Kurgast: Aufzeichnungen von einer Badener Kur - 6

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setzte nun Mal für Mal weiter, und langsam ließ das Gefühl der
Sicherheit nach, es sprang eine Eins, eine Vier heraus, die mich ganz
und gar überraschten, mir feindlich waren und mich verhöhnten. Jetzt
wurde ich unruhig und ängstlich, setzte auf Zahlen, ohne ein Verhältnis
des ahnenden Gefühls zu ihnen zu haben, schwankte lange zwischen gerade
und ungerade, setzte aber zwanghaft weiter, bis mein Spielgeld wieder
alles verloren war. Und nicht erst nachher, sondern schon gleichzeitig,
noch während des Spiels, empfand ich die Tiefe des Gleichnisses, sah im
Spiel das Abbild des Lebens, wo es genau ebenso geht, wo
unerforschliche, vernunftlose Ahnung uns die stärksten Zauber in die
Hand gibt, die größten Kräfte löst, wo beim Erlahmen der guten Instinkte
Kritik und Verstand sich einmischen, eine Weile lavieren und Widerstand
leisten und schließlich geschieht, was geschehen muß, völlig ohne uns
und über unsre Köpfe hinweg. Der erlahmende Spieler, der seinen
Höhepunkt überschritten hat und doch nicht aufhören kann, der von keiner
Intuition, keinem tiefen Glaubenkönnen mehr geleitet wird, gleicht ganz
genau dem Menschen, der in wichtigen Lebensfragen nicht aus und ein
sieht und, statt zu warten und die Augen zu schließen, vor lauter Kalkül
und Bemühung und Verstandesüberanstrengung sicher das Falsche tut. Und
eine der allersichersten Spielregeln am grünen Tisch ist diese: Wenn du
einen Mitspieler siehst, der müde wird und Pech hat, der bald auf diese,
bald auf jene Nummer mehreremal hintereinander setzt und dann doch
wieder abspringt – dann setze jedesmal auf die Zahl, die er bisher
vergeblich belagerte und die er nun im Mißmut verlassen hat, sie wird
sicher herauskommen.
Seltsam anders als alle anderen Bürger- und Kurbelustigungen ist das
Spiel um Geld. Hier am grünen Tisch werden weder Bücher gelesen noch
fade Unterhaltungen geführt noch Strümpfe gestrickt wie in den Konzerten
und im Kurgarten, es wird weder gegähnt noch am Hals gekratzt, ja, die
Rheumatiker sitzen hier nicht einmal, sie stehen, stehen lang und
mühsam, heroisch auf ihren eigenen, sonst so geschonten Beinen. Es
werden hier im Spielsaal weder Witze gemacht, noch wird von Krankheiten
oder von Poincaré gesprochen, es wird auch fast niemals gelacht, sondern
ernst und flüsternd steht die zuschauende Menge um den Spieltisch,
gedämpft und feierlich klingt die Stimme des Ausrufers, gedämpft und
zart klirren auf dem grünen Tuch die Silberstücke aneinander, und schon
dies, schon diese Andacht und verhältnismäßige Diskretion und Würde gibt
dem Spiel in meinen Augen einen unermeßlichen Vorzug vor jenen anderen
Arten von Vergnügungen, bei welchen die Leute so laut, so salopp und
unbeherrscht sind. Hier, im Spielsaal, herrscht ernste Festlichkeit und
Feiertagsstimmung, leise und etwas befangen wie in einer Kirche treten
die Gäste ein, wagen nur zu flüstern, schauen andächtig auf den Herrn im
Frack. Und dieser benimmt sich musterhaft, nicht wie eine Person,
sondern wie der neutrale Träger eines Amtes, einer Würde.
