Kurgast: Aufzeichnungen von einer Badener Kur - 1

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Hermann Hesse
Gesammelte Werke


Kurgast

Aufzeichnungen
von einer Badener Kur
von
Hermann Hesse

S. Fischer / Verlag / Berlin

11. bis 14. Auflage 1925 / Alle Rechte vorbehalten
Druckleitung und Einbandentwurf: E. R. Weiß
Copyright 1925 by S. Fischer Verlag A.-G., Berlin

Den Brüdern
Josef und Franz Xaver Markwalder
gewidmet


Vorrede

Motto:
Müßiggang ist aller Psychologie Anfang.
Nietzsche
Man sagt von den Schwaben, daß sie erst mit vierzig Jahren gescheit
werden, und die Schwaben selber, im Selbstvertrauen nicht stark, sehen
das zuweilen als eine Art von Schande an. Es ist aber das Gegenteil, es
ist eine große Ehre, denn die vom Sprichwort gemeinte Gescheitheit (sie
ist nichts anderes als das, was junge Leute auch „Altersweisheit“
nennen, das Wissen um die großen Antinomien, um das Geheimnis des
Kreislaufs und der Bipolarität) dürfte auch unter den Schwaben, so
begabt sie sind, sich recht selten schon bei Vierzigjährigen finden.
Wenn man dagegen über die Mitte der Vierzig hinweg ist, man sei begabt
oder nicht, dann stellt sich jene Weisheit oder Mentalität des Alterns
ganz von selber ein, namentlich wenn noch das anhebende leibliche Altern
mit allerlei Mahnungen und Beschwerden nachhilft. Zu den häufigsten
dieser Beschwerden nun gehören Gicht, Rheumatismen und Ischias, und eben
diese Leiden sind es, welche uns Badegäste hierher nach Baden führen.
Das Milieu ist also jener Art von Mentalität, in welche auch ich jetzt
eingetreten bin, überaus günstig, und man gerät, so scheint mir, hier
ganz von selber, vom _genius loci_ geleitet, in eine gewisse skeptische
Frömmigkeit, einfältige Weisheit, in eine sehr differenzierte
Vereinfachungskunst, einen sehr intelligenten Anti-Intellektualismus
hinein, der ebenso wie die Wärme der Bäder und der Geruch des
Schwefelwassers als ein Spezifikum mit zu Baden gehört. Oder, kürzer
gesagt: Wir Kurgäste und Gichtiker sind ganz besonders darauf
angewiesen, das eckige Leben so rund wie möglich zu nehmen, fünfe gerade
sein zu lassen, uns keine großen Illusionen zu machen, aber dafür
hundert kleine sanfte Illusionen zu schonen und zu pflegen. Wir Kurgäste
in Baden haben, wenn ich nicht irre, jenes Wissen um die Antinomien
besonders nötig, und je steifer unsre Gebeine werden, desto dringender
bedürfen wir einer elastischen, zweiseitigen, bipolaren Denkart. Unsre
Leiden sind Leiden, aber sie sind nicht von jener heroischen und
dekorativen Art von Leiden, welche der Leidende ohne Einbuße an unsrer
Achtung für weltwichtig nehmen darf.
Wenn ich so rede, wenn ich meine persönliche Alters- und
Ischiatiker-Denkart zu einem Typus, zu einer allgemeinen Norm erhebe,
wenn ich so tue, als spräche ich hier nicht einzig in meinem Namen,
sondern im Namen einer ganzen Menschenklasse und Altersstufe, so ist mir
dabei, wenigstens für Augenblicke, wohl bewußt, daß dies ein starker
Irrtum ist und daß kein einziger Psychologe (er sei denn seelisch mein
Bruder und Zwilling) mein geistiges Reagieren auf Umwelt und Schicksal
als normal, als typisch anerkennen würde. Vielmehr würde er mich nach
kurzem Beklopfen leicht als einen leidlich begabten, nicht
internierungsbedürftigen Einzelgänger aus der Familie der Schizophrenen
erkennen. Ich mache indessen ruhig vom Gewohnheitsrecht aller Menschen,
auch der Psychologen, Gebrauch und projiziere nicht nur in die Menschen,
sondern sogar in die Dinge und Einrichtungen meiner Umgebung, ja, in die
ganze Welt meine Denkart, mein Temperament, meine Freuden und Leiden
hinein. Meine Gedanken und Gefühle für „richtig“, für berechtigt zu
halten, diesen Genuß lasse ich mir nicht rauben, obwohl die Umwelt mich
stündlich vom Gegenteil zu überzeugen sucht, ja, ich mache mir nichts
daraus, die Majorität gegen mich zu haben, ich gebe eher ihr unrecht als
mir. Damit halte ich es wie mit meinem Urteil über die großen deutschen
Dichter, welche ich darum nicht minder verehre, liebe und brauche, weil
die große Mehrzahl der lebenden Deutschen das Gegenteil tut und die
Raketen den Sternen vorzieht. Raketen sind hübsch, Raketen sind
entzückend, sie sollen hochleben! Aber Sterne! aber ein Auge und Gedanke
voll ihrer stillen Lichter, voll ihrer weit schwingenden Weltmusik – o
Freunde, das ist doch noch anders!
