Kurgast: Aufzeichnungen von einer Badener Kur - 7

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den ganzen Saal, als habe jedermann es nun ebenfalls bemerkt, wie
unsäglich blöde und lächerlich wir in unsrer Kurwürde und langweiligen
Traurigkeit dagesessen hatten.
Seit jenem Augenblick geht es mir wieder gut, ich bin nicht mehr bloß
Kurgast, auf das Kranksein und Kurieren spezialisiert, sondern die
Krankheit und Kur ist wieder zur Nebensache geworden. Weh tut es ja
immer noch, das ist nicht zu leugnen. Aber so soll es denn in Gottes
Namen wehtun; ich überlasse die Krankheit sich selber, ich bin nicht
dazu da, ihr den ganzen Tag den Hof zu machen.
Nach Tische sprach mich ein Hotelgast an, ein mir recht unsympathischer
Herr mit vielen Meinungen, der mir schon häufig Zeitungen angeboten und
Unterhaltungen aufgenötigt hatte; erst kürzlich hatte ich in einem
längeren äußerst langweiligen Gespräch über Schulwesen und Erziehung
allen seinen bewährten Grundsätzen und Meinungen rückhaltlos und
ergebenst zugestimmt. Nun kam er wieder daher, der Typ, aus seinem
gewöhnlichen Hinterhalt im Korridor, und stellte sich vor mir auf.
„Guten Tag,“ sagte er, „Sie sehen ja heute sehr vergnügt aus!“
„Gewiß, ich bin sehr vergnügt. Ich habe während des Mittagessens einige
Wolken am Himmel ziehen sehen, und da ich bisher der Meinung gewesen
war, diese Wolken seien bloß aus Papier und gehörten zur Saaldekoration,
war ich nun sehr froh über die Entdeckung, daß es richtige und wirkliche
Luft und Wolken waren. Sie sind vor meinen Augen davongeflogen, sie
waren nicht numeriert und an keiner hing ein Zettel mit dem
Verkaufspreis. Sie können sich denken, wie froh ich darüber bin. Die
Wirklichkeit existiert noch, mitten in Baden! Es ist wunderbar!“
O wie wenig schön war das Gesicht, das der Herr zu meinen Worten machte!
„So, so,“ sagte er so gedehnt, daß er eine Minute dazu brauchte. „Also
Sie haben geglaubt, es gebe keine Wirklichkeit mehr! Ja, wenn ich fragen
darf, was verstehen Sie denn unter Wirklichkeit?“
„Oh,“ sagte ich, „das ist philosophisch eine komplizierte Frage. Aber
praktisch kann ich sie ganz leicht beantworten. Unter Wirklichkeit, mein
Herr, verstehe ich ziemlich genau dasselbe, was man sonst auch ‚Natur‘
nennt. Jedenfalls verstehe ich unter Wirklichkeit nicht das, was uns
hier in Baden beständig umgibt; nicht Kur- und Krankengeschichten, nicht
diese Rheumatismusromane und Gichtdramen, nicht Promenade und
Kurkonzert, Menus und Programme, nicht Bademeister und Kurgäste.“
„Wie, also auch die Kurgäste sind für Sie keine Wirklichkeit? Also zum
Beispiel ich, der Mann, der mit Ihnen redet, soll keine Wirklichkeit
sein?!“
„Es tut mir leid, ich möchte Sie gewiß nicht verletzen, aber in der Tat
sind Sie für mich ohne Wirklichkeit. Sie sind, so wie Sie sich mir
darstellen, ohne jene überzeugenden Züge, die uns das Wahrgenommene zum
Erlebten, das Geschehen zur Wirklichkeit machen. Sie existieren, mein
Herr, dies kann ich nicht bestreiten. Sie existieren aber auf einer
Ebene, welche einer zeitlich-räumlichen Wirklichkeit in meinen Augen
ermangelt. Sie existieren, möchte ich sagen, auf einer Ebene des
Papieres, des Geldes und Kredits, der Moral, der Gesetze, des Geistes,
der Achtbarkeit, Sie sind ein Raum- und Zeitgenosse der Tugend, des
kategorischen Imperativs und der Vernunft und vielleicht sind Sie sogar
mit dem Ding an sich oder mit dem Kapitalismus verwandt. Aber Sie haben
nicht die Wirklichkeit, die mich bei jedem Stein oder Baum, bei jeder
Kröte, bei jedem Vogel unmittelbar überzeugt. Ich kann Sie, mein Herr,
bis ins Unermessene billigen, achten, ich kann Sie anzweifeln oder
gelten lassen, aber es ist mir unmöglich, Sie zu erleben, es ist mir
völlig unmöglich, Sie zu lieben. Sie teilen dies Schicksal mit Ihren
Verwandten und werten Angehörigen, mit der Tugend, der Vernunft, dem
kategorischen Imperativ und mit allen Idealen der Menschheit. Ihr seid
großartig. Wir sind stolz auf euch. Aber wirklich seid ihr nicht.“
Der Herr riß seine Augen sehr auf.
