Kurgast: Aufzeichnungen von einer Badener Kur - 5

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und kein Finger an der Hand, bis kein Schuh, keine Augenbraue, keine
Wangenfalte mehr fehlte, bis ich ihn ganz und gar vor mir sah, ihn
innerlich völlig besaß, ihn gehen, sitzen, lachen und schlafen machen
konnte. Ich stellte ihn mir vor, wie er morgens sich die Zähne bürstete
und wie er nachts auf dem Kissen einschlief, ich sah das Müdewerden der
Augendeckel, sah den Hals sich entspannen und den Kopf weich
hinabwelken. Wohl eine Stunde dauerte es, bis ich ihn soweit hatte.
Damit war viel gewonnen. Etwas lieben, das bedeutet für den Dichter: es
in seine Phantasie aufnehmen, es dort wärmen und hegen, damit spielen,
es mit der eigenen Seele durchdringen, mit dem eigenen Atem beleben. So
tat ich mit meinem Feinde, bis er mir gehörte und in mich eingegangen
war. Ohne seinen etwas zu kurzen Hals wäre es wohl nicht geglückt, aber
der Hals kam mir zu Hilfe. Ich mochte den Holländer aus- oder anziehen,
ihn in Kniehosen oder Gehrock, in ein Ruderboot oder an einen
Mittagstisch setzen, ich mochte ihn zum Soldaten, zum König, zum
Bettler, zum Sklaven, zum Greis oder zum Kind machen, in jeder noch so
veränderten Gestalt hatte er einen kurzen Hals und ein klein wenig
vorstehende Augen. Dies Zeichen war sein schwacher Punkt, hier mußte ich
ihn angreifen. Lange brauchte ich, bis es mir gelang, den Holländer
jünger zu machen, bis ich ihn als jungen Ehemann, als Bräutigam, als
Studenten und Schüler vor mir sehen konnte. Als es mir endlich gelungen
war, ihn zum kleinen Knaben zurückzuverwandeln, da gewann der Hals zum
erstenmal meine Teilnahme. Auf dem sanften Wege des Mitleids eroberte er
mein Herz, als ich diesen kräftigen und energischen Knaben seinen Eltern
durch diese leisen Anzeichen einer asthmatischen Anlage Sorge machen
sah. Auf dem sanften Wege des Mitleids ging ich weiter, und es gehörte
wenig Kunst mehr dazu, auch die künftigen Jahre und Stufen zu
produzieren. Als ich soweit war, den ganzen Mann, um zehn Jahre
gealtert, seinen ersten Schlaganfall erleiden zu sehen, da sprach
plötzlich alles an ihm so rührend mit, die dicklichen Lippen, die
schweren Augendeckel, die wenig biegsame Stimme, alles gewann
Werbekraft, und noch ehe er in meiner intensiven Vorstellung den
imaginären Tod erlitten hatte, war sein Menschliches, seine Schwäche,
sein Sterbenmüssen mir schon so brüderlich nahe gekommen, daß ich ihn
längst liebte und keine Widerstände mehr gegen ihn hatte. Da war ich
froh, drückte ihm die Augen vollends zu und schloß meine eigenen, denn
es war schon Morgen und ich hing, von meiner langen nächtlichen Dichtung
völlig erschöpft, wie ein Gespenst in den Kissen.
Am folgenden Tage und in der folgenden Nacht hatte ich reichliche
Gelegenheit, festzustellen, daß ich Holland besiegt hatte. Der Mensch
mochte lachen oder husten, er mochte noch so gesund auftreten, noch so
dröhnend einherschreiten, er mochte Stühle rücken oder Witze machen, es
brachte mich nichts mehr aus dem Gleichgewicht. Am Tage konnte ich
leidlich arbeiten, in der Nacht leidlich ruhen.
Mein Triumph war groß, doch genoß ich ihn nicht lange. Am zweiten Morgen
nach der Siegesnacht reiste der Holländer plötzlich ab, womit wieder er
zum Sieger wurde, und ließ mich sonderbar enttäuscht zurück, da ich für
meine schwer errungene Liebe und Unanfechtbarkeit nun keine Verwendung
mehr hatte. Seine Abreise, die ich einst so innig herbeigesehnt hatte,
tat mir nun beinahe weh.
