Kurgast: Aufzeichnungen von einer Badener Kur - 2

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gichtische Ansätze und ein etwas tadelnswerter Zustand der ganzen
Muskulatur. Eine kleine Pause trat in unsrer Unterhaltung ein, während
der Doktor sich wieder die Hände wusch.
Wie erwartet, trat in diesem Augenblick die Wende ein, das neutrale
Gebiet wurde verlassen, mein Partner ging zur Offensive über, mit der
vorsichtig akzentuierten, mit scheinbarer Nachlässigkeit hingelegten
Frage: „Glauben Sie nicht, daß Ihre Leiden zum Teil auch psychisch
mitbestimmt sein könnten?“ Also da standen wir nun, das Erwartete,
Vorausgewußte war eingetroffen. Der objektive Befund rechtfertigte nicht
ganz den von mir gemachten Aufwand an Leiden, es war ein verdächtiges
Plus an Sensibilität da, meine subjektive Reaktion auf die
Gichtschmerzen entsprach nicht dem vorgesehenen Normalmaße, ich war als
Neurotiker erkannt. Also wohlauf, in den Kampf!
Ebenfalls vorsichtig, ebenfalls wie beiläufig erklärte ich, daß ich
nicht an „psychisch mitbestimmte“ Leiden und Zustände glaube, daß in
meiner persönlichen Biologie und Mythologie das „Psychische“ nicht eine
Art von Nebenfaktor neben der Physis sei, sondern die primäre Macht, daß
ich also jeden Lebenszustand, jedes Gefühl von Lust und Leid, auch jede
Krankheit, jeden Unglücksfall und Tod als psychogen, als aus der Seele
geboren ansehe. Wenn ich an den Fingergelenken Gichtknoten ansetze, so
ist es meine Seele, ist es das ehrwürdige Lebensprinzip, das Es in mir,
das im plastischen Material sich zum Ausdruck bringt. Wenn die Seele
leidet, so kann sie das sehr verschieden ausdrücken, und was sich bei
dem einen als Harnsäure gestaltet und den Abbau seines Ich vorbereitet,
das kann bei einem andern als Trunksucht dieselben Dienste tun, bei
einem dritten sich zu einem Stück Blei verdichten, das plötzlich in
seine Hirnschale einbricht. Dabei gab ich zu, daß die Aufgabe und
Möglichkeit des helfenden Arztes sich wohl in den meisten Fällen damit
begnügen müsse, die materiellen, also sekundären Veränderungen
aufzusuchen und sie mit ebenfalls materiellen Mitteln zu bekämpfen.
Auch jetzt noch rechnete ich durchaus mit der Möglichkeit, vom Doktor
sitzen gelassen zu werden. Er würde zwar nicht geradezu sagen: „Sehr
Geehrter, was Sie da reden, ist Blödsinn“, aber er würde vielleicht mit
einem um einen Grad zu nachsichtigen Lächeln mir zustimmen, ein banales
Wort über den Einfluß der Stimmungen, zumal auf eine Künstlerseele,
sprechen und würde außer diesen Posthaltern vielleicht auch noch gar das
fatale Wort „Imponderabilien“ hervorholen. Dies Wort ist ein
Probierstein, eine zarte Wage für geistige Maße, welche der
Durchschnitts-Wissenschaftler schon „imponderabel“ nennt. Er braucht
nämlich dies bequeme Wort stets da, wo es sich um das Messen und
Beschreiben von Lebensäußerungen handelt, für welche nicht nur die
vorhandenen materiellen Meßapparate zu grob, sondern auch die
Gewilltheit und Fähigkeit des Sprechenden zu klein ist. Der
Nurwissenschaftler weiß ja meistens wenig, er weiß unter andrem nicht,
daß es gerade für die flüchtigen, beweglichen Werte, die er imponderabel
nennt, außerhalb der Naturwissenschaft alte, hochkultivierte Meß- und
Ausdrucksmethoden gibt, daß sowohl Thomas von Aquin wie Mozart, jeder in
seiner Sprache, gar nichts anderes getan haben, als sogenannte
Imponderabilien mit einer unerhörten Präzision zu wägen. Konnte ich von
einem Badearzt, sei er auch auf seinem Gebiete ein Phönix, dies zarte
Wissen erwarten? Ich tat es aber doch, und siehe, ich wurde nicht
enttäuscht. Ich wurde verstanden. Der Mann erkannte, daß ihm in mir
nicht eine fremde Dogmatik entgegentrete, sondern ein Spiel, eine Kunst,
eine Musik, bei welcher es kein Rechthaben und Streiten mehr gebe, nur
ein Mitschwingen oder Versagen. Und er versagte nicht, ich wurde
verstanden und anerkannt, anerkannt nicht als Rechthabender natürlich,
der ich ja nicht bin noch sein will, aber als Suchender, als Denkender,
als Antipode, als Kollege von einer anderen, weit entlegenen, aber
ebenfalls vollgültigen Fakultät.