Und indem ich später kleiner Dichter es unternehme, die Skizze eines
Badeaufenthaltes zu entwerfen, denke ich an viele Dutzende von
Badereisen und Baden-Fahrten, welche von guten und von schlechten
Autoren geschrieben worden sind, und denke entzückt und verehrend an den
Stern unter all den Raketen, an das Goldstück unter all dem Papiergeld,
an den Paradiesvogel unter all den Sperlingen, an die Badereise des
Doktors Katzenberger, lasse mich indessen durch diesen Gedanken nicht
hindern, dem Stern meine Rakete, dem Paradiesvogel meinen Spatzen
nachsteigen zu lassen. Fliege denn, mein Spatz! Steige, mein kleiner
Papierdrache!


„Kurgast“


Der erste Tag

Kaum war mein Zug in Baden angekommen, kaum war ich mit einiger
Beschwerde die Wagentreppe hinabgestiegen, da machte sich schon der
Zauber Badens bemerklich. Auf dem feuchten Zementboden des Perrons
stehend und nach dem Hotelportier spähend, sah ich aus demselben Zug,
mit dem ich angekommen war, drei oder vier Kollegen steigen,
Ischiatiker, als solche deutlich gekennzeichnet durch das ängstliche
Anziehen des Gesäßes, das unsichere Auftreten und das etwas hilflose und
weinerliche Mienenspiel, das ihre vorsichtigen Bewegungen begleitete.
Jeder von ihnen hatte zwar seine Spezialität, seine eigene Abart von
Leiden, daher auch seine eigene Art von Gang, von Zögern, von Stakeln,
von Hinken, und jeder auch sein eigenes, spezielles Mienenspiel, dennoch
überwog das Gemeinsame, ich erkannte sie alle auf den ersten Blick als
Ischiatiker, als Brüder, als Kollegen. Wer erst einmal die Spiele des
_nervus ischiaticus_ kennt, nicht aus dem Lehrbuch, sondern aus jener
Erfahrung, welche von den Ärzten als „subjektive Sensation“ bezeichnet
wird, sieht hierin scharf. Alsbald blieb ich stehen und betrachtete mir
diese Gezeichneten. Und siehe, alle drei oder vier schnitten bösere
Gesichter als ich, stützten sich stärker auf ihre Stöcke, zogen ihre
Schinken zuckender empor, setzten ihre Sohlen ängstlicher und unmutiger
auf den Boden als ich, alle waren sie leidender, ärmer, kränker,
beklagenswerter als ich, und dies tat mir äußerst wohl und blieb während
meiner Badener Kurzeit ein tausendmal wiederkehrender, unerschöpflicher
Trost: daß ringsum Leute hinkten, Leute krochen, Leute seufzten, Leute
in Krankenstühlen fuhren, welche viel kränker waren als ich, viel
weniger Grund zu guter Laune und zur Hoffnung hatten als ich! Da hatte
ich denn gleich in der ersten Minute eins der großen Geheimnisse und
Zaubermittel aller Kurorte gefunden und schlürfte meine Entdeckung mit
wahrer Lust: die Leidensgenossenschaft, das „_socios habere malorum_“.