Ich kann die psychologischen Ursachen dieser Feststimmung und schönen,
wohltuenden Feierlichkeit hier nicht untersuchen, denn ich habe ja
längst die Fiktion aufgegeben, daß meine _Psychologia Balnearia_ von
einer anderen Psyche handle als meiner eigenen. Vermutlich kommt die
heilige, flüsternd verehrungsvolle Stimmung voll Würde und Devotion im
Spielsaal einfach daher, daß es sich hier nicht um Musik, Dramatik oder
andere Kindereien handelt, sondern um das Ernsteste, Geliebteste und
Heiligste, was die Menschen kennen, um das Geld. Aber, wie gesagt, ich
will dies nicht untersuchen, es liegt außerhalb meines Problems. Ich
stelle nur fest, daß, im Gegensatz zu jeder anderen Volksbelustigung,
zum Konzert und Theater, zum Kino, zum Ball, hier im Spielsaal eine
Stimmung vorherrscht, welche der Ehrfurcht nicht entbehrt. Und während
zum Beispiel im Kino das Publikum sich in sprachlichen und auch
unartikulierten Äußerungen von Lust und Unlust wenig Zwang antut, fühlt
hier sogar der Akteur, der Spieler, selbst im Moment der heftigsten, der
bestbegründeten und erlaubtesten Emotionen, nämlich beim Gewinnen und
Verlieren von Geld, eine tiefe Verpflichtung, Haltung und Würde zu
zeigen. Ich sehe hier dieselben Personen, welche beim täglichen
Kartenspiel den Verlust von zwanzig Rappen mit Ausbrüchen der schlechten
Laune in Flüchen und Verwünschungen begleiten, das Hundertfache
verlieren, ohne – ich darf nicht sagen „mit einer Wimper zu zucken“,
denn die Wimpern zucken sehr –, aber ohne laut zu werden und die
Umgebung mit unanständigen Äußerungen ihrer Gefühle zu belästigen.
Da weise Regierungen sich um alles bekümmern, was die Volkserziehung zu
heben vermag, und alle dazu dienenden Institute fördern und stützen,
wage ich hier, obwohl auf diesem Gebiet ein vollkommener Laie, Fachleute
auf die Tatsache hinzuweisen, daß von allen Spielen, Unterhaltungen
und Belustigungen keine einzige die Teilnehmer so sehr zu
Selbstbeherrschung, Ruhe und Anstand erzieht wie das Hasardspiel im
öffentlichen Spielsaal.
So sympathisch, ja wohltätig mir also das Spiel erscheint, ich fand
immerhin Gelegenheit, auch über seine Schattenseiten nachzudenken,
vielmehr sie experimentell zu erleben. Die oft so leidenschaftlich mit
moralistischem Pathos vorgetragenen Einwände der Nationalökonomen gegen
das Spiel scheinen mir, von meinem Standpunkt aus, alle belanglos. Daß
der Spieler in Gefahr gerät, zu leicht Geld zu gewinnen und darum die
Heiligkeit der Arbeit verachten zu lernen, daß er andererseits in der
Gefahr schwebt, all sein Geld zu verlieren, daß er drittens nach
längerem Zuschauen beim Rollen der Spielbälle und Talerstücke sogar den
Grundbegriff ökonomisch-bürgerlicher Moral, die unbedingte Hochachtung
vor dem Gelde, verlieren kann, ist allerdings alles richtig, doch kann
ich alle diese Gefahren nicht sehr ernst nehmen. Mir, dem Psychologen,
schiene für sehr viele schwer seelenkranke Menschen der rasche Verlust
ihres Vermögens und die Erschütterung ihres Glaubens an die Heiligkeit
des Geldes durchaus kein Unglück, sondern die sicherste, ja einzig
mögliche Rettung zu bedeuten, und ebenso scheint mir inmitten unsres
heutigen Lebens, im Gegensatz zum alleinigen Kultus der Arbeit und des
Geldes, der Sinn für das Spiel des Augenblicks, das Offenstehen für den
Zufall, das Vertrauen in die Launen des Schicksals etwas durchaus
Wünschenswertes, woran wir alle sehr Mangel leiden.
