Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 5

Total number of words is 4370
Total number of unique words is 1577
39.7 of words are in the 2000 most common words
53.5 of words are in the 5000 most common words
59.1 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Enttäuschungen im einzelnen zu berichten. Ich begnüge mich damit, zu
sagen, dass ich mit unglückseligem Eifer meine grossartigen Erwartungen
vom Leben durch tausend Bücher nährte: durch die Werke der Dichter. Ach,
ich habe gelernt, sie zu hassen, diese Dichter, die ihre grossen Wörter
an alle Wände schreiben und sie mit einer in den Vesuv getauchten Ceder
am liebsten an die Himmelsdecke malen möchten -- während doch ich nicht
umhin kann, jedes grosse Wort als eine Lüge oder als einen Hohn zu
empfinden!
Verzückte Poeten haben mir vorgesungen, die Sprache sei arm, ach, sie
sei arm -- oh nein, mein Herr! Die Sprache, dünkt mich, ist reich, ist
überschwenglich reich im Vergleich mit der Dürftigkeit und Begrenztheit
des Lebens. Der Schmerz hat seine Grenzen: der körperliche in der
Ohnmacht, der seelische im Stumpfsinn, -- es ist mit dem Glück nicht
anders! Das menschliche Mitteilungsbedürfnis aber hat sich Laute
erfunden, die über diese Grenzen hinweglügen.
Liegt es an mir? Läuft nur mir die Wirkung gewisser Wörter auf eine
Weise das Rückenmark hinunter, dass sie mir Ahnungen von Erlebnissen
erwecken, die es gar nicht giebt?
Ich bin in das berühmte Leben hinausgetreten, voll von dieser Begierde
nach einem, einem Erlebnis, das meinen grossen Ahnungen entspräche. Gott
helfe mir, es ist mir nicht zu teil geworden! Ich bin umhergeschweift,
um die gepriesensten Gegenden der Erde zu besuchen, um vor die
Kunstwerke hinzutreten, um die die Menschheit mit den grössten Wörtern
tanzt; ich habe davor gestanden und mir gesagt: Es ist schön. Und doch:
Schöner ist es nicht? Das ist das Ganze?
Ich habe keinen Sinn für Thatsächlichkeiten; das sagt vielleicht alles.
Irgendwo in der Welt stand ich einmal im Gebirge an einer tiefen,
schmalen Schlucht. Die Felsenwände waren nackt und senkrecht, und
drunten brauste das Wasser über die Blöcke vorbei. Ich blickte hinab und
dachte: Wie, wenn ich stürzte? Aber ich hatte Erfahrung genug, mir zu
antworten: Wenn es geschähe, so würde ich im Falle zu mir sprechen: Nun
stürzt du hinab, nun ist es Thatsache! Was ist das nun eigentlich? --
Wollen Sie mir glauben, dass ich genug erlebt habe, um ein wenig
mitreden zu können? Vor Jahren liebte ich ein Mädchen, ein zartes und
holdes Geschöpf, das ich an meiner Hand und unter meinem Schutze gern
dahingeführt hätte; sie aber liebte mich nicht, das war kein Wunder, und
ein anderer durfte sie schützen ... Giebt es ein Erlebnis, das
leidvoller wäre? Giebt es etwas Peinigenderes als diese herbe Drangsal,
die mit Wollust grausam vermengt ist? Ich habe manche Nacht mit offenen
Augen gelegen, und trauriger, quälender als alles übrige war stets der
Gedanke: Dies ist der grosse Schmerz! Nun erlebe ich ihn! -- Was ist das
nun eigentlich? --
Ist es nötig, dass ich Ihnen auch von meinem Glücke spreche? Denn auch
das Glück habe ich erlebt, auch das Glück hat mich enttäuscht ... Es ist
nicht nötig; denn dies alles sind plumpe Beispiele, die Ihnen nicht klar
machen werden, dass es das Leben im ganzen und allgemeinen ist, das
Leben in seinem mittelmässigen, uninteressanten und matten Verlaufe, das
mich enttäuscht hat, enttäuscht, enttäuscht.
