Kurgast: Aufzeichnungen von einer Badener Kur - 8

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anruft, sobald er beim Kartenspiel ein bißchen verliert. Ich habe in
Wirtshäusern schon sehr häufig Menschen von gutem Ruf, die für durchaus
normal und ehrenwert gelten, wegen eines verlornen Spiels, namentlich
wenn sie einem Mitspieler meinten die Schuld am Verlust aufbürden zu
müssen, so fanatisch, so grob, so säuisch fluchen und toben sehen und
hören, daß ich sehr das Bedürfnis fühlte, beim nächsten Arzt die
Internierung dieser Unglücklichen zu beantragen. Es gibt eben vielerlei
Maßstäbe, die man alle gelten lassen kann; aber irgendeinen von ihnen,
sei es auch der der Wissenschaft oder der der augenblicklichen
öffentlichen Moral, für heilig zu halten will mir nicht gelingen.
Und der gleiche Mensch, der über die Selbstschilderung des Kurgastes
Hesse lachen kann und diesen Kerl ziemlich komisch findet (worin er
recht hat), würde sehr erstaunen, wenn er einen einzigen seiner eigenen
Gedankengänge, wenn er irgendeine seiner alltäglichen Reaktionen auf die
Umwelt genau und im Detail beschrieben und analysiert fände. Ebenso wie
unterm Mikroskop etwas sonst Unsichtbares oder Häßliches, ein Flöckchen
Dreck, zum wunderbaren Sternhimmel werden kann, ebenso würde unterm
Mikroskop einer wahrhaften Psychologie (welche noch nicht existiert)
jede kleinste Regung einer Seele, sei sie sonst noch so schlecht oder
dumm oder verrückt, zum heiligen, andächtigen Schauspiel werden, weil
man nichts in ihr sähe als ein Beispiel, ein gleichnishaftes Abbild des
Heiligsten, das wir kennen, des Lebens.
Es wäre anmaßend, wenn ich sagen wollte, alle meine literarischen
Versuche seit manchen Jahren seien nichts als ein Versuch, ein tastender
Versuch nach jenem fernen Ziele hin, eine dünne schwache Vorahnung jener
wahren Psychologie mit dem Weltauge, unter deren Blick nichts mehr klein
oder dumm oder häßlich oder böse ist, sondern alles heilig und
ehrwürdig. Und doch ist es irgendwie so.
Und wenn ich jetzt, Abschied nehmend von diesen Blättern, das Ganze
meiner Badener Epoche mit einem letzten Blick übersehe, so bleibt eine
Unzufriedenheit, ein Stachel, eine Trauer zurück. Diese Trauer gilt
nicht meinen Dummheiten, meinem Mangel an Geduld, meiner Nervosität,
meinen raschen harten Urteilen, kurz all meinen menschlichen
Unzulänglichkeiten und Fehlern, von welchen ich weiß, daß sie tief
bedingt und notwendig sind. Nein, meine Trauer, mein Leeregefühl und
Schmerz gilt diesen Aufzeichnungen, diesen Versuchen, ein winziges Stück
Leben möglichst wahr und aufrichtig aufzuzeigen. Ich bin betrübt und
beschämt, so muß ich gestehen, nicht über meine Sünden und Laster,
sondern lediglich über das Versagen meines sprachlichen Experimentes,
über den sehr geringen Ertrag meiner literarischen Anstrengung.
Und zwar ist es ein ganz bestimmter Punkt, in dem meine Enttäuschung
wurzelt. Vielleicht glückt es mir, dies durch ein Gleichnis klar zu
machen:
Wäre ich Musiker, so könnte ich ohne Schwierigkeit eine zweistimmige
Melodie schreiben, eine Melodie, welche aus zwei Linien besteht, aus
zwei Ton- und Notenreihen, die einander entsprechen, einander ergänzen,
einander bekämpfen, einander bedingen, jedenfalls aber in jedem
Augenblick, auf jedem Punkt der Reihe in der innigsten, lebendigsten
Wechselwirkung und gegenseitigen Beziehung stehen. Und jeder, der Noten
zu lesen versteht, könnte meine Doppelmelodie ablesen, sähe und hörte zu
jedem Ton stets den Gegenton, den Bruder, den Feind, den Antipoden. Nun,
und eben dies, diese Zweistimmigkeit und ewig schreitende Antithese,
diese Doppellinie möchte ich mit meinem Material, mit Worten, zum