Nein, was nach meiner Meinung der Fehler des Geldspiels ist und es trotz
seiner prächtigen Seiten schließlich doch zu einem Laster macht, das ist
etwas rein Seelisches. Nach meiner persönlichen, höchst angenehmen
Erfahrung gewährt es eine beglückende Anregung, sich täglich zwanzig
Minuten der Spannung des Roulettespiels und der so unwirklichen
Atmosphäre des Spielsaals auszusetzen. Für eine gelangweilte, leere,
müde Seele ist dies ein wahres Labsal, eins der besten, die ich je
probierte. Der Fehler ist nur (und diesen Fehler hat das Spiel mit dem
ebenfalls so angenehmen Alkohol gemeinsam) – der Fehler ist, daß beim
Spiel diese ganze hübsche Anregung von außen kommt und rein mechanisch
und materiell ist, so daß die große Gefahr besteht, im Vertrauen auf
diese immer wieder wirksame Anregungsmechanik die eigene Übung, die
seelische Aktivität zu vernachlässigen und zuletzt einzubüßen. Wenn man,
statt durch Denken, durch Träumen, durch Phantasieren oder Meditieren,
die Seele bloß mechanisch durch die Roulette in Schwung setzt, so ist
das ungefähr dasselbe, wie wenn man für seinen Körper zwar Bad und
Masseur in Anspruch nimmt, auf eigene Leistung, auf Sport und Training
aber verzichtet. Auch die Anregungsmechanik des Kinematographen, der die
eigene künstlerische Leistung des Auges, das Entdecken, Auswählen und
Festhalten des Schönen und Interessanten, durch eine rein materielle
Augenfütterung ersetzt, beruht auf dem gleichen Schwindel.
Nein, ebenso wie man neben dem Masseur das Turnen braucht, so braucht
die Seele, statt oder neben dem Spiel und allen diesen hübschen
Anregungen, notwendig die eigene Leistung. Darum ist hundertmal besser
als das Glücksspiel jede aktive Übung der Seele: straffe, scharfe Denk-
und Gedächtnisübung, Übung im Reproduzieren gesehener Dinge bei
geschlossenen Augen, abendliches Rekonstruieren des Tageslaufes, freies
Assoziieren und Phantasieren. Ich füge dies bei, ebenfalls für die
Freunde des Volkswohls und vielleicht zur Korrektur meines obigen
laienhaften Winkes – denn auf diesem Gebiet, dem der rein seelischen
Erfahrung und Erziehung, bin ich kein Laie, vielmehr ein alter, fast
schon allzu gewiegter Fachmann.
Nun habe ich mich wieder weit vom Thema verirrt, wie es denn überhaupt
das Schicksal dieser Aufzeichnungen zu sein scheint, daß sie, unfähig,
irgendein Einzelproblem bis zur Lösung auszuarbeiten, mehr assoziativ
und zufällig die andringenden Einfälle aneinanderreihen. Aber
vielleicht, so nehme ich an, gehört dies eben mit zur Psychologie des
Kurgastes.
Ich verließ mein Thema, mein so unerquickliches Thema, zugunsten einer
kleinen Lobrede auf das Hasardspiel, welche Lobrede ich geneigt wäre,
noch des weiteren auszuspinnen, denn die Rückkehr zum Thema fällt mir
schwer. Allein es muß sein. Kehren wir zum Kurgast Hesse zurück,
betrachten wir nochmals diesen bequem gewordenen älteren Herrn mit der
unlustigen und müden Haltung und dem hinkenden Gange! Er gefällt uns
nicht, der Mann, wir können ihn nicht lieben, wir können ihm nicht aus
aufrichtigem Herzen eine lange oder gar eine endlose Fortsetzung seines
weder vorbildlichen noch interessanten Lebens wünschen. Wir werden
nichts dagegen haben, wenn dieser Herr einst von der Bühne abtritt, auf
welcher er schon längst keine erfreuliche Figur mehr macht. Sollte er
zum Beispiel eines Morgens im Bade der Müdigkeit erliegen, unter Wasser
geraten und unten bleiben, so sähen wir darin keinen Anlaß zum Bedauern.