An seiner Stelle zog in Nummer 64 eine kleine graue Dame mit einem jener
gummibeschuhten Stöcke ein, die ich nur selten zu sehen oder zu hören
bekam. Sie war eine ideale Nachbarin, nie störte sie mich, nie erregte
sie Zorn und Feindschaft in mir. Doch kann ich das erst jetzt,
nachträglich, anerkennen. Mehrere Tage lang war die neue Nachbarschaft
mir eine ständige Enttäuschung, viel lieber hätte ich wieder meinen
Holländer da gehabt, ihn, den ich nun endlich hätte lieben können.


Mißmut

Wenn ich heute an den Optimismus meines ersten Badener Tages
zurückdenke, an meine damalige kindliche Hoffnungsfreudigkeit, an mein
naives Vertrauen in diese Badekur und gar an die schon mehr frivole,
selbstgefällige Einbildung und knabenhafte Eitelkeit, mit der ich damals
mich als verhältnismäßig jung und rüstig, als einen hoffnungsvollen
Leichtkranken einschätzte; wenn ich mich der ganzen spielerisch
leichtsinnigen Stimmung jener ersten Tage erinnere, meines primitiven
Negerglaubens an Baden, an die Harmlosigkeit und Heilbarkeit meiner
Ischias, an die warmen Quellen, an den Badearzt, an die Diathermie und
die Quarzlampe: dann kann ich nur schwer dem Drang widerstehen, mich vor
den Spiegel zu stellen und mir selber die Zunge herauszustrecken. Mein
Gott, wie sind diese Einbildungen geschwunden, wie sind diese Hoffnungen
erloschen, was ist übrig geblieben von jenem aufrechten, elastischen,
wohlwollend lächelnden Ankömmling, der an seinem Malakkastock spielend
und von sich selbst entzückt die Badestraße hinabtanzte! Wie ein
richtiger Affe komme ich mir jetzt vor. Ja, und was ist übrig geblieben
von der so optimistischen, glattlackierten, anpassungsbereiten,
weltmännischen Philosophie, mit der ich damals spielte und mich zierte
wie mit meinem Malakkastock!
Zwar dieser Spazierstock ist noch unverändert. Noch gestern habe ich das
Anerbieten des Bademeisters, einen jener verfluchten Gummizapfen über
das Ende meines hübschen Stockes zu stülpen, mit Entrüstung
zurückgewiesen. Aber wer weiß, ob ich dies Anerbieten, wenn es morgen
wiederholt wird, nicht annehme?
Ich habe scheußliche Schmerzen, und nicht bloß beim Gehen, sondern auch
beim Sitzen, so daß ich seit vorgestern fast immer liege. Wenn ich
morgens aus meinem Bade steige, so machen die zwei kleinen Steinstufen
mir schwere Arbeit, keuchend und schwitzend ziehe ich mich am Geländer
empor, habe kaum mehr die Kraft, das Badetuch um mich zu schlagen, und
sinke dann für eine Weile im Stuhl zusammen. Das Anziehen der
Hausschuhe, des Schlafrockes ist eine verhaßte schwere Pflicht, der Weg
bis zum Schwefelbrunnen und später vom Brunnen zum Lift, vom Lift ins
Schlafzimmer ist eine scheußlich mühsame, endlose, schmerzhafte Reise.
Ich benütze bei dieser Morgenreise alle denkbaren Hilfsmittel, halte
mich am Badewärter, am Türpfosten, an jeder Brüstung fest, taste mich
den Wänden nach und bewege Beine und Rücken ohne jede ästhetische
Rücksicht in jener schwerfällig-traurigen, idiotenhaft-häßlichen, halb
schwimmenden Manier, die ich einstmals (o wie unsäglich lange ist das
her!) mit humorvollem Mitleid an jener alten Dame beobachtete, die ich
mit einer Seelöwin vergleichen zu müssen meinte. Wenn jemals ein
frivoles Witzwort strafend auf des Spötters Haupt zurückfiel, so ist es
hier geschehen.