»Was ist,« schreibt der junge Werther einmal, »der Mensch, der
gepriesene Halbgott? Ermangeln ihm nicht eben da die Kräfte, wo er sie
am nötigsten braucht? Und wenn er in Freude sich aufschwingt oder in
Leiden versinkt, wird er nicht in beiden eben da aufgehalten, eben da zu
dem stumpfen, kalten Bewusstsein wieder zurückgebracht, da er sich in
der Fülle des Unendlichen zu verlieren sehnte?«
Ich gedenke oft des Tages, an dem ich das Meer zum ersten Male
erblickte. Das Meer ist gross, das Meer ist weit, mein Blick schweifte
vom Strande hinaus und hoffte, befreit zu sein: dort hinten aber war der
Horizont. Warum habe ich einen Horizont? Ich habe vom Leben das
Unendliche erwartet.
Vielleicht ist er enger, mein Horizont, als der anderer Menschen? Ich
habe gesagt, mir fehle der Sinn für Thatsächlichkeiten, -- habe ich
vielleicht zu viel Sinn dafür? Kann ich zu bald nicht mehr? Bin ich zu
schnell fertig? Kenne ich Glück und Schmerz nur in den niedrigsten
Graden, nur in verdünntem Zustande?
Ich glaube es nicht; und ich glaube den Menschen nicht, ich glaube den
wenigsten, die angesichts des Lebens in die grossen Wörter der Dichter
einstimmen -- es ist Feigheit und Lüge! Haben Sie übrigens bemerkt, mein
Herr, dass es Menschen giebt, die so eitel sind und so gierig nach der
Hochachtung und dem heimlichen Neide der anderen, dass sie vorgeben, nur
die grossen Wörter des Glücks erlebt zu haben, nicht aber die des
Leidens?
Es ist dunkel, und Sie hören mir kaum noch zu; darum will ich es mir
heute noch einmal gestehen, dass auch ich, ich selbst es einst versucht
habe, mit diesen Menschen zu lügen, um mich vor mir und den anderen als
glücklich hinzustellen. Aber es ist manches Jahr her, dass diese
Eitelkeit zusammenbrach, und ich bin einsam, unglücklich und ein wenig
wunderlich geworden, ich leugne es nicht.
Es ist meine Lieblingsbeschäftigung, bei Nacht den Sternenhimmel zu
betrachten, denn ist das nicht die beste Art, von der Erde und vom Leben
abzusehen? Und vielleicht ist es verzeihlich, dass ich es mir dabei
angelegen sein lasse, mir meine Ahnungen wenigstens zu wahren? Von einem
befreiten Leben zu träumen, in dem die Wirklichkeit in meinen grossen
Ahnungen ohne den quälenden Rest der Enttäuschung aufgeht? Von einem
Leben, in dem es keinen Horizont mehr giebt?...
Ich träume davon, und ich erwarte den Tod. Ach, ich kenne ihn bereits so
genau, den Tod, diese letzte Enttäuschung! Das ist der Tod, werde ich im
letzten Augenblicke zu mir sprechen; nun erlebe ich ihn! -- _Was ist das
nun eigentlich?_ --
Aber es ist kalt geworden auf dem Platze, mein Herr; ich bin im stande,
das zu empfinden, hehe! Ich empfehle mich Ihnen aufs allerbeste.
Adieu ...


Der Bajazzo.