Und jetzt stieg meine gute Laune, gehoben schon durch die für Blutdruck
und Atmung erhaltene Zensur, bis in die höheren Grade. Mochte es nun mit
dem Regenwetter, mit der Ischias, mit der Kur gehen wie es mochte, ich
war nicht den Barbaren ausgeliefert, ich stand einem Menschen, einem
Kollegen, einem Manne von elastischer und differenzierter Mentalität
gegenüber! Nicht, daß ich darauf gerechnet hätte, häufig und lang mit
ihm zu sprechen, Probleme mit ihm durchzusieben. Nein, dies war nicht
nötig, wenn auch als angenehme Möglichkeit zu werten; es genügte, daß
der Mann, dem ich für einige Zeit Gewalt über mich einräumte und
Vertrauen schenken mußte, in meinen Augen das menschliche Reifezeugnis
besaß. Mochte der Doktor mich heute noch für einen zwar geistig
regsamen, doch leider etwas neurotischen Patienten ansehen,
möglicherweise kam einmal die Stunde, wo er auch die oberen Stockwerke
meines Gebäudes öffnen würde, wo mein eigentlicher Glaube, meine
eigenste Philosophie mit der seinen in Spiel und Wettkampf treten würde.
Auch meine Theorie des Neurotikers, fußend auf Nietzsche und Hamsun,
würde dabei vielleicht einen Schritt weiter kommen. Aber einerlei, daran
war nicht viel gelegen. Der neurotische Charakter nicht als Krankheit,
sondern als ein zwar schmerzhafter, doch höchst positiver
Sublimierungsprozeß gesehen – das war ein hübscher Gedanke. Es war
jedoch einzig wichtig, ihn zu leben, nicht ihn zu formulieren.
Zufrieden und mit zahlreichen Kurvorschriften versehen, nahm ich vom
Arzte Abschied. Der Zettel, den ich in der Brieftasche trug und dessen
Befolgung morgen in aller Frühe beginnen sollte, verhieß mir mancherlei
heilsame und amüsante Dinge: Bäder, Trinkkur, Diathermie, Quarzlampe,
Heilgymnastik. Also mit der Langeweile kann es nicht allzu schlimm
werden.
Daß auch der Abend meines ersten Kurtages schön und freundlich verlief
und zu seiner Blüte kam, ist das Verdienst meines Wirtes. Das
Abendessen, das sich zu meinem Staunen als ein Festmahl edlen Stils
entfaltete, brachte solche gaumenschmeichelnde, mir seit Jahren nicht
mehr bekannte Platten, wie Gnocchi mit Geflügelleber, Irish Stew,
Erdbeereis. Und später saß ich, bei einer Flasche Rotwein, mit dem
Hausherrn in lebhaften Gesprächen in einer schönen altertümlichen Stube
an einem alten schweren Nußbaumtisch und hatte die Freude, in einem
fremden Menschen von andrer Herkunft, andrem Beruf, andrem Ehrgeiz und
andrem Lebensstil ein Echo zu finden, an seinen Sorgen und Freuden
teilnehmen zu können, viele meiner Anschauungen von ihm geteilt zu
sehen. Wir sangen einander keine hohen Gesänge vor, aber wir fanden
schnell Berührungsflächen und kamen einander mit der Offenheit entgegen,
die leicht zur Sympathie wird.
Auf einem kurzen Nachtgang vor dem Schlafengehen sah ich Sterne in den
Regenpfützen gespiegelt, sah im Nachtwind am Ufer des heftig rauschenden
Flusses ein paar außerordentlich schöne alte Bäume. Sie würden auch
morgen noch schön sein, aber in diesem Augenblick hatten sie die
magische, nicht wiederkehrende Schönheit, die aus unsrer eigenen Seele
kommt und die, nach den Griechen, nur dann in uns aufleuchtet, wenn Eros
uns angeblickt hat.