Und als ich nun den Bahnsteig verließ und mich einer sanft gegen die
Bäder talwärts fließenden Straße wohlig überließ, da bestätigte und
steigerte jeder Schritt die wertvolle Erfahrung: überall schlichen die
Kurgäste, saßen müde und etwas krummgezogen auf grüngestrichenen
Ruhebänken, hinkten in Gruppen plaudernd vorüber. Eine Frau wurde im
Fahrstuhl daher geschoben, müde lächelnd, eine halbwelke Blume in der
kränklichen Hand, hinten strotzend und voll Energie die blühende
Pflegerin. Ein alter Herr trat aus einem der Läden, in denen die
Rheumatiker ihre Ansichtskarten, Aschenbecher und Briefbeschwerer kaufen
(sie brauchen deren viele, und ich konnte die Ursache nie ergründen) –
und dieser alte Herr, der aus dem Laden trat, brauchte zu jeder
Treppenstufe eine Minute und blickte auf die vor ihm liegende Straße,
wie ein ermüdeter und unsicher gewordner Mensch auf eine große ihm
gestellte Aufgabe blickt. Ein noch junger Mensch, mit einer graugrünen
Militärmütze auf dem borstigen Kopf, arbeitete sich an zwei Stöcken
kraftvoll, doch mühsam vorwärts. Ach, schon diese Stöcke, die man hier
überall antraf, diese verflucht ernsthaften Krankenstöcke, welche in
unten verbreiterte Gummizwingen ausliefen und sich wie Egel oder
Saugwarzen an den Asphalt ansogen! Auch ich zwar ging an einem Stocke,
einem zierlichen Malakka-Rohrstock, dessen Hilfe mir höchst willkommen
war, allein zur Not konnte ich auch ohne Stock gehen, und niemand hatte
mich jemals mit einem dieser traurigen Gummistöcke gesehen! Nein, es war
klar und mußte jedem in die Augen fallen, wie rasch und schlank ich
diese angenehme Straße hinabschlenderte, wie wenig und spielerisch ich
den Malakkastock, ein reines Schmuckstück, ein bloßes Ornament,
benützte, wie äußerst leicht und harmlos bei mir das Kennzeichen der
Ischiatiker, das ängstliche Anziehen der Oberschenkel, ausgebildet,
vielmehr nur angedeutet, nur flüchtig skizziert war, überhaupt wie
straff und proper ich diesen Weg daherkam, wie jung und gesund ich war,
verglichen mit all diesen älteren, ärmeren, kränkeren Brüdern und
Schwestern, deren Gebrechen sich so deutlich, so unverhüllbar, so
unerbittlich dem Blicke darboten! Ich sog Anerkennung, schlürfte
Bejahung aus jedem Schritt, ich fühlte mich schon beinahe gesund,
jedenfalls unendlich viel weniger krank als alle diese armen Menschen.
Ja, wenn diese Halblahmen und Hinker noch Heilung erhofften, diese Leute
mit den Gummistöcken, wenn Baden auch diesen noch helfen konnte, dann
mußte ja mein kleines anfängerhaftes Leiden hier schwinden wie Schnee im
Föhn, dann mußte der Arzt in mir ein Prachtexemplar, ein höchst
dankbares Phänomen, ein kleines Wunder an Heilbarkeit entdecken.
Freundlich sah ich den anregenden Gestalten zu, voll Mitgefühl und
Wohlwollen. Aus einer Konditorei kam jetzt eine alte Frau gequollen, die
hatte es offenbar längst aufgegeben, ihr Gebrechen verheimlichen zu
wollen, sie verkniff sich keine kleinste Reflexbewegung, sie nahm jede
denkbare Erleichterung, jedes sich anbietende Spiel einer
Hilfsmuskulatur voll in Anspruch, und so turnte, so balancierte und
schwamm sie, breit sich durchkämpfend, wie eine Seelöwin über die Gasse,
nur langsamer. Mein Herz hieß sie willkommen und jubelte ihr zu, ich
pries die Seelöwin, ich pries Baden und mein gutes Geschick. Ich sah
mich rings von Mitstrebenden, von Konkurrenten umgeben, welchen ich weit
überlegen war. Wie gut, daß ich so rechtzeitig hierher gekommen war,
noch im ersten Stadium einer leichten Ischias, noch mit den ersten
schwachen Symptomen einer beginnenden Gicht! Mich umwendend, auf meinen
Stock gestützt, sah ich lange der Seelöwin nach, mit jenem bekannten
Wohlgefühl, welches uns zeigt, daß die Sprache für seelische Vorgänge
noch keine Ausdrücke gefunden hat, denn sprachliche Gegensätze wie
Schadenfreude und Mitleiden sind hier aufs innigste verbunden. Mein
Gott, die arme Frau! So weit konnte es mit einem kommen.