Ausdruck bringen und arbeite mich wund daran, und es geht nicht. Ich
versuche es stets von neuem, und wenn irgend etwas meinem Arbeiten
Spannung und Druck verleiht, so ist es einzig dies intensive Bemühen um
etwas Unmögliches, dieses wilde Kämpfen um etwas nicht Erreichbares. Ich
möchte einen Ausdruck finden für die Zweiheit, ich möchte Kapitel und
Sätze schreiben, wo beständig Melodie und Gegenmelodie gleichzeitig
sichtbar wären, wo jeder Buntheit die Einheit, jedem Scherz der Ernst
beständig zur Seite steht. Denn einzig darin besteht für mich das Leben,
im Fluktuieren zwischen zwei Polen, im Hin und Her zwischen den beiden
Grundpfeilern der Welt. Beständig möchte ich mit Entzücken auf die
selige Buntheit der Welt hinweisen und ebenso beständig daran erinnern,
daß dieser Buntheit eine Einheit zugrunde liegt; beständig möchte ich
zeigen, daß Schön und Häßlich, Hell und Dunkel, Sünde und Heiligkeit
immer nur für einen Moment Gegensätze sind, daß sie immerzu ineinander
übergehen. Für mich sind die höchsten Worte der Menschheit jene paar, in
denen diese Doppeltheit in magischen Zeichen ausgesprochen ward, jene
wenigen geheimnisvollen Sprüche und Gleichnisse, in welchen die großen
Weltgegensätze zugleich als Notwendigkeit und als Illusion erkannt
werden. Der Chinese Lao Tse hat mehrere solche Sprüche geformt, in denen
beide Pole des Lebens für den Blitz eines Augenblicks einander zu
berühren scheinen. Noch edler und einfacher, noch herzlicher ist
dasselbe Wunder getan in vielen Worten Jesu. Ich weiß nichts so
Erschütterndes in der Welt wie dies, daß eine Religion, eine Lehre, eine
Seelenschule durch Jahrtausende die die Lehre von Gut und Böse, von
Recht und Unrecht immer feiner und straffer ausbildet, immer höhere
Ansprüche an Gerechtigkeit und Gehorsam stellt, um schließlich auf ihrem
Gipfel mit der magischen Erkenntnis zu enden, daß neunundneunzig
Gerechte vor Gott weniger sind als ein Sünder im Augenblick der Umkehr!
Aber vielleicht ist es ein großer Irrtum, ja, eine Sünde von mir, wenn
ich der Verkündigung dieser höchsten Ahnungen glaube dienen zu müssen.
Vielleicht besteht das Unglück unsrer jetzigen Welt gerade darin, daß
diese höchste Weisheit auf allen Gassen feilgeboten wird, daß in jeder
Staatskirche, neben dem Glauben an Obrigkeit, Geldsack und
Nationaleitelkeit, der Glaube an das Wunder Jesu gepredigt wird, daß das
Neue Testament, ein Behälter der kostbarsten und der gefährlichsten
Weisheiten, in jedem Laden käuflich ist und von Missionaren gar umsonst
verteilt wird. Vielleicht sollten solche unerhörte, kühne, ja
erschreckende Einsichten und Ahnungen, wie sie in manchen Reden Jesu
stehen, sorgfältig verborgen gehalten und mit Schutzwällen umbaut
werden. Vielleicht wäre es gut und zu wünschen, daß ein Mensch, um eines
jener mächtigen Worte zu erfahren, Jahre opfern und sein Leben wagen
müßte, so wie er es für andere hohe Werte im Leben auch tun muß. Wenn
dem so ist (und ich glaube an manchen Tagen, daß es so ist), dann tut
der letzte Unterhaltungsschriftsteller Besseres und Richtigeres als der,
der sich um den Ausdruck für das Ewige bemüht.
Dies ist mein Dilemma und Problem. Es läßt sich viel darüber sagen,
lösen aber läßt es sich nicht. Die beiden Pole des Lebens zueinander zu
biegen, die Zweistimmigkeit der Lebensmelodie niederzuschreiben, wird
mir nie gelingen. Dennoch werde ich dem dunklen Befehl in meinem Innern
folgen und werde wieder und wieder den Versuch unternehmen müssen. Dies
ist die Feder, die mein Ührlein treibt.

Ende

Druck vom
Bibliographischen Institut
in Leipzig
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