Nach allem zum Schluss und als würdiger Ausgang, in der That, alles
dessen ist es nun der Ekel, den mir das Leben -- mein Leben -- den mir
»alles das« und »das Ganze« einflösst, dieser Ekel, der mich würgt, mich
aufjagt, mich schüttelt und wieder niederwirft, und der mir vielleicht
über kurz oder lang einmal die notwendige Schwungkraft geben wird, die
ganze lächerliche und nichtswürdige Angelegenheit überm Knie zu
zerbrechen und mich auf und davon zu machen. Sehr möglich immerhin, dass
ich es noch diesen und den anderen Monat treibe, dass ich noch ein
Viertel- oder Halbjahr fortfahre zu essen, zu schlafen und mich zu
beschäftigen -- in derselben mechanischen, wohlgeregelten und ruhigen
Art, in der mein äusseres Leben während dieses Winters verlief, und die
mit dem wüsten Auflösungsprozess meines Innern in entsetzlichem
Widerstreite stand. Scheint es nicht, dass die inneren Erlebnisse eines
Menschen desto stärker und angreifender sind, je dégagierter,
weltfremder und ruhiger er äusserlich lebt? Es hilft nichts: man muss
leben; und wenn du dich wehrst, ein Mensch der Action zu sein, und dich
in die friedlichste Einöde zurückziehst, so werden die Wechselfälle des
Daseins dich innerlich überfallen, und du wirst deinen Charakter in
ihnen zu bewähren haben, seiest du nun ein Held oder ein Narr.
Ich habe mir dies reinliche Heft bereitet, um meine »Geschichte« darin
zu erzählen: warum eigentlich? Vielleicht um überhaupt etwas zu thun zu
haben? Aus Lust am Psychologischen vielleicht und um mich an der
Notwendigkeit alles dessen zu laben? Die Notwendigkeit ist so tröstlich!
Vielleicht auch, um auf Augenblicke eine Art von Überlegenheit über mich
selbst und etwas wie Gleichgültigkeit zu geniessen? -- Denn
Gleichgültigkeit, ich weiss, das wäre eine Art von Glück ...

I.
Sie liegt so weit dahinten, die kleine, alte Stadt mit ihren schmalen,
winkeligen und giebeligen Strassen, ihren gotischen Kirchen und Brunnen,
ihren betriebsamen, soliden und einfachen Menschen und dem grossen,
altersgrauen Patrizierhause, in dem ich aufgewachsen bin.
Das lag inmitten der Stadt und hatte vier Generationen von vermögenden
und angesehenen Kaufleuten überdauert. »Ora et labora« stand über der
Hausthür, und wenn man von der weiten, steinernen Diele, um die sich
oben eine Gallerie aus weisslackiertem Holze zog, die breite Treppe
hinangestiegen war, so musste man noch einen weitläufigen Vorplatz und
eine kleine, dunkle Säulenhalle durchschreiten, um durch eine der hohen,
weissen Thüren in das Wohnzimmer zu gelangen, wo meine Mutter am Flügel
sass und spielte.
Sie sass im Dämmerlicht, denn vor den Fenstern befanden sich schwere,
dunkelrote Vorhänge; und die weissen Götterfiguren der Tapete schienen
plastisch aus ihrem blauen Hintergrund hervorzutreten und zu lauschen
auf diese schweren, tiefen Anfangstöne eines Chopinschen Notturnos, das
sie vor allem liebte und stets sehr langsam spielte, wie um die
Melancholie eines jeden Accordes auszugeniessen. Der Flügel war alt und
hatte an Klangfülle eingebüsst, aber mit dem Piano-Pedal, welches die
hohen Töne so verschleierte, dass sie an mattes Silber erinnerten,
konnte man die seltsamsten Wirkungen erzielen.
Ich sass auf dem massigen, steiflehnigen Damastsofa und lauschte und
betrachtete meine Mutter. Sie war klein und zart gebaut und trug
meistens ein Kleid aus weichem, hellgrauem Stoff. Ihr schmales Gesicht
war nicht schön, aber es war unter dem gescheitelten, leichtgewellten
Haar von schüchternem Blond wie ein stilles, zartes, verträumtes
Kinderantlitz, und wenn sie, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, am
Klaviere sass, so glich sie den kleinen, rührenden Engeln, die sich auf
alten Bildern oft zu Füssen der Madonna mit der Guitarre bemühen.