Wenn wir jedoch über besagten Kurgast uns so wenig interessiert
aussprechen, so bezieht sich das einzig auf seine derzeitige Funktion,
seinen momentanen Aggregatzustand. Nicht aus dem Auge verlieren dürfen
wir die niemals erlöschende Möglichkeit, daß sein Zustand sich ändere,
daß sein Wesen auf einen neuen Nenner hin umgerechnet werde. Dies
Wunder, oft schon erlebt, bleibt stündlich möglich. Wenn wir den Kurgast
Hesse mit Kopfschütteln betrachten und reif zum Untergang finden, so
bleibe unvergessen, daß wir an Untergang nicht im Sinne der Vernichtung,
nur im Sinne der Verwandlung glauben können, denn Fundament und
Nährboden all unsrer Meinungen, also auch unsrer Psychologie, ist der
Glaube an Gott, an die Einheit – und die Einheit kann, auf dem Weg der
Gnade sowohl wie der Erkenntnis, auch im verzweifeltsten Fall stets
wieder hergestellt werden. Es gibt keinen Kranken, der nicht mit einem
einzigen Schritt, sei es auch der Schritt durch den Tod, wieder gesund
werden und zum Leben eingehen könnte. Es gibt keinen Sünder, der nicht
mit einem einzigen Schritt, sei es auch vielleicht durch die Hinrichtung
hindurch, wieder unschuldig und göttlich werden könnte. Und es gibt
keinen vergrämten, entgleisten und scheinbar entwerteten Menschen, den
nicht ein Wink der Gnade im Augenblick erneuern und zum frohen Kinde
machen könnte. Dieser mein Glaube, dies mein Wissen möge beim Schreiben
sowie beim Lesen dieser Blätter niemals vergessen werden. Und der
Verfasser dieser Blätter wüßte in der Tat auch nicht, woher er den Mut,
die Berechtigung, die Verwegenheit zu seinen Kritiken und Launen, seinen
Pessimismen und Psychologien nehmen sollte, wenn ihnen nicht in seiner
Seele beständig das Wissen um die Einheit als ein unzerstörbares
Gleichgewicht gegenüberstände. Im Gegenteil: Je weiter ich mich auf der
einen Seite exponiere und hinauswage, je schonungsloser ich kritisiere,
je elastischer ich auf Launen eingehe, desto heller strahlt jenseits,
auf der Gegenseite, das Licht der Versöhnung. Wäre dieser unendliche,
ständig wogende Ausgleich nicht, woher nähme ich da den Mut, ein
einziges Wort zu sagen, ein Urteil zu fällen, Liebe oder Haß zu fühlen
und zu äußern und eine einzige Stunde zu leben?


Besserung

Bald wird meine Kur zu Ende sein. Und, Gott sei Dank, es geht besser, es
geht gut. Eine Woche lang war ich ganz verloren und untergesunken, bloß
noch krank, bloß noch müde, bloß noch gelangweilt und meiner selbst
überdrüssig. Wenig fehlte, so hätte ich mir einen Gummifuß an meinen
Stock machen lassen. Wenig fehlte, so hätte ich angefangen, die Kurliste
zu lesen. Wenig fehlte, so hätte ich der Unterhaltungsmusik nicht mehr
bloß eine Viertel- oder halbe Stunde zugehört, sondern die ganzen, ein-
oder zweistündigen Konzerte zu mir genommen, hätte abends statt einer
Flasche Bier zwei getrunken. Wenig fehlte, so hätte ich im Kursaal meine
ganze Barschaft verspielt. Auch hatte ich mich ein wenig von meinen
Tischnachbarn im Hotel einspinnen lassen, lieben, angenehmen Menschen,
vor denen ich Respekt habe und von denen ich viel hätte lernen können,
hätte ich nicht den alten Fehler gemacht, dies auf dem Wege des
Gesprächs zu versuchen. Und Gespräche mit Menschen, denen man nicht im
Innersten verbunden ist, sind nun einmal fast immer so öde und
enttäuschend. Dazu kommt, daß Fremde, wenn sie mich ansprechen, leider
immer den Fachmann in mir sehen und in ihren Gesprächen irgendwie
meinen, auf Literatur und Kunst zu sprechen kommen zu müssen, und
natürlich wird dann Blech geschwatzt, und die reizendsten Menschen lernt
man von einer Seite kennen, wo sie von den andern elf vom Dutzend nicht
zu unterscheiden sind.