„Wenn Sie nun aber zufällig meine Handfläche auf Ihrem Gesicht spüren
sollten, wären Sie dann von meiner Wirklichkeit überzeugt?“
„Sollten Sie dies Experiment ausführen, so wäre es erstens Ihr Schade,
denn ich bin kräftiger als Sie und bin im Augenblick wunderbar frei von
allen moralischen Hemmungen; aber außerdem würden Sie auch durch den so
freundlich angebotnen Beweis Ihr Ziel nicht erreichen. Ich würde auf Ihr
Experiment zwar mit jenem ganzen, so wundervoll spielenden Apparat der
Selbsterhaltung reagieren, aber Ihr Angriff würde mich nicht von Ihrer
Wirklichkeit, von der Existenz einer Person und Seele bei Ihnen
überzeugen. Wenn ich den Zwischenraum zwischen zwei elektrischen Polen
mit meinem Arm oder Bein ausfülle, so setze ich mich ebenfalls einer
Entladung aus, ohne daß ich deshalb den elektrischen Strom für eine
Persönlichkeit, für ein Wesen von meiner Art halten würde.“
„Sie sind eine Künstlernatur, nun ja, der mag manches erlaubt sein. Es
scheint, daß Sie den Geist, das begriffliche Denken, hassen und
befehden. Meinetwegen, mögen Sie das tun. Aber wie stimmt das, Sie
Dichter, mit so vielen Ihrer eigenen Äußerungen? Ich kenne Sätze,
Artikel, Bücher von Ihnen, in denen Sie durchaus das Gegenteil predigen
und sich zu Vernunft und Geist bekennen, statt zur vernunftlosen und
zufälligen Natur, wo Sie für Ideen eintreten und das Geistige als
oberstes Prinzip anerkennen. Wie steht es nun damit, he?“
„So, tu ich das? Ja, das mag schon sein. Ich habe das Unglück, sehen
Sie, daß ich mir selber stets widerspreche. Die Wirklichkeit tut das
immer, bloß der Geist tut es nicht und die Tugend nicht und Sie nicht,
sehr wenig geehrter Herr. Zum Beispiel nach einem scharfen Marsch im
Sommer kann ich vom Verlangen nach einem Becher voll Wasser völlig
besessen sein und Wasser für das wunderbarste Ding in der Welt erklären.
Eine Viertelstunde später, wenn ich getrunken habe, ist nichts auf Erden
mir so uninteressant wie Wasser und Trinken. Ebenso halte ich es mit dem
Essen, mit dem Schlafen, mit dem Denken. Mein Verhältnis zum sogenannten
‚Geist‘ zum Beispiel ist genau dasselbe wie das zum Essen oder Trinken.