Morgens, wenn ich auf dem Bettrand sitze und mich vor der qualvollen
Aufgabe scheue, mich zu meinen Schuhen niederzubücken, oder wenn ich
nach dem Bade, todmüde, halbschlummernd auf dem Stuhl in der Badezelle
hänge, dann sagt mir die Erinnerung, daß es noch vor kurzem, noch vor
wenigen Wochen Morgen gegeben hat, an denen ich, kaum dem Bett
entschlüpft, kraftvoll und genau meine Atemübungen vornahm, den
Brustkorb dehnte, den Bauch zum Riemen einzog, den gestauten Atem
beherrscht und rhythmisch wie aus einer Oboe entströmen ließ. Es muß
wahr sein, aber schon kann ich nicht mehr recht daran glauben, daß ich
einst mit straffgestreckten Beinen und durchgedrückten Knien auf
federnden Zehen zu stehen, daß ich tiefe langsame Kniebeugen und alle
jene andern hübschen Turnstücke auszuführen vermochte!
Allerdings hat man mir gleich beim Beginn der Kur gesagt, daß
möglicherweise solche Reaktionen eintreten könnten, daß die Bäder sehr
ermüden und daß bei manchen Patienten vorerst die Schmerzen sich in der
Kur noch steigern. Nun ja, ich hatte dazu genickt. Aber daß diese
Ermüdung so jämmerlich, die Zunahme der Schmerzen so heftig und
niederdrückend sein könnte, hatte ich nicht geahnt. Ich bin in acht
Tagen ein alter Mann geworden, der in Haus und Garten da und dort auf
den Bänken herumsitzt und jedesmal Mühe hat, wieder hochzukommen, der
keine Treppen mehr steigt und dem der Liftboy beim Ein- und Aussteigen
behilflich sein muß.
Auch von außen her kam allerlei Enttäuschendes. In Zürich, ein paar
Meter von hier, sitzen mehrere nahe Freunde von mir, und sie wissen, daß
ich krank und hier zur Kur bin, zwei von ihnen haben mir ihren Besuch
sogar geradezu versprochen, als ich sie auf der Durchreise besuchte.
Gekommen aber ist keiner, und natürlich wird auch keiner kommen; daß ich
mich darauf verließ und freute, war wieder eine meiner nicht
auszurottenden Infantilitäten. Nein, sie kommen natürlich nicht, ich
weiß ja doch, wie viel sie zu tun haben, alle diese armen und geplagten
Menschen, und wie spät sie oft ins Bett kommen, nach dem Theater, dem
Restaurant, der Einladung; es war dumm von mir, daran nicht zu denken
und ganz wie ein kleines Kind ohne weiteres zu erwarten, die Leute
würden sich ein Vergnügen daraus machen, mir, einem kranken und
langweiligen Menschen, Besuche zu machen. Aber immer setze ich das
Ungeheuerste voraus, erwarte das Überschwänglichste; kaum kenne ich
jemand und finde ihn sympathisch, so traue ich ihm schon auch das
Allerbeste zu, ja, fordere es von ihm und bin entzaubert und betrübt,
wenn es nicht stimmt. So ging es mir auch mit der ziemlich hübschen und
jungen Dame im Hotel, mit der ich mich einige Male unterhalten habe und
die mir recht gut gefiel. Nachdem sie mir als ihre Lieblingsbücher
einige schlechte Unterhaltungsromane genannt hatte, war ich zwar einen
Moment erschrocken, sagte mir aber alsbald, daß ich, der Fachmann und
Kenner in literarischen Dingen, kein Recht habe, auf diesem Gebiet auch
bei anderen Urteil und Verständnis vorauszusetzen. Ich schluckte jene
Büchertitel, strafte mich selbst und traute weiterhin der Dame das Beste
und Edelste zu. Und nun hat sie gestern abend im Salon drüben diesen
Mord begangen! Sie, eine angenehme, heitere und sogar hübsche Dame, eine
Frau, die in meiner Gegenwart sicher kein Kind prügeln und kein Tier
quälen würde, hat in meiner Gegenwart, mit heiterer Stirn und
unschuldigen Augen, am Klavier eine liebenswürdige Menuett aus dem
achtzehnten Jahrhundert mit ungeübten, aber kräftigen Händen
vergewaltigt und totgeschlagen! Ich war ganz entsetzt und traurig und
rot vor Scham, aber es fiel niemandem auf, daß da etwas Schlimmes
geschehen war, ich saß mit meinen törichten Gefühlen allein. O wie
sehnte ich mich nach meiner Einsamkeit, nach meiner Höhle, die ich nie
hätte verlassen sollen, wo es zwar Leiden und Nöte genug gibt, aber
keine Klaviere, keine literarischen Gespräche, keine gebildeten
Nebenmenschen!