Dazu die Schmerzen und schlechtes Wetter, bei dem ich mich täglich neu
erkältete (ich begriff jetzt die ewigen Erkältungen meines Holländers),
und die furchtbare Kurmüdigkeit – es war eine Reihe von Tagen, deren ich
mich nicht rühmen kann. Aber wie das so geht, eines Tages war diese
Reihe eben zu Ende. Es kam ein Tag, da war mir alles so entleidet, daß
ich vollkommen liegen blieb und nicht einmal mehr zum täglichen Bad zu
haben war. Ich streikte, ich blieb einfach liegen, nur einen Tag lang,
und vom nächsten Tag an ging es besser. Dieser Tag, an dem die Wende
eintrat, ist mir denkwürdig, weil die Wende und Umstellung ganz
plötzlich und überraschend kam. Der Mensch wird mit jeder, auch mit der
widerwärtigsten Situation fertig, wenn er nur erst will, und so habe
auch ich, selbst an den ödesten und deprimiertesten Tagen dieser Kur,
mitten in allem Mißmut nie daran gezweifelt, daß ich auch aus diesem
Sumpf wieder emporkriechen würde. Das Emporkriechen, das langsame,
mühsame Besiegen der Außenwelt, das langsame Suchen und Finden der
vernünftigsten Einstellung, das war, wie ich wußte, ein stets gangbarer
Weg, es war der sehr gangbare, sehr empfehlenswerte Weg der Vernunft.
Von früheren Erlebnissen her kannte ich aber auch den andern Weg, den
nicht zu suchenden, nur zu findenden, den des Glücks, der Gnade, des
Wunders. Daß das Wunder gerade jetzt mir nahe sei, daß ich aus dem
beschämenden Zustand dieser elenden Tage nicht mühsam und staubig auf
der Landstraße der Vernunft, des bewußten Trainings, sondern beflügelt
auf dem blumigen Weg der Gnade erlöst werden möchte, das hatte ich nicht
zu hoffen gewagt.
Am Tage, an dem ich mich wieder aus der Betäubung erhob und zur
Fortsetzung der Kur und des Lebens entschloß, war ich zwar etwas
ausgeruht, jedoch keineswegs guter Laune. Die Beine schmerzten, der
Rücken tat weh, der Nacken war steif, das Aufstehen fiel schwer, schwer
der Weg zum Lift und ins Bad, schwer der Weg zurück. Als es endlich
Mittag geworden war und ich verdrossen und ohne Appetit zum Speisesaal
schlich, nahm ich plötzlich mich selber wahr, war ich plötzlich nicht
mehr bloß der Kurgast, der mit schwerfälligem Gebein und freudlosem
Gesicht die Hoteltreppen hinunterstieg, sondern war zugleich Zuschauer
meiner selbst. Auf irgendeiner der vielen Treppenstufen war es plötzlich
da, war ich plötzlich in zwei gespalten, sah mir selber zu, sah diesen
appetitlosen Kurgast seine Treppen hinabschleichen, sah ihn die Hand
hilfsbedürftig auf die Treppenbrüstung legen, sah ihn am grüßenden
Oberkellner vorbei den Speisesaal betreten. Oft schon hatte ich diesen
Zustand erlebt, und ich begrüßte es alsbald als ein glückliches Zeichen,
daß er mitten in dieser unfruchtbaren und verdrießlichen Epoche
plötzlich wieder da war.
Ich setzte mich im hohen hellen Speisesaal an mein einsames rundes
Tischlein und sah mir zugleich zu, wie ich mich setzte, wie ich den
Stuhl unter mir zurechtrückte und dabei ein wenig auf die Lippen biß,
weil es weh tat, wie ich dann mechanisch die Blumenvase in die Finger
nahm und mir etwas näher stellte, wie ich langsam und unentschlossen die
Serviette aus dem Ringe zog. Da und dort kamen andere Gäste, setzten
sich an ihre Tischlein, wie die Zwerge im Schneewittchen, zupften die
Serviette aus dem Ring. Der Kurgast Hesse aber war hauptsächlich der
Gegenstand meines zuschauenden Ich. Der Kurgast Hesse, mit beherrschtem,
aber tief gelangweiltem Gesicht, schenkte ein wenig Wasser in sein Glas,
brach ein Stückchen Brot ab, alles nur zum Zeitvertreib, denn er
beabsichtigte weder das Wasser zu trinken noch das Brot zu essen, er
löffelte spielend seine Suppe, blickte mit stumpfsinnigem Blick zu den
anderen Tischen im großen Saal hinüber, blickte zu den mit Landschaften
bemalten Wänden empor, schaute dem Oberkellner zu, wie er rasch durch