Manchmal gibt es nichts in der Welt, was mich so heftig anzieht und mir
so unentbehrlich scheint wie der Geist, wie die Möglichkeit der
Abstraktion, der Logik, der Idee. Dann wieder, wenn ich davon satt bin
und das Gegenteil brauche und begehre, ekelt aller Geist mich an wie
verdorbenes Essen. Ich weiß aus Erfahrung, daß dies Verhalten für
willkürlich und charakterlos, ja, für unerlaubt gilt, doch habe ich nie
verstehen können, warum? Denn ebenso wie ich zwischen Essen und Fasten,
Schlafen und Wachen beständig abwechseln muß, muß ich auch zwischen
Natürlichkeit und Geistigkeit, zwischen Erfahrung und Platonismus,
zwischen Ordnung und Revolution, zwischen Katholizismus und
Reformationsgeist beständig hin und her pendeln. Daß ein Mensch sein
Leben lang immer und immer den Geist verehren und die Natur verachten
kann, immer Revolutionär und niemals Konservativer sein kann oder
umgekehrt, das scheint mir zwar sehr tugendhaft, charaktervoll und
standhaft, aber es scheint mir auch ebenso fatal, widerlich und
verrückt, als wenn einer immerdar essen oder immerdar nur schlafen
wollte. Und doch beruhen alle Parteien, politische und geistige,
religiöse und wissenschaftliche, auf der Voraussetzung, ein so
verrücktes Verhalten sei möglich, sei natürlich! Auch Sie, Herr, finden
es nicht richtig, daß ich zu einer Stunde heftig in den Geist verliebt
bin und ihm das Unmögliche zutraue, zu einer andern Stunde aber den
Geist hasse und ausspeie und statt seiner Unschuld und Fülle der Natur
aufsuche! Warum denn? Warum finden Sie das Natürliche charakterlos, das
Gesunde und Selbstverständliche unerlaubt? Wenn Sie mir das erklären
können, dann will ich mich gerne mündlich und schriftlich in allen
Punkten als geschlagen bekennen. Ich werde Ihnen dann so viel Realität
zugestehen, als mir nur irgend möglich ist, einen ganzen Heiligenschein
von Wirklichkeit werde ich Ihnen verleihen. – Aber sehen Sie, Sie können
es eben nicht erklären! Sie stehen da, und unter Ihrer Weste ist wohl
ein gegessenes Menu, aber kein Herz, und in Ihrer täuschend nachgeahmten
Hirnschale ist wohl Geist, aber keine Natur. Ich habe nie etwas so
lächerlich Unwirkliches gesehen wie Sie, Sie Rheumatiker, Sie Kurgast!
Das Papier schimmert Ihnen ja durch die Knopflöcher, der Geist rinnt
Ihnen ja aus den Nähten, Mensch, innen ist ja nichts als Zeitung und
Steuerzettel, Kant und Marx, Plato und Zinstabelle. Wenn ich blase, sind
Sie weg! Wenn ich an meine Geliebte denke oder auch nur an eine kleine
gelbe Schlüsselblume, so genügt das, um Sie völlig aus der Realität
hinwegzudrücken! Sie sind kein Gegenstand, Sie sind kein Mensch, Sie
sind eine Idee, eine öde Abstraktion.“
Und in der Tat, als ich, etwas heftig geworden, aber bei bester Laune,
den Arm mit der geballten Faust ausstreckte, um der Figur ihre
Irrealität zu beweisen, da fuhr die Faust durch ihn hindurch, und weg
war er. Erst jetzt bemerkte ich, stehenbleibend, daß ich ohne Hut das
Haus verlassen und das einsame Flußufer aufgesucht hatte; allein stand
ich unter den schönen Bäumen, und das Wasser zog und rauschte. Und
wieder einmal war ich leidenschaftlich dem Gegenpol des Geistes zugetan,
war innig und trunken verliebt in die dumme gesetzlose Welt des Zufalls,
in das Spiel der Sonnen- und Schattenflecke am hellrosigen Boden, in die
vielen Melodien des strömenden Wassers. Ach, diese Melodien kannte ich!
Ich erinnerte mich eines Flusses, an dessen Ufer ich einst in Indien
gesessen war, als Kamerad eines alten Fährmanns, sein Name fiel mir
nicht mehr ein, vor tausend Jahren, berauscht vom Gedanken der Einheit,
nicht minder berauscht vom Spiel der Mannigfaltigkeit und des Zufalls.
Ich dachte an meine Geliebte, an das Stück ihrer Ohrmuschel, das
zwischen ihren Haaren hervorschaut, und war von Herzen bereit, alle
Altäre, welche ich jemals der Vernunft und der Idee errichtete, zu
verleugnen und einzureißen und einen neuen Altar zu bauen, jener halb
sichtbaren, geheimnisvollen Ohrmuschel zu Ehren. Daß die Welt eine
Einheit und dennoch voller Vielfalt ist, daß Schönheit nur im
Vergänglichen möglich, daß Gnade nur dem Sünder erlebbar ist, für diese
und hundert andere tiefe und ewige Wahrheiten konnte ebensogut jene
holde Ohrmuschel Symbol und heiliges Zeichen sein wie irgendeine Isis,
ein Vishnu oder eine Lotosblume.
