfältige Wurzelstelzen nach uns aus, und
über uns hing dichter und dichter ein grünes Netz und Gewölbe von Laub
und Geäst. Bald war kein Baum mehr einzeln zu erkennen, jeder hing mit
Wurzeln und Luftwurzeln, mit Ästen, Zweigen und Schlingpflanzen in die
anderen verstrickt und verwoben, alle von hundert Farren, Lianen und
andren Schmarotzerpflanzen gemeinsam umarmt und verbunden.
In dieser stillen Wildnis flog zuweilen farbenblitzend ein Eisvogel auf,
die hier in Menge nisten, oder grau huschend eine kleine Schnepfe oder
schwarz und weiß wie eine Elster der fette, amselartige Singvogel des
Urwaldes, sonst war kein Laut und kein Leben da als das innige Wachsen,
Atmen und Ineinanderdrängen des dicken Baumgewölbes. Der Bach, oft kaum
noch breiter als unser Boot, beschrieb in jeder Minute einen neuen,
launenhaften Bogen, jedes Gefühl für die Maße und Entfernungen ging
vollständig unter, wir fuhren betroffen und still durch eine wirre,
grüne Ewigkeit dahin, vom Baumgewirre dicht überwölbt, von
großblättrigen Wasserpflanzen umdrängt, und jeder saß stumm und staunte,
und keiner dachte daran, ob und wann und wie dieser Zauber wieder könnte
gebrochen werden. Ich weiß nicht mehr, ob er eine halbe Stunde, oder
eine Stunde, oder zwei Stunden gedauert hat.
Er wurde unversehens gebrochen durch ein wildes, vielstimmiges Gebrüll
über unseren Köpfen und durch heftiges Wipfelschwanken, und alsbald
glotzte eine Familie von großen, grauen Affen uns an, beleidigt und
gestört durch unser Eindringen. Wir hielten an und blieben regungslos,
und die Tiere begannen wieder zu spielen und sich zu jagen, und eine
zweite Familie kam dazu, und wieder eine, bis über uns das Dickicht von
großen, langschwänzigen, grauen Affen wimmelte. Zuweilen schauten sie
wieder erbost und mißtrauisch herunter, schnoben zornig und knurrten wie
Kettenhunde, und als wohl über hundert von den Tieren da über uns saßen
und wieder zu schnauben und aus nächster Nähe die Zähne zu fletschen
anfingen, da gab unser Palembanger Freund uns lautlos ein warnendes
Zeichen mit dem Finger. Wir hielten uns behutsam still und hüteten uns,
auch nur an einen Ast zu streifen, denn in Busch und Sumpf eine Stunde
von Palembang von einem Affenvolk erwürgt zu werden, hätte jedem von uns
ein vielleicht nicht schändliches, doch aber ein unfeines und
unrühmliches Ende geschienen.
Vorsichtig tauchte unser Malaye sein kurzes, leichtes Ruder ein, und
still und geduckt fuhren wir sorgsam zurück, unter den Affen und unter
den vielen Bäumen durch, an den Hütten und Häusern vorüber, und als wir
den großen Strom wieder erreicht hatten, war die Sonne schon
untergegangen und aus der rasch einbrechenden Nacht glänzte die
zauberhafte Stadt zu beiden Seiten des gewaltigen Wassers mit tausend
kleinen, schwachen Lichtern her.


Die Gräber von Palembang

An jedem schönen Vormittag verließ ich die Stadt gleich nach dem
Frühstück und blieb zwei, drei Stunden im Freien draußen, um reine Luft
zu atmen, Grün zu sehen und gelegentlich einen Schmetterling zu fangen.
Alle diese Städte, auch das große Singapur, liegen ganz von Dörfern,
Weilern, Höfen und primitivster Ländlichkeit umgeben und lösen sich
still und ohne Umriß in die fruchtbare grüne Wildnis auf. Eben erst
warst du noch in einer dröhnenden Straße mit Geschäftshäusern,
Lastwagen, ausrufenden Händlern und zigarettenrauchenden Lausbuben, du
bist in einen stilleren Seitenweg eingebogen, wo helle freundliche
Bungalows vereinzelt weitab von der Straße in Gärten stehen, und
unversehens fühlst du dich, wunderlich erwachend, vollkommen auf dem
Lande, wirst von weidenden Ziegen oder Kühen beschnobert oder hörst im
wilden Gehölz die Sprünge der Affen rauschen.