Tageslauf

Wenn ich es unternehme, den üblichen Verlauf eines Kurtages zu
beschreiben, so wähle ich dazu billigerweise einen durchschnittlichen
Tag, einen Tag ohne extremen Charakter, so einen halb bewölkten, halb
blauen Normaltag ohne besondere Ereignisse von außen und ohne besondere
Vorzeichen und Bezauberungen von innen. Denn natürlich gibt es hier, und
zwar nicht nur für nervöse Literaten, sondern für die ganze Schar der
Ischiatiker, je nach Stand und Verlauf der Kur, Tage voll Beschwerden
und Depression und leichte sanfte Tage des Wohlergehens und der
aufblühenden Hoffnung, Tage, an denen wir hüpfen, und solche, an denen
wir elend dahin schleichen oder hoffnungslos im Bett liegen bleiben.
Mag ich mir nun aber auch alle Mühe mit dem Konstruieren eines
wohltemperierten Durchschnittstages, eines normalen bürgerlichen
Plusminustages geben, ein für mich peinliches Geständnis bleibt mir
dennoch nicht erspart, denn jeder Tag, und gar ein Kurtag, fängt leider
mit einem Morgen an. Es hängt bei mir vermutlich mit meinem tiefsten
Mangel und Laster, dem schlechten Schlafen, zusammen und entspricht auch
sonst in jeder Hinsicht meinem Wesen, meiner Philosophie, meinem
Temperament und Charakter, daß ich mit dem von so viel wunderschönen
Gedichten gepriesenen Morgen gar nichts anzufangen weiß. Es ist eine
Schande, und es fällt mir schwer, es zu gestehen, aber welchen Sinn
hätte das Schreiben, wenn nicht der Wille zur Wahrheit dahinter stünde?
Der Morgen, die berühmte Zeit der Frische, des Neubeginns, des jungen
freudigen Antriebs, ist für mich fatal, ist mir verdrießlich und
peinlich, wir lieben einander nicht. Dabei fehlt es mir nicht am
Verständnis, am Einfühlungsvermögen für jene strahlende Morgenfreude,
wie sie in manchen Gedichten von Eichendorff und von Mörike so erweckend
und hell erklingt, ich empfinde in Gedichten, auf Gemälden und in der
Erinnerung den Morgen ebenso poetisch, und aus der Kindheit her ist mir
etwas wie halbverwischte Erinnerung an echte Morgenlust geblieben,
obwohl ich seit sehr vielen Jahren gewiß an keinem einzigen Morgen
wahrhaft froh gewesen bin. Und auch in das klingendste Bekenntnis zu
frischer Morgenlust, das ich kenne, in den von Wolf komponierten
Eichendorff-Vers „Der Morgen, der ist meine Freude“, höre ich einen
fernen Mißton klingen, denn so wunderbar es klingt, und so sehr
Eichendorffs Morgenstimmung mich überzeugt, ich kann an Hugo Wolfs
Morgenfreude doch nicht recht glauben und finde, er habe sich da eine
wehmütig poetische, sehnsüchtige, nicht erlebte Morgenverherrlichung
gestattet. Alles, was mein Leben schwer und heikel und zu einem
gefährlichen, ja häßlichen Problem macht, spricht am Morgen überlaut,
steht übergroß vor mir. Alles, was mein Leben süß und schön und
außerordentlich macht, alle Gnade, aller Zauber, alle Musik, ist am
Morgen fern und kaum sichtbar, klingt kaum noch wie Sage und Legende
herüber. Aus dem allzu seichten Grabe meines schlechten, kurzen, oft
unterbrochenen Schlafes erhebe ich mich am Morgen, nicht beflügelt mit
Auferstehungsgefühlen, sondern schwer, müde und zaghaft, ohne jeden
Schutz und Panzer gegen die einstürmende Umwelt, die meinen
empfindlichen Morgennerven all ihre Schwingungen wie durch einen
heftigen Vergrößerungsapparat mitteilt, mir ihre Töne durch ein Megaphon
zuheult. Erst von Mittag an wird das Leben wieder erträglich und gut,
und an glücklichen Tagen wird es am Spätnachmittag und Abend wunderbar,
strahlend, schwebend, innig durchglüht von zartem Gotteslicht, voll
Gesetz und Harmonie, voll Zauber und Musik, und entschädigt mich golden
für die tausend und tausend bösen Stunden.