Wie rauschte unter mir im steinigen Bette der Fluß, wie sang das
Mittagslicht an den gefleckten Platanenstämmen auf und nieder! Wie schön
war es zu leben! Vergessen und verweht war jene tolle Lachlust vom
Speisesaal, Tränen standen mir in den Augen, tiefe Mahnung rief mir aus
dem Rauschen des heiligen Flusses, mein Herz war voll Friede und
Dankbarkeit. Jetzt erst wurde, indem ich unter den Bäumen lange hin und
wider ging, der Abgrund von Verdrossenheit, Verirrung, Leid und Torheit
mir sichtbar, in dem ich diese letzte Zeit gelebt hatte! Mein Gott, wie
kläglich sah es mit mir aus, wie wenig brauchte es, um mich zu einem
ekelhaften feigen Kerl zu machen! Ein wenig Krankheit und Schmerzen, ein
paar Wochen Kurleben, eine Periode von Schlaflosigkeit, und schon
versank ich bis zum Hals in schlechte Laune und Verzweiflung. Ich, der
die Stimme indischer Götter gehört hatte! Wie gut, daß diese böse
Bezauberung endlich durchbrochen war, daß wieder Luft, Sonnenlicht und
Wirklichkeit mich umgab, daß ich wieder göttliche Stimmen vernahm,
wieder Andacht und Liebe im Herzen fühlte!
Aufmerksam durchlief ich im Gedächtnis diese schmählichen Tage, betrübt
und verwundert, traurig und auch lachend über alle die Torheiten, die
mich eingesponnen hatten. Nein, nun brauchte ich den Kursaal nicht mehr
zu besuchen, auch den so würdevollen Spielsaal nicht, jetzt war ich
nicht mehr in Verlegenheit, wie ich meine Zeit herumbringen solle. Der
Zauber war gelöst.
Und wenn ich heute, wenige Tage vor dem Ende meiner Kur, darüber
nachdenke, wie das so kommen konnte, wenn ich die Ursache meines
Niedergangs und all dieser beschämenden Erlebnisse suche, dann brauche
ich nur irgendeine Seite dieser Notizen zu lesen, um die Ursache
deutlich zu sehen. Nicht meine Phantastik und Träumerei, nicht mein
Mangel an Moralität und Bürgerlichkeit war daran schuld, sondern genau
das Gegenteil. Ich war gerade allzu moralisch, allzu vernünftig, allzu
bürgerlich gewesen! Ein alter, ewiger Fehler, den ich hundertmal
begangen und bitter bereut habe, ist mir auch diesmal wieder passiert.
Ich wollte mich einer Norm anpassen, ich wollte Forderungen erfüllen,
die gar niemand an mich stellte, ich wollte etwas sein oder spielen, was
ich gar nicht war. Und so war es mir wieder einmal geschehen, daß ich
mich selbst und das ganze Leben vergewaltigt hatte.
Ich hatte etwas sein wollen, was ich nicht war. Wie denn? Ich hatte aus
meiner Ischias eine Spezialität gemacht, hatte die Rolle des
Ischiatikers, des Kurgastes, des der bürgerlichen Umgebung sich
anpassenden Hotelgastes gespielt, statt einfach zu bleiben der ich war.
Ich hatte Baden, hatte die Kur, hatte meine Umgebung, hatte meine
Gliederschmerzen viel zu wichtig genommen, ich hatte mir in den Kopf
gesetzt, durch Abbüßung dieser Kur gesundwerden zu müssen. Auf dem Wege
der Buße, der Strafe, der Werkheiligkeit, durch Bad und Waschung, Arzt
und Brahmanenzauber hatte ich erreichen wollen, was nur auf dem Weg der
Gnade erreicht werden kann.
Immer ist es mir so ergangen. Auch diese famose Badepsychologie, die ich
mir da im warmen Wasser ausgebrütet habe, ist so ein Streich, ist ein
Versuch, das Leben gedanklich zu vergewaltigen, und mußte mißlingen und
sich rächen. Weder bin ich, wie ich mir eine Weile einbildete, der
Vertreter einer besonderen Ischiatiker-Philosophie, noch gibt es
überhaupt eine solche Philosophie. Es gibt auch die Weisheit der
Fünfzigjährigen nicht, von der ich in der Vorrede phantasiert habe. Es
mag ja sein, daß mein heutiges Denken ein wenig anders ist als vor
zwanzig Jahren, aber mein Fühlen und Sein, mein Wünschen und Hoffen ist
nicht anders, ist weder klüger noch dümmer geworden. Heut wie damals
kann ich bald ein Kind, bald ein alter Mann sein, bald zwei Jahre alt,
bald tausend. Und meine Versuche, mich der normierten Welt anzupassen,
den Fünfzigjährigen und Ischiatiker zu spielen, bleiben ebenso
ergebnislos wie mein Versuch, mich mit Ischias und Baden durch das
Mittel meiner Psychologie zu versöhnen.