In Palembang führte mein Spazierweg meistens am Fischmarkt vorbei,
vorüber am grausigen Anblick lebend umherliegender Fische jeder Art und
in Massen aufgehäufter abgehauener Fischköpfe, und an den Häusern und
Magazinen der Großhändler hin bis zu einer alten Moschee, immer parallel
mit dem Flusse, und von da rechtwinklig landeinwärts, und schon hier
begann die typische Mischung von Dorfleben und Buschwildnis. Schönes
kleines Rindvieh weidet überall, kreuzt sorglos die Fahrstraße und ist
sehr zutraulich. Auf der Straße geht zu manchen Stunden ein starker
Verkehr, Fußgänger und Lastträger, sehr viele Zweiräder, Ponywagen und
auch schon Automobile. Zehn Meter davon, im dichten Busch, ist man in
vollkommener Urwildnis, von Eichhörnchen und Vögeln in Menge umschwärmt,
von Affen beknurrt und gelegentlich durch ungeheure, zum Teile giftige
Tausendfüßler und Skorpione erschreckt. Wer sich auskennt, kann hier
auch häufig Tigerspuren finden.
Nirgends aber kann man hundert Meter gehen, ohne auf Gräber zu stoßen.
Überwachsen und vergessen liegen überall die Malayen- und Arabergräber,
den unseren ganz ähnlich, die neueren mit welken Grasbüscheln
geschmückt, die von den Mohammedanern am Freitag dort niedergelegt
werden. Manchmal ist eine kleine Begräbnisstätte von einer Mauer
umgeben, deren Portal mit edlem Bogen und fein profilierten Pfeilern,
von hohen Gräsern umwachsen und von riesigen Bäumen überhangen, schattig
und vereinsamt in seiner romantischen Verwahrlosung steht, so schön und
nobel wie nur irgendein feiner stiller Ruinenwinkel in Italien.
Dazwischen kommt immer wieder, riesig und mit großen goldenen Buchstaben
an den Pfeilern leuchtend, ein Chinesengrab, eine ummauerte
Halbkreisterrasse am Abhang von fünf, zehn, zwanzig Metern Durchmesser,
je nach Bedeutung und Reichtum des Beerdigten, in der schön
emporgeschweiften Mauer blau und golden die Inschriften, das Ganze
kostbar, feierlich und schön wie alles Chinesenwerk, ein wenig kühl und
leer vielleicht, und überall rechts und links darum her und in den
Lüften darüber aufgeschossen dicke Busch- und Baumwirre.
Manche von den mohammedanischen Grabanlagen werden früheren Sultanen
zugeschrieben, dort sind einige der Mauerportale so schön und in sich
abgewogen wie die allerbeste Renaissance. Man ist erstaunt, das auf
Sumatra zu finden, aber man erstaunt noch mehr, wenn man hört, daß eine
verschwommene alte Palembanger Sage behauptet, hier liege Alexander der
Große begraben. Bis hierher sei er gekommen und hier sei er gestorben.
Mir fiel dabei das Gespräch ein, das ein Freund von mir in Italien am
Trasimener See mit einem Fischer hatte. Der Fischer erzählte
Ungeheuerliches von der blutigen Schlacht, die hier vor langen Zeiten
der große General Hannibal geschlagen habe, und als mein Freund weiter
fragte, gegen wen denn Hannibal damals gefochten habe, wurde der Mann
unsicher, meinte dann aber ziemlich bestimmt, es werde wohl Garibaldi
gewesen sein.