den Saal lief, und den hübschen Saaltöchtern in schwarzen Kleidchen, mit
weißen Schürzen. Von den übrigen Kurgästen saßen einige in Gesellschaft
oder in Paaren an etwas größeren Tischen, die meisten aber saßen gleich
dem Obigen allein vor ihrem einsamen Teller, mit beherrschtem, aber tief
gelangweiltem Gesicht, schenkten langsam etwas Wasser oder Wein in ihre
Gläser, zupften am Brot, blickten mit stumpfsinnigem Blick zu den
Tischen der andern hinüber, blickten zu den mit Landschaften bemalten
Wänden empor, schauten dem eilenden Oberkellner nach und den hübschen
Saaltöchtern in schwarzen Kleidchen, in weißen Schürzen. An den Wänden
warteten freundlich, dumm und ein wenig verlegen die hübschen
Landschaften, und von der Saaldecke herab, Einfälle eines verschollenen
Dekorateurs, blickten freundlich und unverlegen vier bemalte
Elefantenköpfe, welche mir an früheren Tagen oft Freude gemacht haben,
denn ich bin ein Freund und Anbeter der indischen Götter und sah in
jedem dieser Köpfe den feinen, klugen, elefantenköpfigen Gott Ganesha,
den ich sehr verehre. Und oft, während ich von meinem Tischchen zu den
Elefanten hinaufgesehen, hatte ich mich darüber besonnen, woran nun das
liege, daß man mir in meiner Kindheit erzählt hatte, der Vorzug des
Christentums bestehe hauptsächlich darin, daß es keine Götter und
Götzenbilder kenne, und daß ich doch, je älter und klüger ich werde,
gerade darin den großen Nachteil dieser Religion sehe, daß sie, außer
der wunderbaren katholischen Maria, so gar keine Götter und Götterbilder
hat. Ich gäbe viel dafür, wenn zum Beispiel die Apostel, statt etwas
langweilige und zu fürchtende Prediger, Götter mit allerlei herrlichen
Kräften und Naturzeichen wären, und sehe nur einen schwachen, immerhin
willkommnen Ersatz dafür in den Tieren der Evangelisten.
Derjenige nun, welcher mir und den Gästen und dem allem zusah, dem
gelangweilt essenden Hesse, den gelangweilt essenden Mitgästen, war
nicht der Kurgast und Ischiatiker Hesse, sondern der alte, etwas
gesellschaftsfeindliche Eremit und Sonderling Hesse, der alte Wanderer
und Poet, der Freund der Schmetterlinge und Eidechsen, der alten Bücher
und Religionen, jener Hesse, der sich der Welt entschlossen und kräftig
gegenüberstellte und dem es ein tiefes Leid bereitete, wenn er sich von
seiner Behörde einen Heimatschein ausstellen lassen oder auch nur den
Zettel einer Volkszählung ausfüllen mußte. Dieser alte Hesse, dieses mir
in der letzten Zeit etwas fremd gewordene und verloren gegangene Ich,
war nun wieder da und schaute uns zu. Es sah, wie der appetitlose Gast
Hesse mit lustlos spielender Gabel den schönen Fisch zerstückte und ohne
Hunger dennoch Bissen um Bissen in seinen verdrießlichen Mund steckte,
es sah, wie er ohne jede Notwendigkeit, ohne jeden Sinn das Wasserglas,
das Salzfaß hin und her rückte, die Füße unterm Stuhl bald streckte,
bald anzog, wie die andern Gäste dasselbe taten, wie diese gelangweilten
Leute vom Oberkellner und von den hübschen jungen Mädchen mit äußerster
Sorgfalt bedient und gefüttert wurden, obgleich niemand Hunger hatte,
und wie draußen hinter den hohen feierlichen Bogenfenstern des Saales,
in einer andern Welt, die Wolken am Himmel hinzogen. Dies alles sah der
geheime Zuschauer, und plötzlich erschien diese ganze Veranstaltung ihm
ungeheuer seltsam, drollig und komisch oder auch unheimlich, dies bange,
starre Wachsfigurenkabinett von Menschen, die nicht recht lebten, dieser
langweilige, ohne Appetit essende Hesse, diese langweiligen anderen. Es
war unerträglich lächerlich, unerträglich idiotisch, dies Schauspiel
voll sinnloser Feierlichkeit, all diese aufgehäufte Menge von Essen, von
Porzellan und Glas, von Silber, Wein, Brot, Dienerschaft, alles für die
paar längst satten Gäste, deren Langeweile und Trübsinn weder das Essen
noch das Trinken noch der Blick zu den ziehenden Wolken zu heilen
vermochte.