Es gibt zwei Wege zur Erlösung: den Weg der Gerechtigkeit, für die
Gerechten, und den Weg der Gnade, für die Sünder. Ich, der ich ein
Sünder bin, habe wieder den Fehler begangen, es mit der Gerechtigkeit zu
versuchen. Nie wird sie mir gelingen. Und sie, süße Milch für den
Gerechten, ist für uns Sünder Gift, sie macht uns böse. Es ist mein
Schicksal, daß ich diese Versuche, diese Fehlgänge wieder und wieder
machen muß, wie es auch im Geistigen mein Schicksal ist, daß ich, der
ich ein Dichter bin, stets von neuem den Versuch unternehmen muß, die
Welt, statt mit der Kunst, mit dem Denken zu bewältigen. Immer wieder
tue ich diese weiten und mühsamen, einsamen Gänge, versuche es inständig
mit der Vernunft, und immer endet es mit einem Zustand von Leid und
Verirrtsein. Aber immer wieder folgt diesem Tod auch die Neugeburt,
immer wieder rührt Gnade mich an, und das Leid und Verirrtsein ist nicht
mehr schlimm, die Fehlgänge sind gut gewesen, die Niederlagen sind
köstlich gewesen, denn sie haben mich zurück ans Herz der Mutter
geworfen, haben mir von neuem das Erlebnis der Gnade ermöglicht.
Und so will ich aufhören, auf mich selbst los zu moralisieren, ich will
die Vernunft- und Psychologieversuche, will die Kurversuche, will die
Niederlagen und Verzweiflungen nicht schelten, nicht bereuen, will mich
nicht mehr anklagen. Es ist ja alles gut geworden. Ich höre ja die
Stimme Gottes wieder, es ist ja alles gut.
Wenn ich mich heut in meinem Zimmer Nummer 65 umsehe, dann geht es mir
komisch, nämlich ich empfinde im Gedanken an den baldigen Abschied für
dies Zimmer ein Heimatgefühl, der Abschied tut mir schon im voraus ein
wenig weh. Wie oft habe ich hier am kleinen Tisch meine Blätter
vollgeschrieben, manchmal voll Freude und im Gefühl, ich tue da etwas
Wertvolles, manchmal voll Mißmut und Unglauben und doch der Arbeit
hingegeben, dem Versuch des Verstehens und Erklärens oder wenigstens des
aufrichtigen Bekennens! Wie oft habe ich in diesem Lehnstuhl meinen Jean
Paul gelesen! Wieviel halbe und ganze Nächte lag ich schlaflos in diesem
Alkovenbett, in mich selbst versenkt, mit mir hadernd, mich
rechtfertigend, mich selbst und meine Leiden als ein Gleichnis, als ein
Rätselbild empfindend, dessen Deutung und Lösung einmal glücken müsse!
Wieviel Briefe habe ich hier empfangen und geschrieben, Briefe von
Unbekannten und an Unbekannte, denen mein in Büchern gespiegeltes Wesen
verwandt erscheint, die in Frage und Bekenntnis, in Anklage und Beichte
bei dem ihnen verwandt Scheinenden dasselbe suchen, was auch ich in
meinen Geständnissen und Dichtungen suche: Klarheit, Trost,
Rechtfertigung und neue Freude, neue Unschuld, neue Liebe zum Leben!
Wieviel Gedanken, wieviel Launen, wieviel Träume haben mich hier in
diesem kleinen Raum besucht! Hier habe ich am trüben müden Morgen mich
zum Bade aufgerafft und in den schmerzenden und steifen Gliedern den Tod
vorausgefühlt, die bange Schrift der Vergänglichkeit gelesen; hier habe
ich an manchem guten Abend meine Phantasien gesponnen oder mit dem
Holländer gekämpft. Hier habe ich, an jenem glücklichen Tage, damals
meiner Geliebten die Vorrede der Psychologie vorgelesen und sah ihre
Freude über die kleine Ehrung für Jean Paul, den auch sie so sehr liebt.
