Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 3

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und liess ihn ins Wasser fallen. Er hob den Kopf nicht wieder; nicht
einmal die Beine, die am Ufer lagen, bewegte er mehr.
Bei dem Aufklatschen des Wassers waren die Grillen einen Augenblick
verstummt. Nun setzte ihr Zirpen wieder ein, der Park rauschte leise
auf, und durch die lange Allee herunter klang gedämpftes Lachen.


Der Tod.

Den 10. September.
Nun ist der Herbst da, und der Sommer wird nicht zurückkehren; niemals
werde ich ihn wiedersehen ...
Das Meer ist grau und still, und ein feiner, trauriger Regen geht
hernieder. Als ich das heute Morgen sah, habe ich vom Sommer Abschied
genommen und den Herbst begrüsst, meinen vierzigsten Herbst, der nun
wirklich unerbittlich heraufgezogen ist. Und unerbittlich wird er jenen
Tag bringen, dessen Datum ich manchmal leise vor mich hin spreche, mit
einem Gefühl von Andacht und stillem Grauen ...

Den 12. September.
Ich bin mit der kleinen Asuncion ein wenig spazieren gegangen. Sie ist
eine gute Begleiterin, die schweigt und manchmal nur gross und liebevoll
die Augen zu mir emporschlägt.
Wir sind den Strandweg nach Kronshafen gegangen, aber wir sind recht
zeitig wieder umgekehrt, bevor wir noch mehr als einen oder zwei
Menschen getroffen hatten.
Während wir zurückschritten, freute ich mich über den Anblick meines
Hauses. Wie gut ich es mir gewählt habe! Schlicht und grau blickt es von
dem Hügel, dessen Gras nun welk und feucht und dessen Weg aufgeweicht
ist, über das graue Meer hinaus. Auf der Rückseite führt die Chaussee
vorbei, und dahinter sind Felder. Aber darauf achte ich nicht; ich achte
nur auf das Meer.

Den 15. September.
Dieses einsame Haus auf dem Hügel am Meere unter dem grauen Himmel ist
wie ein düsteres, geheimnisvolles Märchen; und so will ich es haben in
meinem letzten Herbst. Heute Nachmittag aber, als ich am Fenster meines
Arbeitszimmers sass, war ein Wagen da, der Vorräte brachte, der alte
Franz half beim Auspacken, und es gab Geräusch und verschiedene Stimmen.
Ich kann nicht sagen, wie mich das störte. Ich zitterte vor
Missbilligung: Ich habe befohlen, dass dergleichen nur frühmorgens
geschehen soll, wenn ich schlafe. Der alte Franz sagte nur: -- Zu
Befehl, Herr Graf. Aber er sah mich mit seinen entzündeten Augen
ängstlich und zweifelnd an.
Wie könnte er mich verstehen? Er weiss es ja nicht. Ich will nicht, dass
Alltäglichkeit und Langeweile an meine letzten Tage rühren. Ich ängstige
mich davor, dass der Tod etwas Bürgerliches und Gewöhnliches an sich
haben könnte. Es soll um mich her fremdartig und seltsam sein an jenem
grossen, ernsten, rätselhaften Tage -- am zwölften Oktober ...

Den 18. September.
Während der letzten Tage bin ich nicht ausgegangen, sondern habe die
meiste Zeit auf der Chaiselongue zugebracht. Ich konnte auch nicht viel
lesen, weil dabei alle Nerven mich quälten. Ich habe einfach
stillgelegen und in den unermüdlichen, langsamen Regen hinausgeblickt.
Asuncion kam oft, und einmal brachte sie mir Blumen, ein paar dürre und
nasse Pflanzen, die sie am Strande gefunden; als ich das Kind zum Danke
küsste, weinte es, weil ich »krank« sei. Wie unsäglich schmerzlich mich
ihre zärtliche und wehmütige Liebe berührte!