An andrem Orte denke ich gelegentlich zu sagen, warum das Leiden an
Schlafmangel und an diesem Morgenweh mir nicht bloß als Krankheit,
sondern auch als Laster erscheint, warum ich mich seiner schäme und
dennoch empfinde, daß es so sein muß, daß ich diese Dinge weder
wegleugnen noch vergessen noch von außen her „heilen“ darf, sondern
ihrer als des Antriebes und immer erneuerten Stachels für mein
eigentliches Leben und seine Aufgabe bedarf.
Dies Eine nun hat der Badener Kurtag für mich vor den Tagen des
gewohnten Lebens voraus: während der Kur beginnt jeder Tag mit einer
wichtigen, zentralen Morgenpflicht und Aufgabe, und diese Aufgabe ist
leicht, ja angenehm zu erfüllen. Ich meine das Bad. Wenn ich morgens
erwache, einerlei um welche Stunde es sei, so steht als erste und
wichtigste Aufgabe vor mir nicht etwas Lästiges, nicht Ankleiden oder
Turnen oder Rasieren oder Postlesen, sondern das Bad, eine sanfte,
warme, reibungslose Angelegenheit. Mit einem leichten Schwindelgefühl
richte ich mich im Bett auf, setze durch einige vorsichtige Übungen die
eingerosteten Beine wieder in Betrieb, stehe auf, werfe den Schlafrock
über und schreite langsam durch den halbdunkeln, schweigenden Korridor
zum Lift, der mich durch alle Stockwerke bis in den Keller zu den
Badezellen führt. Hier unten ist es sehr schön. In den steinernen, sehr
alten, sanft hallenden Gewölben herrscht beständig eine wunderbare
weiche Wärme, denn überall rinnt das heiße Wasser der Quellen, ein
heimliches, wärmendes Höhlengefühl überkommt mich hier jedesmal, wie ich
es als kleiner Knabe hatte, wenn ich mir aus einem Tisch, zwei Stühlen
und einigen Bettvorlagen oder Teppichen eine Höhle errichtet hatte. In
meiner reservierten Badezelle erwartet mich das tiefe, in den Boden
versenkte, gemauerte Bassin voll heißen, eben aus den Quellen geronnenen
Wassers, ich steige langsam hinein, auf zwei kleinen Steinstufen, drehe
die Sanduhr um und tauche bis zum Kinn in das heiße strenge Wasser, das
ein wenig nach Schwefel riecht. Hoch über mir, am Tonnengewölbe meiner
massiv gemauerten Zelle, die mich sehr an eine Klosterzelle erinnert,
fließt Tageslicht dünn durch ein Fenster mit matten Scheiben; dort oben,
ein Stockwerk höher als ich, hinter dem Milchglas, liegt die Welt, fern,
milchig, kein Ton von ihr erreicht mich. Und um mich her spielt die
wunderbare Wärme des geheimnisvollen Wassers, das da seit tausend Jahren
aus unbekannten Küchen der Erde rinnt und beständig in schwachem Strahl
in mein Bad nachströmt. Nach der Vorschrift soll ich im Wasser meine
Glieder möglichst viel bewegen, Turn- und Schwimmbewegungen ausführen.
Pflichtgemäß tue ich dies auch, einige Minuten lang, dann aber bleibe
ich regungslos liegen, schließe die Augen, schlummere halb, sehe dem
stillen steten Rieseln der Sanduhr zu.