Eben hob der Kurgast Hesse sein Wasserglas, nur aus Langeweile, führte
es zum Munde, ohne richtig zu trinken, reihte an alle die ratlosen und
automatischen Scheinhandlungen dieser Mahlzeit eine neue, da vollzog
sich die Vereinigung der beiden Ich, des essenden und des zuschauenden,
und plötzlich mußte ich das Glas schnell wegstellen, denn mich
erschütterte von innen her eine plötzlich aufgesprungene, ungeheure
Lachlust, eine ganz kindische Fröhlichkeit, eine plötzliche Einsicht in
die unendliche Lächerlichkeit dieser ganzen Situation. Für einen
Augenblick schien mir im Bilde des Saales voll kranker, unlustiger,
verwöhnter und träger Leute (wobei ich annahm, es sehe in den Seelen der
andern ähnlich aus wie in meiner) unser ganzes zivilisiertes Leben
gespiegelt, ein Leben ohne starken Antrieb, zwangsläufig in festgelegten
Gleisen rollend, unlustig, ohne Verbindung mit Gott und mit den Wolken
am Himmel. Ich dachte einen Augenblick lang an die tausend Speisesäle,
in welchen es ebenso aussah, dachte an die hunderttausend Kaffeehäuser
mit befleckten Marmortischen und süßer, überwürzter, geil melkender
Musik, an die Hotels und Bureaus, an all die Architektur, die Musik, die
Gewohnheiten, innerhalb deren unsre Menschheit lebt, und alles schien
mir an Bedeutung und Wert ähnlich wie das gelangweilte Spiel meiner
müßigen Hand mit der Fischgabel, wie das unbefriedigte öde Hin und Her
meiner lieblosen Blicke durch den Saal. Alles zusammen aber, Speisesaal
und Welt, Kurgäste und Menschheit, schien mir, einen Augenblick lang,
keineswegs entsetzlich und tragisch, sondern bloß ungeheuer lächerlich.
Man brauchte ja nur zu lachen, so war der Bann durchstoßen, die Mechanik
durchbrochen, so zogen Gott und die Vögel und Wolken durch unsern öden
Saal, und wir waren nicht mehr trübe Gäste an der Kurtafel, sondern
vergnügte Gäste Gottes an der bunten Tafel der Welt.
Schleunigst setzte ich, wie gesagt, in dieser Sekunde mein Wasserglas
weg, von innen her geschüttelt und überflutet von einem großen
Gelächter. Es bereitete mir eine große Mühe, dies Gelächter zu bändigen,
es nicht explodieren zu lassen. Ach, als Kinder haben wir das so oft
erlebt, daß man an irgendeiner Tafel, in irgendeiner Schule oder Kirche
sitzt und bis in die Nase und Augen hinauf geladen ist mit mächtiger,
wohlbegründeter Lachlust und doch nicht lachen darf und irgendwie damit
fertigwerden muß, des Lehrers wegen, der Eltern wegen, der Ordnung und
des Gesetzes wegen. Ungern glaubten und gehorchten wir diesen Lehrern,
diesen Eltern und waren sehr erstaunt und sind es noch heute, wenn
hinter ihren Ordnungen, Religionslehren und Sittenlehren als Autorität
jener Jesus stehen sollte, der doch gerade die Kinder seliggesprochen
hat. Sollte er wirklich bloß die Musterkinder gemeint haben?
Aber auch diesmal glückt es mir, mich zu beherrschen. Ich bleibe still
und fühle nur das Drängen im Hals und den Kitzel in der Nase und suche
sehnlich nach irgendeinem kleinen Ventil und Ausweg, einem erlaubten und
möglichen Ausweg für das, was mich sonst erstickt. Ob es wohl anginge,
den Oberkellner, wenn er wieder vorbeikam, ein wenig ins Bein zu zwicken
oder die Saaltöchter mit etwas Wasser aus meinem Glase zu spritzen?
Nein, es ging nicht, alles war verboten, es war die alte Geschichte wie
vor dreißig Jahren.