Den 21. September.
Ich habe lange in meinem Arbeitszimmer am Fenster gesessen, und Asuncion
sass auf meinen Knieen. Wir haben auf das graue und weite Meer
hinausgeblickt, und hinter uns in dem grossen Gemach mit der hohen,
weissen Thür und den steiflehnigen Möbeln herrschte tiefe Stille. Und
während ich langsam das weiche Haar des Kindes streichelte, das schwarz
und schlicht auf ihre zarten Schultern hinabfliesst, habe ich
zurückgedacht in meinem wirren, bunten Leben; ich habe an meine Jugend
gedacht, die still war und behütet, an meine Wanderungen durch die ganze
Welt und an die kurze, lichte Zeit meines Glückes.
Erinnerst du dich des anmutigen und flammend zärtlichen Geschöpfes unter
dem Sammethimmel von Lissabon? Es sind zwölf Jahre, dass sie dir das
Kind schenkte und starb, während ihr schmaler Arm um deinen Hals lag.
Sie hat die dunklen Augen ihrer Mutter, die kleine Asuncion; nur müder
sind sie und nachdenklicher. Vor allem aber hat sie ihren Mund, diesen
unendlich weichen und doch ein wenig herb geschnittenen Mund, der am
schönsten ist, wenn er schweigt und nur ganz leise lächelt.
Meine kleine Asuncion! Wenn du wüsstest, dass ich dich werde verlassen
müssen. Weintest du, weil ich »krank« sei? Ach, was hat _das_ damit zu
thun! Was hat _das_ mit dem zwölften Oktober zu thun!...

Den 23. September.
Tage, an denen ich zurückdenken kann und in Erinnerungen mich verlieren,
sind selten. Wie viele Jahre sind es, dass ich nur vorwärts zu denken
vermag, nur zu warten auf diesen grossen und schauerlichen Tag, auf den
zwölften Oktober meines vierzigsten Lebensjahres!
Wie es sein wird, wie es nur sein wird! Ich fürchte mich nicht, aber
mich dünkt, dass er qualvoll langsam herankommt, dieser zwölfte Oktober.

Den 27. September.
Der alte Doktor Gudehus kam von Kronshafen, er kam zu Wagen den
Chausseeweg gefahren und nahm das zweite Frühstück mit Asuncion und mir.
»Es ist nötig,« sagte er und ass ein halbes Huhn, »dass Sie sich
Bewegung machen, Herr Graf, viel Bewegung in frischer Luft. Nicht lesen!
Nicht denken! Nicht grübeln! Ich halte Sie nämlich für einen
Philosophen, he, he!«
Nun, ich habe die Achseln gezuckt und ihm herzlich für seine Bemühungen
gedankt. Auch für die kleine Asuncion gab er Ratschläge und betrachtete
sie mit seinem gezwungenen und verlegenen Lächeln. Er hat meine
Brom-Dosis erhöhen müssen; vielleicht, dass ich nun ein wenig mehr
schlafen kann.

Den 30. September.
Der letzte September! Nun ist es nicht lange mehr. Es ist drei Uhr
nachmittags, und ich habe mir ausgerechnet, wie viele Minuten noch
fehlen bis zum Beginn des zwölften Oktobers. Es sind 8460.
Ich habe nicht schlafen können heute Nacht, denn es ist Wind
aufgekommen, und das Meer und der Regen rauscht. Ich habe gelegen und
die Zeit vorbeischwinden lassen. Denken und grübeln? Ach nein! Doktor
Gudehus hält mich für einen Philosophen, aber mein Kopf ist sehr
schwach, und ich kann nur denken: Der Tod, der Tod!

Den 2. Oktober.
Ich bin tief ergriffen, und in meine Bewegung mischt sich ein Gefühl von
Triumph. Manchmal, wenn ich daran dachte, und man mich zweifelnd und
ängstlich ansah, habe ich gesehen, dass man mich für wahnsinnig hielt,
und ich habe mich selbst mit Argwohn geprüft. Ach nein! Ich bin nicht
wahnsinnig.
Ich las heute die Geschichte jenes Kaisers Friedrich, dem man
prophezeite, er werde »sub flore« sterben. Nun, er mied die Städte
Florenz und Florentinum, einst aber kam er dennoch nach Florentinum: und
er starb. -- Warum starb er?
Eine Prophezeiung ist an sich unbeträchtlich; es kommt darauf an, ob sie
Macht über dich gewinnt. Thut sie aber das, so ist sie schon bewiesen,
und sie wird in Erfüllung gehen. -- Wie? Und ist eine Prophezeiung, die
in mir selbst aufsteht und stark wird, nicht wertvoller als eine, die
von aussen käme? Und ist die unerschütterliche Kenntnis des Zeitpunktes,
an dem man sterben wird, zweifelhafter als die des Ortes?
Oh, es ist eine stete Verbindung zwischen dem Menschen und dem Tode! Du
kannst mit deinem Willen und deiner Überzeugung an seiner Sphäre saugen,
du kannst ihn herbeiziehen, dass er zu dir tritt, zu der Stunde, an die
du glaubst ...