Ein welkes Blatt, durchs Fenster hereingeweht, ein kleines Blatt von
einem Baum, dessen Name mir nicht einfällt, liegt am Rande meines
Bassins, das sehe ich an, lese die Schrift seiner Rippen und Adern, atme
die so merkwürdige Mahnung der Vergänglichkeit, vor der wir schauern und
ohne welche doch nichts Schönes wäre. Wunderbar, wie Schönheit und Tod,
Lust und Vergänglichkeit einander fordern und bedingen! Deutlich fühle
ich, wie etwas Sinnliches, um mich her und in mir innen die Grenze
zwischen Natur und Geist. So wie Blumen vergänglich und schön sind, Gold
aber beständig und langweilig, so sind alle Bewegungen des natürlichen
Lebens vergänglich und schön, unvergänglich aber und langweilig ist der
Geist. Zu dieser Stunde lehne ich ihn ab, sehe den Geist keineswegs als
ewiges Leben, sondern als ewigen Tod, als das Erstarrte, Unfruchtbare,
Gestaltlose, das nur Gestalt und Leben werden kann unter Preisgabe
seiner Unsterblichkeit. Das Gold muß Blume, der Geist muß Leib und muß
Seele werden, um leben zu können. Nein, in dieser lauen Morgenstunde,
zwischen Sanduhr und welkem Blatt, will ich nichts vom Geiste wissen,
den ich zu andern Zeiten sehr verehren kann, ich will vergänglich, will
Kind und Blume sein.
Und daß ich vergänglich bin, daran erinnert mich, nach einer halben
Stunde Liegens in der warmen Flut, der Augenblick des Aufstehens. Ich
klingle dem Wärter, er erscheint und legt mir ein durchwärmtes Badetuch
bereit. Und jetzt erhebe ich mich im Wasser, und da fließt das Gefühl
der Vergänglichkeit mir schwächend durch alle Glieder, denn diese Bäder
ermüden sehr, und wenn ich mich nach einem Bad von dreißig oder vierzig
Minuten erheben will, so gehorchen Knie und Arme nur langsam und mühsam.
Aus dem Behältnis gekrochen, schlage ich das Tuch mir um die Schultern,
will mich tüchtig abreiben, will ein paar energische Bewegungen machen,
um mich zu ermuntern, kann es aber nicht, sondern sinke auf dem Stuhl
zusammen, fühle mich zweihundert Jahre alt und brauche lange, bis ich
mich dazu bringen kann, aufzustehen, Hemd und Schlafrock wieder
anzuziehen und zu gehen.
Ich gehe langsam, mit weichen Knien, durch die stillen Gewölbe, hinter
deren Zellentüren da und dort das Wasser rauscht, zur Schwefelquelle
hinüber, welche unter Glas zwischen gelblich beschlagenem Gestein
sprudelt und kocht. Eine rätselhafte Geschichte ist von dieser Quelle zu
berichten. Auf dem Rande ihrer steinernen Fassung stehen, zur Benutzung
für die Gäste, stets zwei Wassergläser, vielmehr, das ist eben die
Geschichte, sie stehen nicht da, sondern jeder Gast, wenn er dürstend
zur Quelle kommt, muß die Erfahrung machen, daß die beiden Gläser schon
wieder verschwunden sind. Man schüttelt alsdann den Kopf, soweit eben
ein Kurgast nach dem Bade eine solche Bewegung auszuführen vermag, man
ruft nach Bedienung, und es erscheint bald der Hausdiener, bald der
Kellner, bald ein Zimmermädchen oder eine Badewärterin, bald der
Liftboy, und sie alle schütteln ebenfalls den Kopf und begreifen nicht,
wohin nun schon wieder diese unheimlichen Gläser gekommen sind. Eiligst
wird jedesmal ein neues Glas gebracht, der Gast füllt es, trinkt es aus,
stellt es auf den Stein und geht – und wenn er in zwei Stunden wieder
kommt, um nochmals einen Schluck zu nehmen, ist wieder kein Glas da. Von
den Angestellten, welchen diese rätselhafte Glasgeschichte verdrießlich
ist und Mehrarbeit macht, stellt jeder seine eigene Erklärung für das
Schwinden der Gläser auf, welche jedoch alle nicht überzeugend wirken.