Und die ganze Kur, das ganze Baden ist mir so scheußlich zuwider
geworden. Von den Gästen unsres Hotels sind, wie ich weiß, die
allermeisten nicht zum erstenmal in Baden, viele besuchen das Bad zum
sechsten-, zum zehntenmal, und nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird
es mir gehen wie ihnen, wie allen Stoffwechselkranken, daß nämlich das
Leiden von Jahr zu Jahr fataler wird und daß die Hoffnung auf Heilung
der bescheideneren Hoffnung weicht, durch solche Kuren wenigstens
alljährlich für eine Weile etwas Erleichterung zu finden. Der Arzt zwar
bleibt fest bei seinen Versicherungen, aber das ist ja sein Beruf, und
daß wir Patienten äußerlich gut aussehen und den Eindruck gedeihlichsten
Wohlergehens machen, dafür sorgt materiell das üppige Essen und
koloristisch die Quarzlampe, die uns auf das dekorativste bräunt, so daß
wir aussehen wie Leute, die soeben blühend vom Hochgebirge zurückkehren.
Dabei verkommt man auch moralisch in dieser faulen und erschlaffenden
Badeatmosphäre. Meine paar guten spartanischen Gewohnheiten, die ich mir
in Jahren anerzogen, das Atmen und Turnen, das Vorliebnehmen mit magerer
Kost, sind mir verloren gegangen, übrigens unter direkter Unterstützung
des Arztes; auch meine anfängliche Beobachtungs- und Arbeitslust ist
fast ganz verschwunden. Nicht daß es um diese _Psychologia Balnearia_
schade wäre – im Gegenteil, sie war von Anfang an ja nicht ein Opus,
kein zielbewußter Gestaltungsversuch, sondern eben eine Beschäftigung,
eine kleine tägliche Übung für Auge und Handgelenk. Aber auch darüber
wird die Trägheit Herr, ich brauche wenig Tinte mehr. Wäre der Sieg über
den Holländer nicht, der mir auch schon unverhältnismäßig schwer fiel,
so müßte ich geradezu eine Verluderung und Versumpfung feststellen. Und
in manchen Punkten muß ich dies wirklich. Vor allem hat sich meiner eine
Trägheit, eine mißgelaunte Faulheit bemächtigt, die mich von allem Guten
und Nützlichen abhält, namentlich von jeder noch so geringen
körperlichen Anstrengung. Kaum zum kleinsten Spaziergang kann ich mich
bringen, nach Tische liege ich, ebenso wie nach den Bädern und
Behandlungen, stundenlang auf dem Bett oder im Liegestuhl, und wie es
geistig mit mir steht, das werde ich später deutlich ablesen können,
wenn ich diese albernen Aufzeichnungen, mit denen ich mich aus einem
Rest von Pflichtgefühl noch je und je eine Stunde lang plage, einmal
wieder lesen werde. Ich bestehe ganz und gar nur noch aus Trägheit, aus
matter Langeweile, fauler Schlafsucht.
Ein noch beschämenderes Bekenntnis bleibt mir nicht erspart. Daß ich
nichts arbeiten, nicht denken, kaum lesen mag, daß ich seelisch und
leiblich jede Frische und Energie verloren habe, wäre schlimm genug,
aber es kommt noch immer ärger. Ich habe angefangen, mich gerade der
oberflächlichen und verdummenden, der öden und lasterhaften Seite dieses
trägen Kurgastlebens hinzugeben. Ich esse zum Beispiel mittags all die
guten fetten Bissen nicht mehr bloß so mit, spaßeshalber und mit innerer
Überlegenheit oder mindestens Ironie, wie ich es zu Anfang tat – nein,
ich esse, ich fresse, obwohl ich längst nicht mehr weiß, was Hunger ist,
diese feinen langen Menus täglich zweimal herunter mit der
unbeherrschten, dummen Völlerei des gelangweilten Menschen, des fetten,
lieblosen Bourgeois, ich trinke zum Abendessen meistens auch etwas Wein,
und vor dem Schlafengehen habe ich mir ein Fläschchen Bier angewöhnt,
etwas, was ich seit bald zwanzig Jahren nicht mehr getrunken hatte. Ich
nahm es anfangs als Schlafmittel, weil es mir empfohlen wurde, trinke es
nun aber seit Tagen rein aus Gewohnheit und Völlerei. Es ist nicht zu
glauben, wie schnell man das Schlechte und Dumme lernen kann, wie leicht
es ist, ein Hund von Faulenzer, ein Schwein von fettem Genießer zu
werden!