Auch in diesem enthusiastischen Augenblick gesteigerten Lebensgefühls,
auch während dieser holden Euphorie der guten Stunde freilich schwieg
jene lästige Stimme in mir nicht ganz, die wir so ungern hören und doch
so nötig haben, jene Stimme der Vernunft, und sie machte mich, in ihrem
unangenehm kühlen Ton, leise und bedauernd darauf aufmerksam, daß die
Quelle meines Trostes lediglich ein Irrtum, eine falsche Methode sei,
daß ich nämlich mich selbst, den am Malakkastock nur leicht hinkenden
Literaten, dankerfüllt zwar mit jeder lahmen, jeder schwer hinkenden und
entstellten Gestalt verglich, daß ich es aber versäumte, jene endlos
fortlaufende Skala der Symptome in Betracht zu ziehen, welche sich
jenseits meiner Person ausdehnte, daß ich alle jene Gestalten, welche
jünger, aufrechter, rüstiger und gesunder waren als ich selber, gar
nicht wahrnahm. Vielmehr, ich nahm sie wahr, aber ich weigerte mich, sie
mit in die Vergleichung zu ziehen, ja, während des ersten und zweiten
Tages war ich sogar ganz primitiv davon überzeugt, alle jene Menschen,
welche ich ohne Stock und ohne merkbares Lahmen oder Hinken mit
vergnügten Gesichtern dahinwandeln sah, seien keineswegs Brüder und
Kollegen, seien keine Kurgäste und Konkurrenten, sondern normale,
gesunde Einwohner der Stadt. Daß es auch Ischiatiker geben könne, welche
ganz ohne Stock und ganz ohne krampfhafte Gebärden gehen konnten, daß es
viele Gichtiker gebe, denen auf der Straße kein Mensch, auch kein
Psychologe, ihr Leiden anzusehen vermöge, daß ich mit meinem leicht
deformierten Gang und meinem Malakkastocke keineswegs auf der ersten,
harmlosen, untersten Stufe der Stoffwechselleiden stehe, daß ich nicht
bloß den Neid der richtigen Lahmen und Hinker genieße, sondern auch das
spöttische Mitleid zahlreicher Kollegen, welchen ich als Trost und
Seelöwe diente, kurz, daß ich mit meiner scharfäugigen Beobachtung und
Vergleichung der Leidensgrade nicht objektive Forschung treibe, sondern
lediglich optimistische Selbstbezauberung, diese Erkenntnis erreichte
mich, auf dem üblichen langsamen Wege, erst nach mehreren Tagen.