Bei den Gräbern vor Palembang habe ich schöne wunderliche Stunden
hingebracht, allein in dem krausen grünen Busch, von den großen
Schillerfaltern umflogen, auf die vielen Rufe der Waldtiere und die
wilden, phantastischen Gesänge großer Insekten horchend. Ich saß
ausruhend und von der Hitze erschöpft auf den niederen Mauern der
Chinesengräber, die so groß und fest und reich gebaut sind und doch vom
wilden Leben und Wachstum dieses Bodens alle bald überholt, bezwungen
und zugedeckt werden. Ich wurde von schwarzen und weißen Ziegen und von
kleinen, sanften, rotbraunen Kühen besucht und betrachtet, oder von Rast
haltenden Affen still beäugt, oder von umherschwärmenden Malayenkindern
mit Scheu und Neugierde umringt. Ich kannte nur wenige von den Bäumen
und Tieren, die ich um mich sah, mit Namen, ich konnte die chinesischen
Inschriften nicht lesen und konnte mit den Kindern nur zehn Worte reden,
aber ich habe mich nirgendwo in der Fremde so unfremd und so von der
Selbstverständlichkeit und vom klaren Fluß alles Lebens umschlossen
gefühlt wie hier.


Maras

Wer eine Zeitlang in Palembang war und auf der Rückseite des Hotel
Nieukerk nach dem schwärzlichen Kanälchen hinaus gewohnt hat, vom
Gestank und von den Moskitos verfolgt und ohne die Möglichkeit in reinem
Wasser zu baden, der verfällt schließlich einem brennenden Verlangen
nach Abreise, einerlei wohin, und beginnt die Stunden bis zum nächsten
Schiffstermin zu zählen. Seit einem Monat ohne Post, fiebernd von
Schlaflosigkeit, ermüdet vom Leben der sonderbaren Stadt, von der Hitze
und dem Mangel an Bädern erschlafft, hatte ich mir einen Platz auf dem
chinesischen Dampfer „Maras“ bestellt, der am Freitag früh ankommen und
im Laufe des Sonnabends wieder nach Singapur abgehen sollte, und nun lag
ich hoffend unterm Moskitonetz und wartete den Freitag Morgen ab. Zu
lesen hatte ich längst nichts mehr, meine große Kiste stand in Singapur,
die Nachrichten von Hause blieben Woche um Woche aus, ich konnte nichts
tun, als mich täglich in der Stadt herumtreiben, bis ich ermüdet war,
und dann viele Stunden liegen und warten, im Notizbuch blättern und
malayische Vokabeln lernen. Aber nun war ein Schiff in Aussicht, noch
einen Tag oder zwei, dann würde ich abfahren können, und bald würde, wie
tröstliche Erfahrungen uns lehren, alles Widerwärtige dieser Tage in der
Erinnerung einschrumpfen und vergehen und nur das viele Schöne, Bunte,
freudig Erlebte bleiben.
Allein der Freitag Morgen und auch der Nachmittag verging, ohne daß der
„Maras“ kam, auch während der Nacht zum Sonnabend lauschte ich
vergeblich alle die vielen Stunden lang auf das Pfeifen eines
einlaufenden Schiffes, und der ganze Sonnabend verging ebenso, und erst
am Sonntagmorgen kam die Nachricht, es sei nun da und wenn es nicht zu
viel regne, werde man vielleicht morgen abfahren.
Am Sonntag war ich von früh bis abends auf dem Flusse unterwegs. Ich
hatte mich einer Krokodiljagd angeschlossen und saß mit einem schweren
alten holländischen Militärgewehr auf den Knien, die Augen von der Hitze
und dem Sonnenreflex des Stromes brennend, im kleinen Boot auf der
Lauer. Aber an solchen Tagen hat man kein Glück; wir kamen nie zum Schuß
und mußten bei dem viel zu hohen Wasserstande froh sein, daß wir
wenigstens einige Krokodile zu sehen bekommen hatten.
Einerlei, morgen ging mein Schiff, und dann konnten mir alle Krokodile
von Sumatra –. Bei der Rückkehr nach der Stadt erfuhr ich, der „Maras“
würde vielleicht morgen früh abfahren, vielleicht auch nachmittags oder
abends, und ich packte meine Koffer mit suggestiver Gründlichkeit und
Liebe. Der „Maras“, der am Morgen nicht gefahren war, fuhr auch am
Nachmittag nicht, aber es wurde mir mitgeteilt, ich könnte abends an
Bord gehen und müsse spätestens um zehn Uhr da sein, wenn ich mitreisen
wolle.