Aber mein Talent zum Laster hat sich keineswegs mit der Esserei und
Trinkerei, mit dem Nichtstun und Herumliegen begnügt. Mit der
körperlichen Verwöhnung und Trägheit geht die geistige Hand in Hand. Was
ich nie für möglich gehalten hätte, ist eingetreten: ich meide, nicht
bloß im Geistigen, alle anstrengenden, rauhen und gefährlichen Wege,
sondern suche, auch im Geistigen, träg und fresserhaft gerade jene
faden, perversen, idiotisch pompösen und inhaltlosen Vergnügungen auf,
die ich von jeher geflohen und verabscheut und wegen deren ich den
Bourgeois und Städter im besonderen, unsre Zeit und Zivilisation im
allgemeinen zuweilen angeklagt und verachtet habe. Ich habe mich jetzt
dem durchschnittlichen Niveau des Kurgastes soweit genähert, daß ich
einen Teil jener Vergnügungen nicht mehr verabscheue und fliehe, sondern
mitmache und aufsuche. Es wird nicht lange mehr dauern, so werde ich
auch noch die Kurliste lesen (von den Unterhaltungen der Patienten ist
diese mir die rätselhafteste), werde mich mit Frau Müller
nachmittagelang über ihre Rheumatismen unterhalten und über alle die
Arten von Tee, die es dagegen gibt, und werde meinen Freunden
Ansichtskarten mit Brautpaaren oder mit jenen kühnen Rübenmenschen
senden.
Die Kurkonzerte, die ich lange Zeit so sorgfältig gemieden habe, suche
ich jetzt häufig auf und sitze ebenso wie alle anderen auf einem Stuhle,
höre die Unterhaltungsmusik vorüberrinnen und habe das angenehme Gefühl,
es rinne damit hörbar und fühlbar ein Stück Zeit hinweg, ein Stück von
der Zeit, von der wir Kurgäste so viel übrig haben. Zuweilen gewinnt und
bezaubert mich auch die Musik selbst, der rein sinnliche Reiz der paar
gut gespielten Instrumente, wobei vom Charakter und Gehalt der
gespielten Stücke nichts in mein Bewußtsein tritt. Seichte Musikstücke,
deren bloße Machart und Handschrift mir sonst Ekel erregt hätte, höre
ich jetzt ohne Beschwerden bis zu Ende an. Ich sitze eine Viertelstunde,
zuweilen eine halbe Stunde lang, müde und in schlechter Haltung,
zwischen der Schar anderer gelangweilter Leute, höre wie sie die Zeit
hinfließen, mache wie sie ein gelangweiltes Gesicht, kratze mich wie sie
zuweilen gedankenlos am Hals oder Nacken, stütze das Kinn auf den
Stockgriff oder gähne, und nur in vereinzelten Augenblicken zuckt meine
Seele erschreckt und widerstrebend auf wie ein Steppentier, das
plötzlich gefangen im Stall erwacht, nickt aber bald wieder ein und
schläft und träumt weiter, unterirdisch, ohne mich, denn ich bin von ihr
getrennt, seit ich auf diesen Konzertstühlen sitze.
Und erst jetzt, wo ich selber ganz und gar ein Teil der Menge, ein
Durchschnittskurgast, ein gelangweilter müder Philister geworden bin,
erst jetzt fühle ich, wie lächerlich und frivol es war, wenn ich auf den
ersten Seiten dieser Schrift mich als einen normalen Vertreter dieser
Welt und Mentalität aufspielte. Ich tat es ironisch, und erst jetzt, wo
ich tatsächlich dieser normierten Alltagswelt angehöre, wo ich ohne
Seele in einem Saal sitze und Unterhaltungsmusik zu mir nehme, wie man
Tee oder Pilsner zu sich nimmt, erst jetzt fühle ich wieder ganz und
gar, wie sehr, wie bitter ich diese Welt hasse. Denn jetzt hasse und
verachte und verhöhne ich in dieser Welt mich selber, nichts andres
mehr. Nein, mit dieser Welt zu paktieren, ihr anzugehören, in ihr
Geltung zu haben und mich wohlzufühlen – ich spüre es in diesem
Augenblick mit jeder Faser meines Wesens –, das ist nichts für mich, das
ist mir verboten, das ist Sünde gegen alles Gute und Heilige, wovon ich
weiß und woran teilzuhaben mein Glück ist. Und nur darum, nur weil ich
zurzeit diese Sünde begehe, weil ich mit dieser Welt paktiert und sie
angenommen habe, ist mir jetzt so sterbensschlecht zumute! Und dennoch
verharre ich dabei, die Trägheit ist stärker als meine Einsicht, der
fette, faule Bauch stärker als die schüchtern klagende Seele.