Der Boy zum Beispiel meinte naiv, die Gläser würden eben häufig von den
Gästen mit in ihre Zimmer genommen. Als ob sie da nicht täglich von den
Zimmermädchen wiedergefunden werden würden! Kurz, die Sache ist
unaufgeklärt, und nur mir allein ist es schon acht- oder zehnmal
passiert, daß man mir ein neues Glas holen mußte. Da unser Hotel etwa
achtzig Gäste hat und da diese Kurgäste, seriöse ältere Leute mit Gicht
und Rheumatismen, vermutlich keine Gläser stehlen, so nehme ich an, daß
es entweder ein pathologischer Sammler oder aber ein nicht menschliches
Wesen, ein Quelldämon oder Drache ist, welcher die Gläser wegnimmt,
vielleicht um die Menschen für die Ausbeutung der Quelle zu strafen, und
vielleicht findet einst ein im Kellergewölbe irrgelaufenes Sonntagskind
den Eingang zu einem verborgenen Schachte, wo ganze Gebirge von
Trinkgläsern angehäuft stehen, denn nach meinen vorsichtigen
Berechnungen müssen in einem einzigen Jahre mindestens zweitausend
Gläser sich dort ansammeln.
An dieser Quelle nun fülle ich mir ein Glas und trinke das warme
dickliche Wasser mit Vergnügen. Meist sitze ich dabei schon wieder und
kann dann nur schwer den Entschluß zum Wiederaufstehen finden. Ich
schleppe mich zum Lift, angenehme Vorstellungen von erfüllter Pflicht
und verdienter Rast im Hirn, denn mit dem Baden und Trinken habe ich
tatsächlich die wichtigsten Vorschriften des Tages erfüllt. Dagegen ist
es noch früh am Tage, höchstens sieben oder halb acht Uhr, manche
Stunden sind noch bis Mittag, und ich gäbe alles dafür, wenn ich einen
Zauber wüßte, Morgenstunden in Abendstunden zu verwandeln.
Für den Augenblick allerdings kommt mir wieder die Kurvorschrift zu
Hilfe, die mich nach dem Bade nochmals ins Bett befiehlt. Meiner dösigen
Bademüdigkeit entspricht dies sehr, aber um diese Tageszeit hat das
Leben im Hotel längst begonnen, die Dielen krachen unter den hastigen
Tritten der Zimmermädchen und Frühstückträgerinnen, und die Türen
fliegen. Da ist an Schlaf, außer für Minuten, nicht mehr zu denken, denn
jene Antiphone sind noch nicht erfunden, die das überwache, raffinierte
Ohr des Schlaflosen wirklich schützen.
Nichtsdestoweniger ist es angenehm, sich nochmals hinzulegen, die Augen
nochmals zuzutun, noch nicht an all die dummen Verrichtungen zu denken,
die der Morgen von uns verlangt: das dumme Anziehen, das dumme Rasieren,
das dumme Krawattenflechten, das Gutentagsagen, das Lesen der Post, das
Sichentschließen zu irgendeiner Tätigkeit, das Wiederaufnehmen der
ganzen Lebensmechanik.
Indessen liege ich im Bett, höre die Zimmernachbarn lachen, schimpfen,
gurgeln, höre die Korridorklingel rasseln und das Personal laufen und
sehe bald, daß es keinen Zweck hat, das Unvermeidliche länger
hinauszuschieben. Wohlan denn, friß, Vogel! Ich stehe auf, ich wasche
mich, ich rasiere mich, ich führe alle jene komplizierten Evolutionen
aus, welche erforderlich sind, um in die Kleider und Schuhe
hineinzukommen, ich würge mich in den Hemdkragen, stopfe die Uhr in die
Westentasche, schmücke mich mit der Brille, alles mit dem Gefühl des
Sträflings, der die Ordnung dieser vorgeschriebenen Verrichtungen seit
Jahrzehnten kennt und weiß, dies dauert lebenslänglich, es nimmt niemals
ein Ende.
Um neun Uhr erscheine ich, ein bleicher, lautloser Gast, im Speisesaal,
setze mich an meinen kleinen runden Tisch, begrüße stumm das hübsche,
fröhliche Mädchen, das mir Kaffee bringt, streiche eine Semmel mit
Butter, stecke eine andre in die Tasche, schneide die daliegenden
Briefumschläge auf, stopfe das Frühstück in meinen Schlund, die Briefe
in meine Rocktasche, sehe im Korridor einen gelangweilten Kurgast
herumstehen, der sich mit mir zu unterhalten wünscht und schon von
weitem einladend lächelt, auch schon zu reden beginnt, dazu noch
französisch, renne ihn kurz entschlossen über den Haufen, murmele
„Pardon“ und stürze auf die Straße hinaus.
Hier und im Kurgarten oder im Walde gelingt es mir nun, in der
wünschenswerten Isoliertheit den Morgen vollends herumzubringen.