Nun, ich genoß dies Glück des ersten Tages in vollen Zügen, ich beging
Orgien der naiven Selbstbejahung, und ich tat wohl daran. Von den
überall auftauchenden Figuren meiner Mitkurgäste, meiner kränkeren
Brüder angezogen, vom Anblick jedes Krüppels geschmeichelt, von jedem
mir begegnenden Rollstuhl zu frohem Mitleid, zu teilnahmsvoller
Selbstzufriedenheit aufgefordert, flanierte ich die Straße hinab, diese
so bequeme, so schmeichelhaft angelegte Straße, auf welcher die
ankommenden Gäste vom Bahnhof zu den Bädern hinabgerollt werden und die
in sanfter Schwingung, mit wohligem, gleichmäßigem Gefälle zu den alten
Bädern hinableitet und sich dort unten, gleich einer Flußversickerung,
in die Eingänge der zahlreichen Badehotels verliert. Guter Vorsätze und
froher Hoffnungen voll näherte ich mich dem „Heiligenhof“, wo ich
abzusteigen dachte. Drei, vier Wochen galt es nun hier auszuhalten,
täglich zu baden, möglichst viel spazieren zu gehen, sich Aufregungen
und Sorgen möglichst fern zu halten. Es würde vielleicht zuweilen etwas
eintönig sein, es würde nicht ohne Langeweile abgehen, weil hier das
Gegenteil von intensivem Leben Vorschrift war, und für mich, den alten
Solitär, dem alles Herden- und Hotelleben tief zuwider ist und äußerst
schwer fällt, würde es einige Hindernisse zu nehmen, einige
Überwindungen zu erkämpfen geben. Aber ohne Zweifel würde dies neue, mir
völlig ungewohnte Leben, trotz seinem vielleicht etwas bürgerlichen,
etwas faden Anstrich, auch heitere und interessante Erfahrungen bringen,
– hatte ich es nicht wirklich in hohem Maße nötig, nach Jahren eines
friedlich-verwilderten, ländlich-einsamen, in Studien versunkenen Lebens
eine Weile wieder unter Menschen zu kommen? Und, die Hauptsache:
jenseits der Hindernisse, jenseits dieser jetzt beginnenden Kurwochen
lag der Tag, an dem ich diese selbe Straße rüstig bergan steigen, diese
Hotels verlassen, an dem ich verjüngt und geheilt, mit elastisch
spielenden Knien und Hüften, von diesem Baden wieder Abschied nehmen und
die hübsche Straße zum Bahnhof hinantanzen würde.
Schade nur, daß es, eben im Augenblick da ich den Heiligenhof betrat,
leise zu regnen anfing.
„Sie bringen kein gutes Wetter mit,“ sagte lächelnd das überaus
freundliche Fräulein im Bureau bei der Begrüßung.
„Nein,“ sagte ich ratlos. Wie war nun das? Sollte wirklich ich es sein,
dachte ich, der diesen Regen gerufen, der ihn erschaffen und hierher
mitgebracht hat? Daß die platte, alltägliche Anschauungsweise dagegen
sprach, konnte mich, den Theologen und Mystiker, nicht entlasten. Ja,
ebenso wie Schicksal und Gemüt Namen eines Begriffes waren, ebenso wie
ich meinen Namen und Stand, mein Alter, mein Gesicht, meine Ischias in
gewissem Sinne mir selbst erwählt und geschaffen hatte und niemand außer
mich dafür verantwortlich machen durfte, ebenso stand es wohl auch mit
diesem Regen. Ich war bereit, ihn auf mich zu nehmen.
Nachdem ich dies dem Fräulein mitgeteilt und einen Anmeldezettel
ausgefüllt hatte, trat ich nun in jene Verhandlungen wegen meines
Zimmers ein, welche der normale Mensch nicht kennt, deren Grauen der
naive Glückliche nicht ahnt, deren ganze Trübe nur dem in eine
Fremdenherberge verschlagenen, an Einsamkeit und tiefe Stille gewöhnten,
an Schlaflosigkeit leidenden Eremiten und Schriftsteller bekannt ist.
Ein Hotelzimmer zu nehmen, ist für normale Menschen eine Kleinigkeit,
ein alltäglicher, in keiner Weise affektbetonter Akt, mit dem man in
zwei Minuten fertig ist. Für unsereinen aber, für uns Neurotiker,
Schlaflose und Psychopathen wird dieser banale Akt, mit Erinnerungen,
Affekten und Phobien phantastisch überladen, zum Martyrium. Der
freundliche Hotelier, die sympathische Empfangsdame, welche uns, auf
unsre zaghaft inständige Bitte, ihr „ruhiges Zimmer“ zeigen und
empfehlen, ahnen den Sturm von Assoziationen, von Befürchtungen, von
Ironien und Selbstironien nicht, den dies fatale Wort in uns erregt. O
wie gut, o wie schauerlich genau, wie grauenhaft profund kennen wir
diese ruhigen Zimmer, diese Stätten unsrer qualvollsten Leiden, unsrer
schmerzlichsten Niederlagen, unsrer heimlichsten Schmach! Wie falsch und
tückisch, wie dämonisch blicken uns diese freundlichen Möbel, diese
wohlgemeinten Teppiche und heiteren Tapeten an! Wie fatal, wie
vernichtend grinst jene verriegelte Verbindungstür zum Nachbarzimmer,
die sich unseligerweise in den meisten dieser Zimmer befindet, häufig
ihrer eigenen üblen Rolle bewußt und darum schamhaft hinter einem
Tuchbehang verborgen! Wie schmerzlich und ergeben blicken wir zur weiß
getünchten Zimmerdecke empor, welche stets im Augenblick der
Besichtigung in schweigender Leere grinst, um dann abends und morgens
von den Schritten der Obenwohnenden zu dröhnen – ach, und nicht nur von
Schritten, das sind bekannte und also nicht die schlimmsten Feinde!