Und schließlich ist doch diese ganze Badener Zeit, diese Kur, diese
Krisis, dieses Verlieren und Wiederfinden des Gleichgewichts für mich
eine wichtige Epoche gewesen.
Und wie schade ist es, daß ich das Liebes- und Heimatgefühl für dies
kleine Hotelzimmer nicht schon vor drei oder vier Wochen gelernt habe!
Aber lassen wir es nun sein, wie es eben ist. Genug, daß ich dies Zimmer
und Hotel, den Holländer, die Kur wenigstens heute annehmen, lieben und
mir zu eigen machen kann. Ich sehe jetzt, wo meine Badener Tage zu Ende
gehen, daß es hier in Baden sehr hübsch ist. Ich glaube, ich könnte
monatelang hier leben. Ich müßte es eigentlich tun, schon um vieles
wieder gutzumachen, was ich hier gesündigt habe, an mir selbst, an der
Vernunft, am Kurbetrieb, an meinen Zimmer- und Tischnachbarn. Habe ich
nicht, an einigen ganz pessimistischen Tagen, sogar am Doktor
gezweifelt, an der Aufrichtigkeit seiner Versicherungen, am Wert der
Hoffnungen, die er mir machte? Nein, vieles wäre da gutzumachen. Und was
zum Beispiel berechtigte mich, Anstoß an der geheimen Bildergalerie des
Herrn Kesselring zu nehmen? War ich denn ein Sittenrichter? Hatte ich
denn nicht selber meine Liebhabereien, die auch nicht jeder billigen
würde? Und warum sah ich in jenem moralischen Herrn mit den Falten bloß
den Bürger, den Egoisten und anmaßenden Richter über andere? Ich hätte
ebensogut einen Römer, einen monumental stilisierten tragischen Helden
aus ihm machen können, untergehend an der eigenen Härte, leidend an der
eigenen Gerechtigkeit. Und so weiter; tausend Versäumnisse wären wieder
gutzumachen, tausend Sünden und Lieblosigkeiten zu büßen – wenn ich
nicht eben erst den Bußweg verlassen und mich der Gnade anheimgegeben
hätte. Lassen wir also die Sünden Sünden sein und seien wir froh, wenn
es uns glückt, eine Weile keine neuen anzuhäufen!
Indem ich mich nochmals über den Abgrund der vergangenen bösen Tage
beuge, sehe ich in der Tiefe, fern und klein, ein gespenstisches Bild
gespiegelt: den Kurgast Hesse, bleich und öde mit degoutiertem Gesicht
vor seinen Mahlzeiten sitzend, ein armer Kerl ohne Witz und Phantasie,
grau vor Unausgeschlafenheit, ein liebloser kranker Mensch, der seine
Ischias nicht besitzt, sondern von ihr besessen wird. Schaudernd wende
ich mich hinweg, froh, daß dieser arme Kerl nun gestorben ist und mir
nicht mehr begegnen kann. Er ruhe in Frieden!
Wenn man die Sprüche des Neuen Testaments nicht als Gebote nimmt,
sondern als Äußerungen eines ungewöhnlich tiefen Wissens um die
Geheimnisse unsrer Seele, dann ist das weiseste Wort, das je gesprochen
wurde, der kurze Inbegriff aller Lebenskunst und Glückslehre, jenes Wort
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, das übrigens erstaunlicherweise
auch schon im Alten Testamente steht. Man kann den Nächsten weniger
lieben als sich selbst – dann ist man der Egoist, der Raffer, der
Kapitalist, der Bourgeois, und man kann zwar Geld und Macht sammeln,
aber kein recht frohes Herz haben, und die feinsten und schmackhaftesten
Freuden der Seele sind einem verschlossen. Oder man kann den Nächsten
mehr lieben als sich selbst – dann ist man ein armer Teufel, voll von
Minderwertigkeitsgefühlen, voll Verlangen, alles zu lieben, und doch
voll Ranküne und Plagerei gegen sich selber, und lebt in einer Hölle,
die man sich täglich selber heizt. Dagegen das Gleichgewicht der Liebe,
das Liebenkönnen, ohne hier oder dort schuldig zu bleiben, diese Liebe
zu sich selbst, die doch niemandem gestohlen ist, diese Liebe zum
andern, die das eigne Ich doch nicht verkürzt und vergewaltigt! Das
Geheimnis alles Glücks, aller Seligkeit ist in diesem Wort enthalten.