Zuweilen glückt es mir, zu arbeiten, das heißt auf einer Bank im Park,
den Rücken gegen die Sonne und gegen die Menschen, einiges von den
Gedanken aufzuschreiben, die ich noch von den Nachtstunden her in mir
vorfinde. Meistens laufe ich spazieren und bin dann froh über die halbe
Semmel in meiner Tasche, denn es ist eine meiner besten Morgenfreuden
(der Ausdruck ist allerdings zu heftig), dies Brot zu verkrümeln und an
die vielen Finken und Meisen zu verfüttern. Ich denke dabei
grundsätzlich nicht daran, daß in Deutschland, ein paar Meilen von hier,
auch auf der reichen Leute Tisch kein solches Weißbrot liegt und
Tausende überhaupt kein Brot haben. Ich verwehre diesem Gedanken, der so
nahe steht, den Zutritt zu meinem Bewußtsein und finde dies Verwehren
oft recht anstrengend.
In Sonne oder Regen, arbeitend oder spazierend, irgendwie und irgendwo
habe ich schließlich den Vormittag abgewickelt, und es kommt die hohe
Stunde des Kurtages, das Mittagessen. Ich kann versichern, daß ich kein
Fresser bin, aber auch für mich, der die Freuden des Geistes und der
Askese kennt, ist diese Stunde feierlich und wichtig. Aber dieser Punkt
fordert eine eingehendere Betrachtung.
Es gehört, wie ich schon in der Vorrede angedeutet habe, zur Gemütsart
und Denkweise des nicht mehr jungen Rheumatikers und Gichtbrüchigen, daß
er die Unmöglichkeit eingesehen hat, die Welt geradlinig zu verstehen,
daß er Sinn und Achtung hat für die Antinomien, für die Notwendigkeit
der Gegensätze und Widersprüche. Manche von diesen Widersprüchen nun
bringt, ohne an ihre tiefe philosophische Grundlegung zu rühren, das
Badener Kurleben mit bewundernswerter Drastik zum Ausdruck. Viele
solcher Gleichnisse könnte man hier entdecken, ich erinnere nur, um
etwas recht Banales zu wählen, zum Beispiel an die vielen Ruhebänke,
welche überall in Baden aufgestellt sind: sie laden alle die rasch
ermüdenden, ihrer Beine nicht recht sicheren Kurgäste zum Absitzen und
Ausruhen ein, und allzu gerne folgt der Gast dem freundlichen Wink. Kaum
sitzt er aber eine Minute, so ringt er sich entsetzt wieder in die Höhe,
denn der menschenfreundliche Errichter all dieser vielen Sitzbänke, ein
tiefer Philosoph und Ironiker, hat ihre Sitzflächen aus Eisen
konstruiert, und der darauf niedersitzende Ischiatiker sieht sich an der
empfindlichsten Stelle seines kranken Leibes einem vernichtenden
Kältestrom ausgesetzt, welchen alsbald wieder zu fliehen der Instinkt
ihn treibt. So erinnert ihn die Bank daran, wie ruhebedürftig er ist,
und mahnt ihn eine Minute später ebenso deutlich daran, daß des Lebens
Kern und Quelle die Bewegung sei und daß einrostende Gelenke nicht so
sehr der Ruhe als des Trainings bedürfen.
Viele solcher Beispiele ließen sich finden. Monumentaler aber als in
allen andern kommt der Badener Geist, der sich stets in Antithesen
bewegt, zur Mittags- und Abendstunde im Speisesaal zum Ausdruck. Da
sitzen also Dutzende von kranken Menschen, von denen jeder seine Gicht
oder Ischias mitgebracht hat, von denen jeder einzig darum nach Baden
gekommen ist, um seine Beschwerden womöglich durch die Kur loszuwerden.