Nein, über diesen harmlos weißen Plan rollen in der Stunde des
Verhängnisses, ebenso wie durch die dünne Tür und Wand, ungeahnte
Geräusche und Vibrationen, weggeworfene Stiefel, zu Boden fallende
Spazierstöcke, mächtige rhythmische Erschütterungen (auf hygienische
Turnübungen deutend), umgeworfene Stühle, ein vom Nachttisch stürzendes
Buch oder Glas, das Rücken von Koffern und Möbelstücken. Dazu die
Menschenstimmen, die Gespräche und Selbstgespräche, das Husten, das
Lachen, das Schnarchen! Und weiter, schlimmer als dies alles, die
unbekannten, unerklärlichen Geräusche, alle jene seltsamen,
geisterhaften Laute, die wir nicht deuten, deren Herkunft und
vermutliche Dauer wir nicht ahnen können, jene Klopf- und Wühlgeister,
all jenes Knacken, Ticken, Flüstern, Blasen, Saugen, Rauschen, Seufzen,
Knarren, Picken, Sieden – weiß Gott, welch reiches unsichtbares
Orchester sich in den paar Quadratmetern eines Hotelzimmers verbergen
kann!
Das Wählen eines Schlafzimmers ist also für unsereinen eine äußerst
heikle, wichtige und dabei ziemlich hoffnungslose Unternehmung, an
zwanzig Dinge, an hundert Möglichkeiten ist dabei zu denken. In einem
Raume ist der Wandschrank, im andern die Heizröhre, im dritten der
okarinablasende Nachbar die Quelle akustischer Überraschungen. Und da
erfahrungsgemäß bei keinem einzigen Zimmer der Welt jene so innig
ersehnte Ruhe und Schlafsicherheit feststellbar ist, da das anscheinend
ruhigste Zimmer Überraschungen birgt (wohnte ich nicht schon, um ja
keinen Störenfried über oder neben mir zu wissen, in einer einsamen
Dienstbotenkammer im fünften Stock und fand über mir, statt des
vermiedenen Zeitgenossen, den klappernden Dachboden von Ratten toll
belebt?!) – sollte man da nicht am Ende auf jede Wahl verzichten,
einfach kopfvoran ins Schicksal springen und den Zufall walten lassen?
Statt sich zu quälen und abzusorgen und nach wenigen Stunden dennoch
enttäuscht und traurig dem Unvermeidlichen gegenüberzustehen, ist es
nicht klüger, das blinde Geschick walten zu lassen und wahllos das erste
angebotene Zimmer zu nehmen? Gewiß, das ist klüger. Wir tun es aber
nicht oder tun es nur selten einmal, denn wenn Klugheit und Vermeiden
von Aufregungen allein unser Tun und Lassen leiten sollte, wie sähe da
das Leben aus? Wissen wir nicht alle, daß unser Schicksal uns eingeboren
und unentrinnbar ist, und hängen wir nicht dennoch alle innig und
glühend an der Illusion der Wahl, der Willensfreiheit? Könnte nicht
jeder von uns, wenn er den Arzt für seine Krankheit, wenn er Beruf und
Wohnort, wenn er eine Geliebte und Braut wählt, dies alles ebenso gut
und vielleicht mit besserm Erfolge dem reinen Zufall überlassen – und
wählt er nicht dennoch, wendet er nicht dennoch eine Menge von
Leidenschaft, von Mühe, von Sorge an all diese Dinge? Vielleicht tut er
es naiv, in kindlicher Leidenschaftlichkeit, an seine Macht glaubend,
von der Beeinflußbarkeit des Schicksals überzeugt; vielleicht auch tut
er es skeptisch, tief überzeugt von der Wertlosigkeit seiner Bemühungen,
aber ebensosehr davon überzeugt, daß Tun und Streben, Wählen und
Sichquälen schöner, lebendiger, bekömmlicher oder mindestens amüsanter
sei als Erstarren in resignierter Passivität. Nun also, ebenso handle
ich närrischer Zimmersucher, wenn ich, trotz tiefem Überzeugtsein von
der Vergeblichkeit und drolligen Sinnlosigkeit meines Tuns, eben dennoch
jedesmal wieder lange Verhandlungen über das zu wählende Zimmer führe,