Und wenn man will, so kann man es auch nach der indischen Seite hin
drehen und ihm die Bedeutung geben: Liebe den Nächsten, denn er ist du
selbst!, eine christliche Übersetzung des „_tat twam asi_“. Ach, alle
Weisheit ist so einfach, ist schon so lange, schon so genau und
unzweifelhaft ausgesprochen und formuliert worden! Warum gehört sie uns
nur zuzeiten, nur an den guten Tagen, warum nicht immer?


Rückblick

Dieses letzte Blatt schreibe ich nicht mehr in Baden. Ich bin nicht mehr
dort, ich bin – den Kopf schon voll neuer Versuche und Pläne – wieder in
meiner Steppe draußen, wieder in meiner Einsamkeit und Klause. Der
Kurgast Hesse ist Gott sei Dank gestorben und geht uns nichts mehr an.
Statt seiner ist nun wieder ein ganz anderer Hesse da, zwar ebenfalls
ein Mann mit Ischias, aber er hat sie, nicht sie ihn.
Als ich Baden verließ, fiel mir in der Tat der Abschied etwas schwer.
Ich hatte zu allerlei Dingen und Menschen eine Liebe gefaßt, die ich
jetzt losreißen mußte, zu meinem Zimmer, zu meinem Wirt, zu den Bäumen
am Flußufer, zum Arzt, der sich in der Abschiedsaudienz nochmals auf das
schönste bewährte, zu den Mardern, zu den freundlichen hübschen
Saaltöchtern Rösli, Trudi und den andern, zum Spielsaal, zu den
Gesichtern und Figuren mancher Leidensbrüder. Leb’ wohl, freundliche,
stets gutgelaunte, stets bereitwillige Helferin am Diathermie-Apparat!
Lebe wohl, Riesin aus Holland, und auch du, blondlockiger Held
Kesselring!
Sehr hübsch war der Abschied vom Wirt des Heiligenhofes. Lächelnd hörte
er meinen Dank, meine Lobsprüche auf sein Haus an, dann fragte er, wie
der Doktor mit mir und meiner Kur zufrieden sei, und als ich ihm
erzählte, der Arzt habe mich sehr gelobt und ich habe Aussicht auf
vollkommene Heilung, so daß ich also Baden jetzt ruhig verlassen könne,
da steigerte sich das Lächeln meines Gastfreundes zu behaglicher
Schelmerei, freundlich legte er mir eine Hand auf die Schulter und
sagte: „Ja, reisen Sie recht vergnügt! Ich gratuliere. Aber schauen Sie,
ich weiß etwas, was Sie vielleicht nicht wissen: Sie werden
wiederkommen!“
„Ich werde wiederkommen? Nach Baden?“ fragte ich.
Er lachte hell.
„Jawohl. Alle kommen sie wieder, geheilt oder ungeheilt, noch jeder ist
wiedergekommen. Das nächstemal sind Sie dann schon Stammgast.“
Ich habe dies Abschiedswort nicht vergessen. Vermutlich hat er recht.
Vermutlich werde ich wiederkommen, einmal, vielleicht viele Male. Aber
ich werde nie derselbe sein, der ich diesmal war. Ich werde wieder
baden, werde wieder elektrisiert, wieder gut gefüttert werden,
vielleicht auch wieder Depressionen haben und mißmutig werden und
trinken oder spielen, aber doch wird alles ganz anders sein, ebenso wie
meine Heimkehr in die Wildnis diesmal wieder eine andre war als jede
frühere. Im einzelnen wird alles das gleiche sein, alles sehr ähnlich,
im ganzen aber wird es neu und anders sein, andre Sterne werden drüber
stehen. Denn das Leben ist keine Rechnung und keine mathematische Figur,
sondern ein Wunder. So war es mein ganzes Leben lang: alles kam wieder,
die gleichen Nöte, die gleichen Gelüste und Freuden, die gleichen
Verlockungen, immer wieder stieß ich mir den Kopf an dieselben Kanten,
kämpfte mit den gleichen Drachen, jagte den gleichen Faltern nach,
wiederholte stets dieselben Konstellationen und Zustände, und doch war
es ein ewig neues Spiel, immer wieder schön, immer wieder gefährlich,
immer wieder erregend. Tausendmal bin ich übermütig gewesen, tausendmal
todmüde, tausendmal kindisch, tausendmal alt und kühl, und nichts hat
lange gedauert, alles kehrte stets wieder und war doch nie das gleiche.