Den 3. Oktober.
Oftmals, wenn meine Gedanken sich wie graue Gewässer vor mir ausbreiten,
die mir unendlich scheinen, weil sie umnebelt sind, sehe ich etwas wie
den Zusammenhang der Dinge und glaube die Nichtigkeit der Begriffe zu
erkennen.
Was ist Selbstmord? Der freiwillige Tod? Aber niemand stirbt
unfreiwillig. Das Aufgeben des Lebens und die Hingabe an den Tod
geschieht ohne Unterschied aus Schwäche, und diese Schwäche ist stets
die Folge einer Krankheit des Körpers oder der Seele, oder beider. Man
stirbt nicht, bevor man einverstanden damit ist ...
Bin ich einverstanden? Ich muss es wohl sein, denn ich glaube, dass ich
wahnsinnig werden könnte, wenn ich am zwölften Oktober nicht stürbe ...

Den 5. Oktober.
Ich denke unaufhörlich daran, und es beschäftigt mich ganz und gar. --
Ich sinne darüber, wann und woher mein Wissen mir gekommen ist, ich
vermag es nicht zu sagen! Ich wusste mit neunzehn oder zwanzig Jahren,
dass ich mit vierzig sterben müsste, und irgend eines Tages, als ich
mich eindringlich fragte, an welchem Tage es geschehen werde, da wusste
ich auch den Tag!
Und nun ist er so nahe herangekommen, so nahe, dass ich den kalten Atem
des Todes zu verspüren meine.

Den 7. Oktober.
Der Wind hat sich verstärkt, die See braust, und der Regen trommelt auf
dem Dache. Ich habe in der Nacht nicht geschlafen, sondern bin in meinem
Wettermantel hinunter an den Strand gegangen und habe mich dort auf
einen Stein gesetzt.
Hinter mir war in Dunkelheit und Regen der Hügel mit dem grauen Haus, in
dem die kleine Asuncion schlief, meine kleine Asuncion! Und vor mir
wälzte das Meer seinen trüben Schaum bis vor meine Füsse.
Ich habe die ganze Nacht hinausgeblickt, und mich dünkte, so müsse der
Tod sein oder das Nach dem Tode: dort drüben und draussen ein
unendliches, dumpf brausendes Dunkel. Wird dort ein Gedanke, eine Ahnung
von mir fortleben und -weben und ewig auf das unbegreifliche Brausen
horchen?

Den 8. Oktober.
Ich will dem Tode danken, wenn er kommt, denn nun wird es zu bald
erfüllt sein, als dass ich noch warten könnte. Drei kurze Herbsttage
noch, und es wird geschehen. Wie gespannt ich bin auf den letzten
Augenblick, den allerletzten! Sollte es nicht ein Augenblick des
Entzückens und unsäglicher Süssigkeit sein? Ein Augenblick höchster
Wollust?
Drei kurze Herbsttage noch, und der Tod wird hier zu mir ins Zimmer
treten -- wie er sich nur benehmen wird! Wird er mich behandeln wie
einen Wurm? Wird er mich an der Kehle packen und mich würgen? Oder wird
er mit seiner Hand in mein Gehirn greifen? -- Aber ich denke ihn mir
gross und schön und von einer wilden Majestät!

Den 9. Oktober.
Ich sagte zu Asuncion, als sie auf meinen Knieen sass: »Wie, wenn ich
bald von Dir ginge, auf irgend eine Weise? Würdest Du sehr traurig
sein?« Da schmiegte sie ihr Köpfchen an meine Brust und weinte
bitterlich. -- Mein Hals ist zugeschnürt vor Schmerz.
Übrigens habe ich Fieber. Mein Kopf ist heiss, und ich zittere vor
Kälte.