Jede einfache, geradlinige, jede jugendlich-puritanische Lebensweisheit
nun würde, auf klare und einfache Lehren der Chemie und Physiologie
gestützt, diesen Kranken neben den heißen Bädern vor allem eine
spartanisch einfache, fleischlose und alkoholfreie, reizlose Ernährung
dringendst anraten, womöglich sogar Fastenkuren. So jugendlich, so
einfach und einseitig aber denkt man in Baden nicht, sondern seit
Jahrhunderten ist Baden ebensosehr wie durch seine Bäder durch seine
üppige und köstliche Küche berühmt, und in der Tat gibt es wohl im Lande
wenige Orte und Gasthäuser, wo die Leute so gut und reichlich schmausen,
wie die Stoffwechselkranken in Baden es tun. Da werden die delikatesten
Schinken mit Dezaley, die saftigsten Schnitzel mit Bordeaux begossen,
zierlich schwimmt zwischen Suppe und Braten die blaue Forelle, und den
reichlichen Fleischgängen folgen wunderbare Kuchen, Puddings und Cremen.
Frühere Autoren haben diese uralte Badener Eigentümlichkeit verschieden
zu erklären versucht. Die hiesige hohe Küchenkultur zu verstehen und zu
billigen ist leicht; jeder der tausend Kurgäste tut es täglich zweimal;
sie zu erklären ist schwieriger, da die Ursachen sehr komplexer Natur
sind. Einige der wichtigsten nenne ich im folgenden, zuvor aber möchte
ich mit aller Entschiedenheit jene platt rationalistischen Begründungen
ablehnen, denen man so häufig begegnet. Oft zum Beispiel hört man
vulgäre Denker sagen, das gute Badener Essen, das im Widerspruch mit den
eigentlichen Interessen der Kurgäste steht, habe sich eben im Laufe der
Zeiten so ausgebildet und rühre von der Konkurrenz der verschiedenen
Badehotels her, denn Baden sei nun einmal seit alters für gutes Essen
bekannt und jeder Wirt habe das Interesse, hierin hinter den
Konkurrenten mindestens nicht zurückzustehen. Diese so wohlfeile und
oberflächliche Argumentation hält keiner Prüfung stand, schon weil sie
das Problem selbst umgeht und die Frage nach dem eigentlichen Entstehen
der guten Badener Küche durch den Hinweis auf Tradition und
Vergangenheit abtun will. Und am allerwenigsten kann uns der absurde
Gedanke genügen, die Gewinnsucht der Gastwirte sei schuld an dem guten
Essen! Als ob irgendein Wirt ein Interesse daran haben könnte, seine
Spesen für Metzger, Bäcker und Konditor möglichst zu vergrößern, und gar
hier in Baden, wo jeder Besitzer eines Badehotels seinen Gästemagneten,
seine große, nie erlahmende Attraktion seit Jahrhunderten unten im
Keller liegen hat in Gestalt der heißen Mineralquellen!
Nein, wir müssen wesentlich tiefer graben, um dem Phänomen eine Theorie
zu geben. Das Geheimnis liegt weder in Gewohnheiten und Traditionen der
Vergangenheit noch im Kalkül der Wirte, es liegt tief im Grunde des
Weltgefüges, als einer der ewigen, als gegeben hinzunehmenden Dualismen
und Antinomien. Wäre das Essen in Baden traditionell mager und spärlich,
so könnten die Wirte zwei Drittel ihrer Ausgaben sparen und hätten
dennoch die Häuser voll, denn ihre Gäste werden nicht vom Essen hierher
gezogen, sondern von den Zuckungen ihres _nervus ischiaticus_ hergejagt.
Aber nehmen wir nun einmal, probeweise, an, man lebe in Baden rationell,
man bekämpfe Harnsäure und Sklerose nicht bloß mit Bädern, sondern auch
mit Abstinenz und Fasten – was wäre die mutmaßliche Folge? Die Kurgäste
würden gesund werden, und in Bälde würde es im ganzen Lande keine
Ischias mehr geben, welche doch, gleich allen Formen der Natur, ihr
Recht auf Dasein und Dauer hat. Die Bäder würden entbehrlich, die Hotels
müßten verfallen. Und wenn man diesen letztern Schaden auch gering
achten wollte oder ersetzen könnte, so würde doch das Fehlen der Gicht
und Ischias im Weltplan, das Leerlaufen der köstlichen Quellen keine
Verbesserung der Welt ergeben, sondern das Gegenteil.
Nächst dieser mehr theologischen Begründung folge die psychologische.
Wer von uns Kurgästen wollte, neben den Bädern und Massagen, neben der
Sorge und Langeweile auch noch Fasten und Kasteien ertragen? Nein, wir
ziehen es vor, nur halb gesund zu werden und es dafür etwas
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