Zuweilen lasse ich mich jetzt auch von meinen Mitkurgästen in die
Unterhaltung ziehen, wir stehen nach Tische ein wenig im Korridor herum
und äußern völlig übereinstimmende Meinungen über den Stand der Politik
und Währungen, über Wetter und Kur, auch über Lebensphilosophie und
Familiensorgen. Daß junge Menschen eben doch eine Autorität über sich
brauchen und daß es keinem schadet, wenn er zuzeiten hartes Holz bohren
und bittere Brocken schlucken muß, und andres dergleichen mehr, was ich
alles von vornherein bereitwillig bejahe, wozu ich, den Bauch voll guten
Essens, mein volles Einverständnis äußere. Hie und da zuckt die Seele
auf, das Wort im Munde wird mir zu Galle, und ich muß eilig und
rücksichtslos davonlaufen und die Einsamkeit suchen (o wie schwer ist
sie hier zu finden), aber so im großen und ganzen bin ich auch dieser
Sünde gegen den Geist, bin auch der Sünde des dummen, nutzlosen
Schwatzens, des faulen, gedankenlosen Jasagens schuldig geworden.
Eine andere Zerstreuung, an die ich mich hier zu gewöhnen beginne, ist
der Kinematograph. Mehrere Abende schon habe ich im Kino zugebracht, und
wenn ich es das erstemal nur tat, um irgendwo allein zu sein, keine
Gespräche anhören zu müssen und dem Bannkreis des Holländers zu
entkommen, so ging ich doch das zweitemal schon zum Vergnügen, aus
Zerstreuungssucht (auch an das Wort „Zerstreuung“, das früher in meinem
Sprachschatz fehlte, habe ich mich nun schon gewöhnt!). Ich ging mehrere
Male und habe mir, durch die Augenlust am Bilderspiel verführt und
abgestumpft, nicht nur das Haarsträubendste und Liebloseste an
Kunstersatz und Pseudodramatik, neben einer grauenhaften Musik,
widerspruchslos gefallen lassen, sondern habe auch die physisch wie
seelisch üble Atmosphäre in jenem Raume ertragen. Ich fange an, alles zu
ertragen, alles zu schlucken, auch das Dümmste, auch das Häßlichste. Ich
habe stundenlang einen Film abrollen sehen, in dem eine antike Kaiserin
samt Theater, Zirkus, Kirche, samt Gladiatoren und Löwen, Heiligen und
Eunuchen gezeigt wurde, und habe es ertragen, daß die höchsten Werte und
Zeichen, daß Thron und Zepter, Ornat und Heiligenschein, Kreuz und
Reichsapfel samt allen möglichen und unmöglichen Fähigkeiten und
Zuständen der Seele, daß Menschen und Tiere zu Hunderten zu lächerlichem
Zwecke aufgeboten und ins Schaufenster gestellt wurden, daß dieser an
sich prachtvolle Aufwand durch einen endlosen, völlig idiotischen Text
entwertet, durch eine falsche Dramatik vergiftet und durch ein herz- und
kopfloses Publikum (ich gehöre mit dazu) entwürdigt und zum Jahrmarkt
verdorben wurde. Es war in manchen Augenblicken scheußlich, ich war oft
nahe am Weglaufen, aber Ischiatiker laufen nicht so leicht weg, ich
blieb, ich sah den Schmarren bis zu Ende und werde vermutlich morgen
oder übermorgen wieder in jenen Saal gehen. Es wäre unrecht, wollte ich
leugnen, daß ich auch einige entzückende Sachen im Kino gesehen habe,
namentlich einen liebenswerten französischen Akrobaten und Humoristen,
der bessere Einfälle hatte als die meisten Dichter. Was ich anklage, was
meinen Ärger und Ekel erregt, das ist nicht der Kino, das bin einzig
ich, der Kinobesucher. Wer nötigt mich, dorthin zu gehen, die grausame
Musik zu erdulden, die idiotischen Texte zu lesen, das Wiehern der
Menge, meiner unschuldigeren Brüder, mit anzuhören? Ich habe in jenem