Den 10. Oktober.
Er war bei mir, diese Nacht war er bei mir! Ich habe ihn nicht gesehen
und nicht gehört, und dennoch habe ich mit ihm gesprochen. Es ist
lächerlich, aber er benahm sich wie ein Zahnarzt! -- »Es ist am besten,
wenn wir es gleich abmachen,« sagte er. Aber ich wollte nicht und wehrte
mich. Mit kurzen Worten habe ich ihn fortgeschickt.
»Es ist am besten, wenn wir es gleich abmachen!« Wie das klang! Es ging
mir durch Mark und Bein. So nüchtern, so langweilig, so bürgerlich! Nie
habe ich ein kälteres und hohnvolleres Gefühl von Enttäuschung gekannt.

Den 11. Oktober (11 Uhr abends).
Verstehe ich es? Oh! glaubt mir, dass ich es verstehe!
Vor anderthalb Stunden, als ich in meinem Zimmer sass, kam der alte
Franz zu mir herein; er zitterte und schluchzte. »Das Fräulein!« rief
er, »das Kind! Ach, kommen Sie schnell!« -- Und ich kam schnell.
Ich habe nicht geweint, und nur ein kalter Schauer schüttelte mich. Sie
lag in ihrem Bettchen, und ihr schwarzes Haar rahmte ihr blasses,
schmerzliches Gesichtchen ein. Ich bin bei ihr niedergekniet und habe
nichts gethan und nichts gedacht. -- Doktor Gudehus kam.
»Das ist ein Herzschlag,« sagte er und nickte wie einer, der nicht
überrascht ist. Dieser Stümper und Narr that, als habe er es gewusst!
Ich aber -- habe ich es verstanden? Oh, als ich allein war mit ihr --
draussen rauschten Regen und Meer, und der Wind heulte im Ofenrohr -- da
habe ich auf den Tisch geschlagen, so klar wurde es mir in einem
Augenblick! Zwanzig Jahre lang habe ich den Tod auf den Tag
herbeigezogen, der in einer Stunde beginnen wird, und in mir, tief
unten, ist etwas gewesen, das heimlich gewusst hat, ich könne dies Kind
nicht verlassen. Ich hätte nicht sterben können nach Mitternacht, und es
musste doch sein! Ich hätte ihn wieder fortgeschickt, wenn er gekommen
wäre: Aber er ist zuerst zu dem Kinde gegangen, weil er meinem Wissen
und Glauben gehorchen musste. -- Habe ich selbst den Tod an dein
Bettchen gezogen, habe ich dich getötet, meine kleine Asuncion? Ach, das
sind grobe, armselige Worte für feine und geheimnisvolle Dinge!
Lebe wohl, lebe wohl! Vielleicht, dass ich dort draussen einen Gedanken,
eine Ahnung von dir wiederfinde. Denn sieh: der Zeiger rückt, und die
Lampe, die dein süsses Gesichtchen erhellt, wird bald verlöschen. Ich
halte deine kleine, kalte Hand und warte. Gleich wird er zu mir treten,
und ich werde nur nicken und die Augen schliessen, wenn ich ihn sagen
höre: »Es ist am besten, wenn wir es gleich abmachen« ...


Der Wille zum Glück.