An mir sollte es nicht fehlen, ich fuhr um neun Uhr durch die dicke
Nacht (wir haben ja in Europa gar keine Ahnung von richtiger
Nachtfinsternis!) nach dem Schiff, suchte und fand in der laternenlosen
Dunkelheit tastend über fremde Boote und schlafende Ruderkulis hinweg
für mich und mein Gepäck einen Weg zur unbeleuchteten Falltreppe und
turnte hoffnungsvoll empor. Das Schiff war stark geladen, die Innenräume
alle voll Yeloton und Baumwolle, aber es lagen noch zwanzig und mehr
Lastboote voll Rottang beim Schiff, und so wurde weiter geladen, hundert
Kulis schwärmten auf dem überfüllten dunkeln Deck, wo ich über Kisten
und Balken klettern mußte, und wenn sie einer von den wenigen Laternen
nahe kamen, glänzten ihre nackten, gelben, schweißbedeckten Körper warm
aus dem finsteren Getümmel.
Es war ein holländischer Kapitän da und ich bekam eine Kabine, aber sie
war so heiß wie ein Dampfbad und als ich die Stiefel auszog, merkte ich
alsbald die Ursache: der Fußboden war von den benachbarten Heizräumen
her so heiß, daß mir die Sohlen schmerzten. Die Luke war ein wenig
größer als das Zifferblatt einer Taschenuhr. Dagegen war ein
elektrischer Ventilator und elektrisches Licht da, die aber seit Jahren
nicht mehr funktionierten, und der Raum wurde durch eine kleine rußende
Erdölampel erleuchtet.
Von einer Stunde zur andern wurde die Abfahrt erwartet und verheißen,
ich blieb bis nach ein Uhr steif vor Müdigkeit auf einem Stuhl am
Oberdeck sitzen und schaute betäubt aus geschwollenen Augen in das
Schiff, ging dann in die Kabine und legte mich nieder, hörte den Schweiß
in schweren Tropfen von meiner herabhängenden Hand zu Boden fallen,
stand wieder auf und rauchte eine Zigarre draußen im Regen zwischen den
Kulis, irrte im dunkeln Schiff umher, fiel über Schlafende, warf einen
Käfig mit lebenden Affen um, stieß mich an Kistenecken und fand mich bei
Tagesanbruch zerstört und erschöpft an Oberdeck wieder.
Früh um sechs Uhr hatte ich noch niemals in meinem Leben Bordeaux
getrunken und starke indische Zigarren geraucht. Heute tat ich es, und
nun kann ich schon wieder fast ohne Schmerzen und Anstrengung die Augen
offen halten.
Jetzt, wo ich diese Notizen aufschreibe, fährt das Schiff. Es fährt seit
einer Stunde, seit Mittag, und ich täte gern irgend etwas anderes als
schreiben, wenn das nicht eben das einzige wäre, was mir übrig bleibt.
Die Kabine ist unmöglich, mehr als ein Stuhl steht mir an Deck nicht zur
Verfügung, und höre ich mit Schreiben auf, so kommt der Kapitän und will
mich in eine Unterhaltung ziehen. Er ist ein sympathischer Mann und hat
seine Frau mit an Bord. Sie wohnen am Oberdeck in der Kapitänskabine. Er
hat eine ungeheure Briefmarkensammlung und einen räudigen chinesischen
Hund, der leider untreu ist und sich zu mir hält, und die Frau hat fünf
junge Katzen und zehn oder elf Singvögel in Käfigen. Außerdem haben wir
vier lebendige Affen (dieselben, die ich in der Nacht umgeworfen habe)
an Bord, von denen der kleinste ganz zahm ist und sich von mir anfassen
und streicheln läßt. Leider stinken sie teuflisch.
Wir fahren langsam flußabwärts und werden abends die See erreichen und
vielleicht in etwa 32 Stunden in Singapur sein.