mich nach Nachbarn, nach Türen und Doppeltüren, nach Drum und Dran
gewissenhaft erkundige. Es ist ein Spiel, das ich treibe, ein Sport,
wenn ich in dieser kleinen alltäglichen Frage immer wieder mich der
Illusion, der fiktiven Spielregel überlasse, als seien Dinge dieser Art
überhaupt einer vernunftgemäßen Behandlung zugänglich und würdig. Ich
handle dabei ebenso klug oder ebenso töricht wie ein Kind beim Einkaufen
von Naschwerk oder wie ein Spieler, der seinem Einsatz mathematische
Tabellen zugrundelegt. In allen solchen Lagen wissen wir genau, daß wir
dem reinen Zufall gegenüberstehen, und handeln, aus tiefem geistigem
Bedürfnis, dennoch so, als könne und dürfe es keinen Zufall geben, als
sei alles und jedes in der Welt unsrem vernünftigen Denken und Ordnen
untertan.
Also ich spreche mit dem bereitwilligen Fräulein die fünf oder sechs
leerstehenden Zimmer genau durch. Von dem einen erfahre ich, daß nebenan
eine Violinspielerin wohnt und täglich zwei Stunden übt – nun, das ist
immerhin etwas Positives, ich tendiere nun bei der engeren Wahl nach
möglichst großer Entfernung von jenem Zimmer und Stockwerk. Für
Verhältnisse und Möglichkeiten der Hotelakustik habe ich ohnehin eine
Sensibilität, ein Ahnungsvermögen, das manchem Architekten sehr zu
wünschen wäre. Kurz, ich tat das Notwendige, das Vernünftige, ich
handelte sorgfältig und gewissenhaft, wie ein Nervöser beim Suchen eines
Schlafzimmers handeln muß, mit dem üblichen Ergebnisse, das etwa so zu
formulieren wäre: „Es nützt zwar nichts, und natürlich werde ich in
diesem Zimmer dieselben Abenteuer und Enttäuschungen antreffen wie in
jedem anderen, aber immerhin habe ich nun meine Pflicht getan, ich habe
mir Mühe gegeben, den Rest lege ich in Gottes Hand.“ Und gleichzeitig
sprach, wie immer in solchen Fällen, eine andre, leisere Stimme zutiefst
in mir innen: „Wäre es nicht besser, das Ganze Gott zu überlassen und
auf dies Theaterspiel zu verzichten?“ Ich hörte die Stimme, wie gewohnt,
und hörte sie doch nicht, und weil ich zur Stunde so guter Laune war,
verlief die Prozedur angenehm, zufrieden sah ich meinen Reisekorb in
Nummer 65 verschwinden und ging weiter, denn es war die Stunde, zu der
ich beim Doktor angemeldet war.
Und siehe, auch hier ging es gut. Nachträglich kann ich ja gestehen, daß
mir vor diesem Besuch etwas bange war, nicht weil ich eine
niederschmetternde Diagnose befürchtet hätte, sondern weil die Ärzte für
mein Gefühl mit zur geistigen Hierarchie gehören, weil ich dem Arzt
einen hohen Rang zubillige und weil ich bei ihm eine Enttäuschung schwer
ertrage, die ich bei einem Eisenbahn- oder Bankbeamten, auch noch bei
einem Advokaten leicht hinnehme. Ich erwarte, ich weiß selbst nicht
genau warum, vom Arzt einen Rest jenes Humanismus, zu welchem die
Kenntnis des Latein und des Griechischen und eine gewisse philosophische
Vorschule gehören und der in den meisten Berufen des heutigen Lebens
nicht mehr benötigt wird. In dieser Hinsicht bin ich, sonst voll Freude
am Neuen und Revolutionären, überaus rückständig, ich verlange von den
höher gebildeten Ständen einen gewissen Idealismus, eine gewisse
Bereitschaft zu Verständnis und Auseinandersetzung, ganz unabhängig vom
materiellen Vorteil, kurz ein Stück Humanismus, obwohl ich weiß, daß
dieser Humanismus in Wirklichkeit nicht mehr existiert und daß auch
seine Gebärde bald nur noch in Wachsfigurenkabinetten anzutreffen sein
wird.