Der alte Hofmann hatte sein Geld als Plantagenbesitzer in Südamerika
verdient. Er hatte dort eine Eingeborene aus gutem Hause geheiratet und
war bald darauf mit ihr nach Norddeutschland, seiner Heimat, gezogen.
Sie lebten in meiner Vaterstadt, wo auch seine übrige Familie zu Hause
war. Paolo wurde hier geboren.
Die Eltern habe ich übrigens nicht näher gekannt. Jedenfalls war Paolo
das Ebenbild seiner Mutter. Als ich ihn zum ersten Male sah, das heisst,
als unsere Väter uns zum ersten Male zur Schule brachten, war er ein
mageres Bürschchen mit gelblicher Gesichtsfarbe. Ich sehe ihn noch. Er
trug sein schwarzes Haar damals in langen Locken, die wirr auf den
Kragen seines Matrosenanzuges niederfielen und sein schmales Gesichtchen
umrahmten.
Da wir es beide zu Hause sehr gut gehabt hatten, so waren wir mit der
neuen Umgebung, der kahlen Schulstube und besonders mit dem rotbärtigen,
schäbigen Menschen, der uns durchaus das ABC lehren wollte, nichts
weniger als einverstanden. Ich hielt meinen Vater, als er sich entfernen
wollte, weinend am Rocke fest, während Paolo sich gänzlich passiv
verhielt. Er lehnte regungslos an der Wand, kniff die schmalen Lippen
zusammen und blickte aus grossen, thränenerfüllten Augen auf die übrige
hoffnungsvolle Jugend, die sich gegenseitig in die Seiten stiess und
gefühllos grinste.
In dieser Weise von Larven umgeben, fühlten wir uns von vornherein zu
einander hingezogen und waren froh, als der rotbärtige Pädagoge uns
nebeneinander sitzen liess. Wir hielten uns fortan zusammen, legten
gemeinschaftlich den Grund zu unserer Bildung und trieben täglich
Tauschhandel mit unserem Butterbrot.
Er war übrigens schon damals kränklich, wie ich mich erinnere. Er musste
dann und wann längere Zeit die Schule versäumen, und wenn er wiederkam,
so zeigten seine Schläfen und Wangen noch deutlicher als gewöhnlich das
blassblaue Geäder, das man gerade bei zarten brünetten Menschen häufig
bemerken kann. Er hat das immer behalten. Es war das erste, was mir hier
bei unserem Wiedersehen in München auffiel und auch nachher in Rom.
Unsere Kameradschaft dauerte während all der Schuljahre ungefähr aus
demselben Grunde fort, aus welchem sie entstanden. Es war das »Pathos
der Distanz« dem grössten Teile unserer Mitschüler gegenüber, das jeder
kennt, der mit fünfzehn Jahren heimlich Heine liest und in Tertia das
Urteil über Welt und Menschen entschlossen fällt.
Wir hatten -- ich glaube, wir waren sechzehn Jahre alt -- auch zusammen
Tanzstunde und erlebten infolge dessen gemeinsam unsere erste Liebe.
Das kleine Mädchen, das es ihm angethan, ein blondes, fröhliches
Geschöpf, verehrte er mit einer schwermütigen Glut, die für sein Alter
bemerkenswert war und mir manchmal direkt unheimlich erschien.
Ich erinnere mich besonders _einer_ Tanzgesellschaft. Das Mädchen
brachte einem anderen kurz nacheinander zwei Cotillonorden und ihm
keinen. Ich beobachtete ihn mit Angst. Er stand neben mir an die Wand
gelehnt, starrte regungslos auf seine Lackschuhe und sank plötzlich
ohnmächtig zusammen. Man brachte ihn nach Hause, und er lag acht Tage
krank. Es erwies sich damals -- ich glaube, bei dieser Gelegenheit --
dass sein Herz nicht das gesündeste sei.
Schon vor dieser Zeit hatte er begonnen zu zeichnen, wobei er starkes
Talent entwickelte. Ich bewahre ein Blatt, das die mit Kohlenstift
hingeworfene Züge jenes Mädchens recht ähnlich zur Schau trägt, nebst
der Unterschrift: »Du bist wie eine Blume! -- Paolo Hofmann fecit.« --
Ich weiss nicht genau, wann es war, aber wir waren schon in den höheren
Klassen, als seine Eltern die Stadt verliessen, um sich in Karlsruhe
niederzulassen, wo der alte Hofmann Verbindungen hatte. Paolo sollte die