Die Einheit, die ich hinter der Vielheit verehre, ist keine langweilige,
keine graue, gedankliche, theoretische Einheit. Sie ist ja das Leben
selbst, voll Spiel, voll Schmerz, voll Gelächter. Sie ist dargestellt
worden im Tanz des Gottes Shiwa, der die Welt in Scherben tanzt, und in
vielen anderen Bildern, sie weigert sich keiner Darstellung, keinem
Gleichnis. Du kannst jederzeit in sie eintreten, sie gehört dir in jedem
Augenblick, wo du keine Zeit, keinen Raum, kein Wissen, kein Nichtwissen
kennst, wo du aus der Konvention austrittst, wo du in Liebe und Hingabe
allen Göttern, allen Menschen, allen Welten, allen Zeitaltern angehörst.
In diesen Augenblicken erlebst du Einheit und Vielfalt zugleich, siehst
Buddha und Jesus an dir vorübergehen, sprichst mit Moses, spürst
Ceylon-Sonne auf deiner Haut und siehst die Pole im Eis starren. Zehnmal
bin ich dort drüben gewesen, in dieser kurzen Zeit seit meiner Rückkehr
von Baden.
Ich bin also nicht „gesund“ geworden. Es geht mir besser, der Arzt ist
zufrieden, aber geheilt bin ich nicht, es kann jederzeit wiederkommen.
Außer der tatsächlichen Besserung habe ich auch das aus Baden
mitgebracht, daß ich jetzt aufgehört habe, meine Ischias allzu grimmig
zu verfolgen. Ich sehe ein, daß sie zu mir gehört, daß sie wohlerworben
ist wie das beginnende Grau in meinem Haar und daß es unklug ist, sie
einfach ausradieren oder wegzaubern zu wollen. Seien wir verträglich mit
ihr, gewinnen wir sie durch Versöhnlichkeit!
Und wenn ich wieder einmal nach Baden komme, werde ich anders in das
warme Wasser steigen, andres mit meinen Nachbarn erleben, andre Sorgen
und Spiele haben, andres auf meine Papiere schreiben. Ich werde auf neue
Arten mich versündigen, auf neuen Wegen wieder zu Gott finden. Und immer
werde ich glauben, der Handelnde, der Denkende, der Lebende zu sein, und
weiß doch, daß Er es ist.
Wenn ich jetzt auf die paar Kurwochen zurückblicke, so entsteht in mir,
wie bei jeder Rückschau, jene angenehme Illusion der Überlegenheit, des
Verstehens und Durchschauens, die man in der Jugend bei jeder neuen
Lebensstufe so innig genießt. Ich sehe die Leiden meines
jüngstvergangenen Ich, die leiblichen Schmerzen und die seelischen Nöte
hinter mir liegen, die fatale Situation ist überstanden, und jener
Hesse, der vor kurzem in Baden sich so komisch benahm, scheint mir weit
unter dem klugen heutigen Hesse zu stehen, der auf ihn zurücksieht. Ich
sehe, wie übertrieben dieser Kurgast Hesse auf lächerliche Kleinigkeiten
reagiert, erkenne das drollige Spiel seiner Gebundenheiten und Komplexe
und vergesse, daß jene Kleinigkeiten mir klein und lächerlich nur darum
erscheinen, weil sie nicht mehr aktuell sind.
Aber was ist groß oder klein, wichtig oder unwichtig? Die Psychiater
erklären einen Menschen für gemütskrank, der auf kleine Störungen,
kleine Reizungen, kleine Beleidigungen seines Selbstgefühls empfindlich
und heftig reagiert, während derselbe Mensch vielleicht Leiden und
Erschütterungen gefaßt erträgt, welche der Majorität sehr schlimm
erscheinen. Und ein Mensch gilt für gesund und normal, dem man lange auf
die Zehen treten kann, ohne daß er es merkt, der die elendeste Musik,
die kläglichste Architektur, die verdorbenste Luft klaglos und
beschwerdelos erträgt, der aber auf den Tisch haut und den Teufel
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