_Nachtrag am Abend_ ... Ich nehme alles zurück. Als ich zu schreiben
aufhörte, ward ich von niemand belästigt, vielmehr zu einem recht guten
Mittagessen aufgefordert. Nachher machte mir die Kapitänsfrau vorn am
Oberdeck ein Feldbett zurecht, wo ich zwei Stunden ruhen konnte. Da sah
alles gleich wieder besser aus. Der chinesische Hund ist, glaube ich,
nicht räudig; er hat nur, wie ja fast alle Hunde in den Tropen, den
Haarschwund, wird von hinten her kahl, was schade ist, denn er muß
früher, den Resten nach zu schätzen, ein ganz hübscher rotblonder Kerl
gewesen sein. Die Kabinenluke ist beinahe so groß wie das Zifferblatt
einer bescheidenen Wanduhr; die Taschenuhr war eine Übertreibung.
Ich habe mich tüchtig eingeseift und mit Flußwasser begossen, das erste
frische Bad seit zehn Tagen! Nun kann ich wieder ohne Mühe aus den Augen
sehen. Es ist abends fünf Uhr und schon dämmerig, wir sind in der weiten
Flußmündung angekommen, vor uns liegt hellgelb das seichte Meer, der
Pilot arbeitet am Steuer und kann uns nun bald verlassen. Gegenüber
steht mit langen hohen Bergketten schön und ganz tiefblau die Insel
Banca.
_Nachtrag nachts zehn Uhr_ ... Der Hund ist doch räudig, die Berührung
mit ihm hat mich zwei von meinen kostbaren Sublimatpastillen gekostet.
Außer ihm, den Katzen, Vögeln und Affen sind noch zwei Gürteltiere, ein
Stachelschwein und ein junger schöner Jaguar an Bord, alle lebend. Sie
sind in Käfige gesperrt, aber sie haben weit mehr Luft als ich in meiner
Kabine. Das Abendessen war sehr gesellig, die Kapitänin besitzt ein
großes, heftig wirkendes Grammophon, das wurde mir zur Ehre losgelassen,
Dollarprinzessin und Caruso. Alle Europäer in den Tropen haben
Grammophone, und so bin ich denn schon vor der Rückkehr nach Singapur
wieder von der operettenhaften Atmosphäre umgeben, die mir seit dem
Betreten des Lloydschiffes in Genua als das Charakteristikum des
Europäerlebens im Osten erscheint.


Spaziergang in Kandy

Das berühmte Kandy liegt in einem bedrückend engen Tal an einem
unglücklichen, künstlichen See und hat außer seinem alten Tempel und
seinem freilich wunderbar schönen Baumwuchs keine Verdienste, wohl aber
alle Laster und Mängel eines von allzu reichen Engländern systematisch
verdorbenen Fremdenstädtchens. Dafür aber führen von Kandy weg nach
allen Seiten die schönsten Spazierwege der Welt in eine wundervolle
Landschaft hinaus. Leider sah ich dies alles trotz einem längeren
Aufenthalt nur halb, die Regenzeit hatte sich verspätet, und Kandy lag
beständig in einem tiefen Regengrau und Nebelbrei, wie ein
Schwarzwaldtal im Spätherbst.
Im leise strömenden Regen schlenderte ich eines Nachmittags durch die
ländliche Malabar Street und hatte mein Vergnügen am Anblick der
halbnackten singhalesischen Jugend. Ein atavistisches Behagen und
Heimatgefühl, das ich zu meiner Enttäuschung der typisch-tropischen
Landschaft gegenüber nie empfunden habe, empfand ich doch jedesmal beim
Anblick unbekümmert primitiven Naturmenschentums; das gedeiht und
vegetiert hier in Indien noch weit schöner und ernsthafter als etwa in
Italien, wo wir sonst die „Unschuld des Südens“ suchen. Namentlich fehlt
hier im Osten völlig die wahnsinnige Wichtigtuerei und Freude am
brutalen Lärm, mit der in den mittelländischen Küstenstädten jeder
Zeitungsjunge und Streichholzhausierer sich als schallenden Mittelpunkt
der Welt kundgibt. Die Indier, Malayen und Chinesen füllen die
unzähligen Straßen ihrer volkreichen Städte mit einem intensiven,
bunten, starken Leben, das dennoch mit fast ameisenhafter
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