Schule nicht wechseln und ward zu einem alten Professor in Pension
gegeben.
Indessen blieb die Lage auch so nicht lange. Vielleicht war das folgende
nicht gerade die Veranlassung dazu, dass Paolo eines Tages den Eltern
nach Karlsruhe nachfolgte, aber jedenfalls trug es dazu bei.
In einer Religionsstunde nämlich schritt plötzlich der betreffende
Oberlehrer mit einem lähmenden Blick auf ihn zu und zog unter dem Alten
Testament, das vor Paolo lag, ein Blatt hervor, auf welchem eine bis auf
den linken Fuss vollendete, sehr weibliche Gestalt sich ohne jedes
Schamgefühl den Blicken darbot.
Also Paolo ging nach Karlsruhe, und dann und wann wechselten wir
Postkarten, ein Verkehr, der nach und nach gänzlich einschlief.
Nach unserer Trennung waren ungefähr fünf Jahre vergangen, als ich ihn
in München wieder traf. Ich ging an einem schönen Frühlingsvormittag die
Amalienstrasse hinunter und sah jemanden die Freitreppe der Akademie
herabsteigen, der von weitem beinahe den Eindruck eines italienischen
Modells machte. Als ich näher kam, war er es wahrhaftig.
Mittelgross, schmal, den Hut auf dem dichten schwarzen Haar
zurückgesetzt, mit gelblichem, von blauen Äderchen durchzogenem Teint,
elegant, aber nachlässig gekleidet, -- an der Weste waren zum Beispiel
ein paar Knöpfe nicht geschlossen -- den kurzen Schnurrbart leicht
aufgewirbelt, so kam er mit seinem wiegenden, indolenten Schritt auf
mich zu.
Wir erkannten uns ungefähr gleichzeitig, und die Begrüssung war sehr
herzlich. Er schien mir, während wir uns vorm Café Minerva wechselseitig
über den Verlauf der letzten Jahre ausfragten, in gehobener, beinahe
exaltierter Stimmung zu sein. Seine Augen leuchteten, und seine
Bewegungen waren gross und weit. Dabei sah er schlecht aus, wirklich
krank. Ich habe jetzt freilich leicht reden; aber es fiel mir
thatsächlich auf, und ich sagte es ihm sogar geradezu.
»So, noch immer?« fragte er. »Ja, ich glaube es wohl. Ich bin viel krank
gewesen. Noch im letzten Jahre lange sogar schwer krank. Es sitzt hier.«
Er deutete mit der linken Hand auf seine Brust.
»Das Herz. Es ist von jeher dasselbe gewesen. -- In letzter Zeit fühle
ich mich aber sehr gut, ganz ausgezeichnet. Ich kann sagen, dass ich
ganz gesund bin. Übrigens mit meinen 23 Jahren -- es wäre ja auch
traurig ...«
Seine Laune war wirklich gut. Er erzählte heiter und lebendig von seinem
Leben seit unserer Trennung. Er hatte bald nach derselben bei seinen
Eltern es durchgesetzt, Maler werden zu dürfen, war seit etwa
dreiviertel Jahren mit der Akademie fertig -- soeben war er nur zufällig
dort gewesen -- hatte einige Zeit auf Reisen, besonders in Paris gelebt
und sich nun seit ungefähr fünf Monaten hier in München niedergelassen
..... »Wahrscheinlich für lange Zeit -- wer weiss? Vielleicht für
immer ...«
»So?« fragte ich.
»Nun ja? Das heisst -- warum nicht? Die Stadt gefällt mir, gefällt mir
ausnehmend! Der ganze Ton -- wie? Die Menschen! Und -- was nicht
unwichtig ist -- die sociale Stellung als Maler, auch als ganz
unbekannter, ist ja exquisit, ist ja nirgends besser ...«
»Hast Du angenehme Bekanntschaften gemacht?«
»Ja. -- Wenige, aber sehr gute. Ich muss Dir zum Beispiel eine Familie
empfehlen .. Ich lernte sie im Fasching kennen ... Der Fasching ist
reizend hier --! _Stein_ heissen sie. _Baron_ Stein sogar.«
»Was ist denn das für ein Adel?«
»Was man Geldadel nennt. Der Baron war Börsenmann, hat früher in Wien
eine kolossale Rolle gespielt, verkehrte mit sämtlichen Fürstlichkeiten
und so weiter ... Dann geriet er plötzlich in Décadence, zog sich mit
ungefähr einer Million -- sagt man -- aus der Affaire und lebt nun hier,
prunklos, aber vornehm.«
»Ist er Jude?«