Nach kurzem Warten wurde ich hineingeführt, ein sehr schöner,
geschmackvoll eingerichteter Raum gewann sogleich mein Vertrauen. Der
Arzt, der erst noch in einem Nebenraume in der üblichen Weise mit Wasser
geplätschert hatte, trat herein, ein intelligentes Gesicht versprach
Verständnis, und wir begrüßten einander, wie es gesitteten Boxern ziemt,
vor dem Wettkampf mit herzlichem Händedruck. Vorsichtig begannen wir den
Kampf, tasteten einander ab, probierten zögernd die ersten Schläge. Noch
waren wir auf neutralem Gebiet, unser Disput ging um Stoffwechsel,
Ernährung, Alter, frühere Krankheiten und troff von Harmlosigkeit, nur
bei einzelnen Worten kreuzten sich unsere Blicke, klar zum Gefecht. Der
Arzt hatte einige Ausdrücke aus der medizinischen Geheimsprache auf
seiner Palette, die ich nur annähernd entziffern konnte, die aber seinen
Kundgebungen ornamental sehr zustatten kamen und seine Position mir
gegenüber spürbar stärkten. Immerhin war mir schon nach einigen Minuten
klar, daß bei diesem Arzte nicht jene grausame Enttäuschung zu fürchten
war, welche Menschen von meiner Art gerade bei Ärzten peinlich ist: daß
man hinter einer gewinnenden Fassade von Intelligenz und Schulung auf
eine starre Dogmatik stößt, deren erster Satz postuliert, daß
Anschauungsweise, Denkart und Terminologie des Patienten rein subjektive
Phänomene, die des Arztes hingegen streng objektive Werte seien. Nein,
hier hatte ich es mit einem Arzt zu tun, um dessen Verständnis zu
kämpfen einen Sinn hatte, der nicht nur der Vorschrift gemäß
intelligent, sondern bis zu einem zunächst noch nicht bestimmbaren Grade
wissend war, also im Besitz eines lebendigen Gefühls für die Relativität
aller geistigen Werte. Unter gebildeten und gescheiten Menschen passiert
es ja in jedem Augenblick, daß jeder die Mentalität und Sprache, die
Dogmatik und Mythologie des andern als eine subjektive, als bloßen
Versuch, bloßes flüchtiges Gleichnis erkennt. Daß aber jeder diese selbe
Erkenntnis auch an sich selber mache und auf sich selber anwende und
jeder sich selbst sowohl wie dem Gegner das Recht auf seine von innen
her bestimmte und notwendige Art, Denkweise und Sprache zugestehe, daß
also zwei Menschen miteinander Gedanken austauschen und sich dabei
beständig der Gebrechlichkeit ihrer Werkzeuge, der Vieldeutigkeit aller
Worte, der Unmöglichkeit eines wahrhaft exakten Ausdrucks, also auch der
Notwendigkeit eines intensiven Sichgebens, einer gegenseitigen
herzlichen Bereitwilligkeit und intellektuellen Ritterlichkeit bewußt
bleiben – diese hübsche, zwischen denkenden Wesen eigentlich
selbstverständliche Situation kommt ja praktisch so kläglich selten vor,
daß wir jede Annäherung an sie, jede auch nur teilweise
Verwirklichung innig begrüßen. Hier nun, diesem Spezialisten für
Stoffwechselerkrankungen gegenüber, blitzte etwas wie die Möglichkeit
solchen Verständnisses und Austausches auf.
Die Untersuchung, Blutprobe und Röntgen vorbehalten, brachte tröstliche
Ergebnisse. Herz normal, Atmung ausgezeichnet, Blutdruck sehr anständig,
dagegen fanden sich die unverkennbaren Merkmale einer Ischias, einzelne
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