großen Film ein ganzes Dutzend prachtvoller Löwen, die wir zwei Minuten
vorher noch lebend gesehen hatten, als starre Leichen über den Sand
schleppen sehen und habe die Hälfte der Zuschauer diesen grausig
traurigen Anblick mit lautem Gelächter quittieren hören! Ist denn in den
hiesigen Thermalbädern etwas enthalten, ein Salz, eine Säure, ein Kalk,
etwas, das den Menschen nivelliert, das Hemmungen gegen alles Hohe,
Edle, Wertvolle erzeugt und Hemmungen gegen das Niedere und Vulgäre
aufhebt? Nun, ich beuge mich und schäme mich, und für später, für die
Zeit nach der Rückkehr in meine Steppe, habe ich einige Gelübde getan.
Bin ich nun zu Ende gekommen mit meiner Liste von schlechten
Gewohnheiten und neu gelernten Lastern? Nein, ich bin noch nicht am
Ende. Ich habe auch das Hasardspiel kennengelernt, ich habe öftere Male
mit Vergnügen und Spannung am grünen Tisch gespielt und auch an einer
Maschine, der man silberne Frankenstücke durch verschiedene kleine
Mündungen zu schlucken gibt. Ich kann leider nicht so ganz richtig
spielen, weil ich wenig Geld habe, aber das mir Mögliche habe ich doch
daran gerückt, und zweimal ist es mir geglückt, wohl eine Stunde lang zu
spielen, ohne daß ich am Ende mehr als einen oder zwei Franken verloren
hatte. Das eigentliche Spielererlebnis habe ich damit natürlich nicht
gehabt, aber ich habe also auch an dieser Blüte gerochen, und ich muß
gestehen, daß es mir ein großes Vergnügen gemacht hat. Ich muß auch
bekennen, daß ich kein schlechtes Gewissen dabei hatte, wie bei den
Konzerten, den Gesprächen mit den Kurgästen und den Kinolöwen, sondern
das ein bißchen Verpönte und Antibürgerliche dieses Lasters mundete mir
außerordentlich, und ich bedaure aufrichtig, daß ich nicht saftigere
Einsätze machen kann.
Die Sensationen des Spieles waren für mich etwa diese: Ich stand erst
eine kleine Weile am Rand des grünen Tisches, auf die Zahlenfelder
blickend, und lauschte auf die Stimme des Mannes an der Roulette. Die
Zahl, welche dieser Mann ausrief, die von dem rollenden Ball erwählte
Zahl, welche eine Sekunde vorher noch eine blinde, dumme Zahl unter
vielen ihresgleichen gewesen war, strahlte nun warm und hell auf, in der
Stimme des Mannes, in dem vom Ball besetzten Loch, in den Ohren und
Herzen der Hörer. _Quatre_, hieß es, oder _cinq_ oder _trois_, und nicht
nur in meinem Ohr und Bewußtsein, nicht nur auf der runden konischen
Gleitbahn des Balles strahlte die Zahl auf, sondern auch auf dem grünen
Tische. Wenn die Sieben herauskam, so nahm die steife schwarze Ziffer
Sieben in dem ihr zugehörigen grünen Felde für Sekunden einen festlichen
Schimmer an, sie drängte alle anderen Zahlen ins Wesenlose, denn alle
anderen waren ja bloß Möglichkeiten, sie allein war Erfüllung, hatte
Wirklichkeit. Das Wirklichwerden des Möglichen, das Daraufwarten und
Daranbeteiligtsein, das war die Seele des Spiels. Wenn ich nun einige
Minuten zugesehen und zugehört hatte und vom Spiele angesogen zu werden
begann, dann kam der erste schöne und hold erregende Moment: es wurde
die Sechs ausgerufen, und sie überraschte mich nicht, sie kam so
richtig, so selbstverständlich und wirklich heraus, als hätte ich sie
bestimmt erwartet, ja, als hätte ich selbst sie gerufen, sie gemacht und
erschaffen. Von dieser Sekunde an war meine Seele am Spiel beteiligt,
witterte das Schicksal, fühlte sich gut Freund mit dem Zufall, und das