»Er, glaube ich, nicht. Seine Frau vermutlich. Ich kann übrigens nicht
anders sagen, als dass es äusserst angenehme und feine Leute sind.«
»Sind da -- Kinder?«
»Nein. -- Das heisst -- eine neunzehnjährige Tochter. Die Eltern sind
sehr liebenswürdig ...«
Er schien einen Augenblick verlegen und fügte dann hinzu:
»Ich mache Dir ernstlich den Vorschlag, Dich von mir dort einführen zu
lassen. Es wäre mir ein Vergnügen. Bist Du nicht einverstanden?«
»Aber gewiss. Ich werde Dir dankbar sein. Schon um die Bekanntschaft
dieser neunzehnjährigen Tochter zu machen --«
Er blickte mich von der Seite an und sagte dann:
»Nun schön. Schieben wir es dann nicht lange hinaus. Wenn es Dir passt,
komme ich morgen um 1 Uhr herum oder halb 2 und hole Dich ab. Sie wohnen
Theresienstrasse 25, erster Stock. Ich freue mich darauf, Ihnen einen
Schulfreund von mir zuzuführen. Die Sache ist abgemacht.«
In der That klingelten wir am nächsten Tage um die Mittagszeit in der
ersten Etage eines eleganten Hauses in der Theresienstrasse. Neben der
Glocke war in breiten, schwarzen Lettern der Name Freiherr von Stein zu
lesen.
Paolo war auf dem ganzen Wege erregt und beinahe ausgelassen lustig
gewesen; jetzt aber, während wir auf das Öffnen der Thür warteten, nahm
ich eine seltsame Veränderung an ihm wahr. Alles an ihm war, während er
neben mir stand, bis auf ein nervöses Zucken der Augenlider, vollkommen
ruhig, -- von einer gewaltsamen, gespannten Ruhe. Er hatte den Kopf ein
wenig vorgestreckt. Seine Stirnhaut war gestrammt. Er machte beinahe den
Eindruck eines Tieres, das krampfhaft die Ohren spitzt und mit
Anspannung aller Muskeln horcht.
Der Diener, der unsere Karten davontrug, kehrte zurück mit der
Aufforderung, einen Augenblick Platz zu nehmen, da Frau Baronin sofort
erscheinen werde, und öffnete uns die Thür zu einem mässig grossen,
dunkel möblierten Zimmer.
Bei unserem Eintritt erhob sich im Erker, von dem aus man auf die
Strasse hinausblickte, eine junge Dame in heller Frühlingstoilette und
blieb einen Augenblick mit forschender Miene stehen. »Die
neunzehnjährige Tochter« dachte ich, indem ich unwillkürlich einen
Seitenblick auf meinen Begleiter warf, und: »Baronesse Ada!« flüsterte
er mir zu.
Sie war von eleganter Gestalt, aber für ihr Alter reifen Formen und
machte mit ihren sehr weichen und fast trägen Bewegungen kaum den
Eindruck eines so jungen Mädchens. Ihr Haar, das sie über die Schläfen
und in zwei Locken in die Stirn frisiert trug, war glänzend schwarz und
bildete einen wirksamen Kontrast zu der matten Weisse ihres Teints. Das
Gesicht liess zwar mit seinen vollen und feuchten Lippen, der
fleischigen Nase und den mandelförmigen, schwarzen Augen, über denen
sich dunkle und weiche Brauen wölbten, nicht den geringsten Zweifel
aufkommen über ihre wenigstens zum Teil semitische Abstammung, war aber
von ganz ungewöhnlicher Schönheit.
»Ah -- Besuch?« fragte sie, indem sie uns ein paar Schritte entgegenkam.
Ihre Stimme war leicht verschleiert. Sie führte eine Hand zur Stirn, wie
um besser sehen zu können, während sie sich mit der anderen auf den
Flügel stützte, der an der Wand stand.
»Und sogar sehr willkommener Besuch --?« fügte sie mit derselben
Betonung hinzu, als ob sie meinen Freund erst jetzt erkannte; dann warf
sie einen fragenden Blick auf mich.
Paolo schritt auf sie zu und beugte sich mit der fast schläfrigen
Langsamkeit, mit der man sich einem auserlesenen Genuss hingiebt,
wortlos auf die Hand nieder, die sie ihm entgegenstreckte.
»Baronesse,« sagte er dann, »ich erlaube mir Ihnen einen Freund von mir
vorzustellen, einen Schulkameraden, mit dem ich das ABC erlernte ...«
Sie reichte auch mir die Hand, eine weiche, scheinbar knochenlose Hand
ohne Schmuck.