Während ich dieses dachte und das Lachen mir zu oberst in der Kehle saß,
starrte ich gerade zum Nachbartisch hinüber und ins Gesicht einer mir
unbekannten Frau, einer krank aussehenden Dame mit grauem Haar, die
einen Krankenstock neben sich an der Wand lehnen hatte und damit
beschäftigt war, mit ihrem Serviettenring zu spielen, denn es war gerade
eine der Eßpausen und wir alle wandten die gewohnten Mittel an, diese
Zeit auszufüllen. Einer las heftig in einer alten Zeitung; man sah
deutlich, daß er sie längst auswendig wußte, dennoch schluckte er, aus
Langeweile, wieder und wieder die Nachricht vom Unwohlsein des Herrn
Präsidenten und den Bericht über die Tätigkeit einer Studienkommission
in Kanada hinunter. Eine alte Jungfer mischte zwei Pülverchen in ihrem
Glas, Medizinen, um sie dann nach dem Essen einzunehmen. Sie sah ein
wenig aus wie eine von den gefürchteten älteren Damen in den Märchen,
welche Zaubermittel zum Schaden andrer und hübscherer Leute mischen. Ein
elegant und müde aussehender Herr, wie aus einem Roman von Turgenjew
oder Thomas Mann, blickte distinguiert und wehmutvoll auf eine der an
die Wand gemalten Landschaften. Am besten gefiel mir noch unsre Riesin,
sie saß in untadeliger Haltung und in guter Laune, wie fast immer, vor
ihrem leeren Teller und sah weder böse noch langweilig aus. Dagegen
jener strenge moralische Herr mit den Falten und dem starken Nacken
lastete wie ein ganzes Schwurgericht auf seinem Stuhle und machte ein
Gesicht, als habe er soeben seinen eigenen Sohn zum Tode verurteilt,
während er doch bloß einen Teller voll Spargeln gegessen hatte. Herr
Kesselring, der rosige Page, sah auch heute noch hold und rosig, doch
ein wenig gealtert und bestaubt aus, er schien keinen guten Tag zu
haben, und das Grübchen auf seiner Kinderwange schien heute ebenso
unwahrscheinlich und überflüssig wie das Päckchen pikanter Bilderchen in
seiner Brusttasche. Wie seltsam und drollig war das alles! Warum saßen
wir alle so da und warteten und grinsten? Warum aßen wir und warteten
auf weitere Speisen, da wir doch alle längst nicht mehr hungrig waren?
Warum strich Kesselring sein poetisches Haar mit einem winzigen
Taschenbürstchen, warum trug er jene dummen Bilder in seiner Tasche,
warum war diese Tasche mit Seide gefüttert? Alles war so unbegründet und
unwahrscheinlich. Alles reizte so heftig zum Lachen.
Und ich starrte also in das Gesicht der alten Dame. Da ließ sie auf
einmal ihren Serviettenring los und blickte mich an, und während wir
einander einen Augenblick anstarrten, stieg mir das Lachen ins Gesicht,
und ich konnte nicht anders, ich grinste die Frau mit all dem in mir
aufgestauten Gelächter auf das freundlichste an, es zog mir den Mund
auseinander und lief zu den Augen heraus. Was sie nun über mich dachte,
weiß ich nicht, aber sie reagierte prachtvoll. Zuerst senkte sie schnell
ihren Blick und nahm eilig ihr Spielzeug wieder in die Hand, aber ihr
Gesicht war unruhig geworden, und während ich mit der größten Neugierde
zuschaute, verzog es sich mehr und mehr und ließ sich auf die
sonderbarsten Grimassen ein. Sie lachte! Sie kämpfte grimassierend und
schluckend gegen den Lachtrieb, mit dem ich sie angesteckt hatte! Und so
saßen denn wir beide, den Hotelgenossen als gesetzte ältere Leute
bekannt, wie die Schulkinder an unseren Plätzen, blickten vor uns hin,
schielten eins zum andern, und unsre Gesichter arbeiteten zuckend, um
des Lachens Meister zu bleiben. Zwei, drei andere im Saal bemerkten es
und fingen an, vergnügt und etwas spöttisch zu lächeln, und, als wäre
eine Fensterscheibe zerbrochen und der blauweiße Himmel hereingeflossen,
lief für Minuten eine frohe und kitzelnde Stimmung, ein Schmunzeln durch
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