ist, muß ich gestehen, ein überaus glücklich machendes Gefühl, es ist
der Kern und Magnet der ganzen Spielerei. Also ich hörte die Sieben,
dann die Eins, dann die Acht herauskommen, fühlte mich nicht überrascht
oder enttäuscht, glaubte gerade diese Zahlen erwartet zu haben, und nun
war der Kontakt da, ich war an den Strom angeschlossen und konnte mich
ihm überlassen. Ich blickte jetzt fest auf die grüne Ebene, las die
Zahlen und wurde von einer von ihnen angezogen, hörte sie leise rufen
(manchmal auch zwei zugleich), sah sie mir leise winken und setzte
meinen Franken auf diese Zahl. Kam sie nun nicht heraus, so war ich
nicht enttäuscht und entzaubert, sondern konnte warten, meine Sechs oder
Neun würde schon kommen. Und sie kam, beim zweiten- oder drittenmal, sie
kam richtig. Dieser Augenblick des Gewinnens ist wundervoll. Du hast das
Schicksal angerufen und dich ihm anheimgestellt, du glaubst in Kontakt
mit dem großen Geheimnis zu sein, hast das ahnende Gefühl, mit ihm im
Bunde und befreundet zu sein – und siehe, es ist wahr, es bestätigt
sich, deine stille, geheime Vorstellung, dein kleines verborgenes
Wunschbild strahlt auf, es vollzieht sich das Wunder, aus der Ahnung
wird Wirklichkeit, deine Zahl wird von der allmächtigen Glückskugel
auserwählt, der Mann am Rad ruft sie laut aus, und der Mann am Tisch
wirft dir im Bogen eine Handvoll aufblitzender Silberstücke zu. Das ist
außerordentlich hübsch, es ist ein reines Glück, und es hängt nicht vom
Gelde ab, denn ich, der ich dies schreibe, habe von allen meinen
gewonnenen Franken nicht einen behalten, das Spiel hat alle wieder
verschlungen, und dennoch leuchten jene schönen Augenblicke des
Gewinnens, jene wunderbar innigen, kindhaft vollen und satten
Erfüllungen ungetrübt und köstlich nach, jede war ein voll und prall
geschmückter Weihnachtsbaum, jede ein Wunder, jede ein Fest, und zwar
ein Fest der Seele, eine Bestätigung und Bejahung und Steigerung des
innersten, tiefsten Lebensinstinktes. Gewiß, man kann dieselbe Freude,
dasselbe wunderbare Glück auf höheren Ebenen, in edleren und
differenzierteren Formen erleben: das Aufleuchten einer tiefen
Lebenserkenntnis, der Moment eines inneren Sieges und am meisten der
schöpferische Augenblick, der Augenblick des Findens, des aufblitzenden
Einfalls, das triumphierende Ertasten des Treffers bei der Arbeit des
Künstlers, all das ist, in höhern Regionen, dem Erlebnis des
Spielgewinns ähnlich wie Bild und Spiegelbild. Aber wie selten erlebt
auch der Glückliche, auch der Begnadete jene hohen göttlichen
Augenblicke, wie selten leuchtet in uns ermüdeten späten Menschen eine
Befriedigung, ein sättigendes Glücksgefühl, das an Stärke und Pracht
sich mit den Glückserlebnissen der Kindheit vergleichen darf! Diese
Erlebnisse sind es, denen der Spieler nachjagt, auch wenn er scheinbar
das Geld meint. Diesen Paradiesvogel der Freude, in unsrem glatten faden
Leben so selten geworden, sucht er zu erjagen, ihm gilt die lodernde
Sehnsucht in seinem Blick.
Hin und her ging dann das Glück, für Momente war ich ganz eins mit ihm,
saß selber in der rollenden Kugel, gewann, und ein Gefühl köstlicher
Erregung durchrann mich schauernd. Dann war der Höhepunkt überschritten.
Ich hatte eine dicke Handvoll gewonnener Münzen in der Hosentasche und
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