»Ich bin erfreut --« sagte sie, während ihr dunkler Blick, dem ein
leises Zittern eigen war, auf mir ruhte. »Und auch meine Eltern werden
sich freuen ... Man hat sie hoffentlich benachrichtigt.«
Sie nahm auf der Ottomane Platz, während wir beide ihr auf Stühlen
gegenüber sassen. Ihre weissen, kraftlosen Hände ruhten beim Plaudern im
Schoss. Die bauschigen Ärmel reichten nur wenig über den Ellbogen
hinüber. Der weiche Ansatz des Handgelenks fiel mir auf.
Nach ein paar Minuten öffnete sich die Thür zum anliegenden Zimmer, und
die Eltern traten ein. Der Baron war ein eleganter, untersetzter Herr
mit Glatze und grauem Spitzbart; er hatte eine unnachahmliche Art, sein
dickes goldenes Armband in die Manschette zurückzuwerfen. Es liess sich
nicht mit Bestimmtheit erkennen, ob seiner Erhebung zum Freiherrn einst
ein paar Silben seines Namens zum Opfer gefallen waren; dagegen war
seine Gattin einfach eine hässliche kleine Jüdin in einem geschmacklosen
grauen Kleid. An ihren Ohren funkelten grosse Brillanten.
Ich wurde vorgestellt und in durchaus liebenswürdiger Weise begrüsst,
während man meinem Begleiter wie einem guten Hausfreunde die Hand
schüttelte.
Nachdem über mein Woher und Wieso einige Fragen und Antworten gefallen
waren, begann man von einer Ausstellung zu sprechen, in der Paolo ein
Bild hatte, einen weiblichen Akt.
»Eine wirklich feine Arbeit!« sagte der Baron. »Ich habe neulich eine
halbe Stunde davor gestanden. Der Fleischton auf dem roten Teppich ist
eminent wirkungsvoll. Ja, ja, der Herr Hofmann!« Dabei klopfte er Paolo
gönnerisch auf die Schulter. »Aber nicht überarbeiten, junger Freund! Um
Gotteswillen nicht! Sie haben es dringend nötig, sich zu schonen. Wie
steht es denn mit der Gesundheit? --«
Paolo hatte, während ich den Herrschaften über meine Person die nötigen
Aufschlüsse erteilte, ein paar gedämpfte Worte mit der Baronesse
gewechselt, der er dicht gegenüber sass. Die seltsam gespannte Ruhe, die
ich vorhin an ihm beobachtet hatte, war keineswegs von ihm gewichen. Er
machte, ohne dass ich genau zu sagen vermöchte, woran es lag, den
Eindruck eines sprungbereiten Panthers. Die dunklen Augen in dem
gelblichen, schmalen Gesicht hatten einen so krankhaften Glanz, dass es
mich nahezu unheimlich berührte, als er auf die Frage des Barons im
zuversichtlichsten Tone antwortete:
»Oh, ausgezeichnet! Verbindlichen Dank! Es geht mir sehr gut!«
-- Als wir uns nach Verlauf von etwa einer Viertelstunde erhoben,
erinnerte die Baronin meinen Freund daran, dass in zwei Tagen wieder
Donnerstag sei, er möge ihren Five o'clock tea nicht vergessen. Sie bat
bei dieser Gelegenheit auch mich, diesen Wochentag freundlichst im
Gedächtnis zu behalten ...
Auf der Strasse zündete Paolo sich eine Cigarette an.
»Nun?« fragte er. »Was sagst Du?«
»Oh, das sind sehr angenehme Leute!« beeilte ich mich zu antworten. »Die
neunzehnjährige Tochter hat mir sogar imponiert!«
»Imponiert?« Er lachte kurz auf und wandte den Kopf nach der anderen
Seite.
»Ja, Du lachst!« sagte ich. »Und da oben dünkte es mich zuweilen, als
trübe -- geheime Sehnsucht Deinen Blick. Aber ich bin im Irrtum?«
Er schwieg einen Augenblick. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Wenn ich nur wüsste, woher Du ...«
»Aber sei so gut! -- Die _Frage_ ist für mich nur noch, ob auch
Baronesse Ada ...«
Er sah wieder einen Augenblick stumm vor sich nieder. Dann sagte er
leise und zuversichtlich:
»Ich glaube, dass ich glücklich sein werde.«
Ich trennte mich von ihm, indem ich ihm herzlich die Hand schüttelte,
obgleich ich innerlich ein Bedenken nicht unterdrücken konnte.
Es vergingen nun ein paar Wochen, in denen ich hin und wieder gemeinsam
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