Als ich klein war, erzählte sie mir mit ihrer leisen und zurückhaltenden
Stimme oft Märchen, wie sonst niemand sie kannte; oder sie legte auch
einfach ihre Hände auf meinen Kopf, der in ihrem Schosse lag, und sass
schweigend und unbeweglich. Mich dünkt, das waren die glücklichsten und
friedevollsten Stunden meines Lebens. -- Ihr Haar wurde nicht grau, und
sie schien mir nicht älter zu werden; ihre Gestalt ward nur beständig
zarter und ihr Gesicht schmaler, stiller und verträumter.
Mein Vater aber war ein grosser und breiter Herr in feinem, schwarzen
Tuchrock und weisser Weste, auf der ein goldenes Binocle hing. Zwischen
seinen kurzen, eisgrauen Cotelettes trat das Kinn, das wie die Oberlippe
glattrasiert war, rund und stark hervor, und zwischen seinen Brauen
standen stets zwei tiefe, senkrechte Falten. Es war ein mächtiger Mann
von grossem Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten; ich habe
Menschen ihn mit fliegendem Atem und leuchtenden Augen verlassen sehen
und andere, die gebrochen und ganz verzweifelt waren. Denn es geschah
zuweilen, dass ich und auch wohl meine Mutter und meine beiden älteren
Schwestern solchen Scenen beiwohnten; vielleicht, weil mein Vater mir
Ehrgeiz einflössen wollte, es so weit in der Welt zu bringen wie er;
vielleicht auch, wie ich argwöhne, weil er eines Publikums bedurfte. Er
hatte eine Art, an seinen Stuhl gelehnt und die eine Hand in den
Rockaufschlag geschoben, dem beglückten oder vernichteten Menschen
nachzublicken, die mich schon als Kind diesen Verdacht empfinden liess.
Ich sass in einem Winkel und betrachtete meinen Vater und meine Mutter,
wie als ob ich wählte zwischen beiden, und mich bedächte, ob in
träumerischem Sinnen oder in That und Macht das Leben besser zu
verbringen sei. Und meine Augen verweilten am Ende auf dem stillen
Gesicht meiner Mutter.

II.
Nicht dass ich in meinem äusseren Wesen ihr gleich gewesen wäre, denn
meine Beschäftigungen waren zu einem grossen Teile durchaus nicht still
und geräuschlos. Ich denke an eine davon, die ich dem Verkehr mit
Altersgenossen und ihren Arten von Spiel mit Leidenschaft vorzog, und
die mich noch jetzt, da ich beiläufig dreissig Jahre zähle, mit
Heiterkeit und Vergnügen erfüllt.
Es handelte sich um ein grosses und wohlausgestattetes Puppentheater,
mit dem ich mich ganz allein in meinem Zimmer einschloss, um die
merkwürdigsten Musikdramen darauf zur Aufführung zu bringen. Mein
Zimmer, das im zweiten Stocke lag, und in dem zwei dunkle
Vorfahrenportraits mit Wallensteinbärten hingen, ward verdunkelt und
eine Lampe neben das Theater gestellt; denn die künstliche Beleuchtung
erschien zur Erhöhung der Stimmung erforderlich. Ich nahm unmittelbar
vor der Bühne Platz, denn ich war der Kapellmeister, und meine linke
Hand ruhte auf einer grossen runden Pappschachtel, die das einzige
sichtbare Orchester-Instrument ausmachte.
Es trafen nunmehr die mitwirkenden Künstler ein, die ich selbst mit
Tinte und Feder gezeichnet, ausgeschnitten und mit Holzleisten versehen
hatte, so dass sie stehen konnten. Es waren Herren in Überziehern und
Cylindern und Damen von grosser Schönheit.
-- Guten Abend, sagte ich, meine Herrschaften! Wohlauf allerseits? Ich
bin bereits zur Stelle, denn es waren noch einige Anordnungen zu
treffen. Aber es wird an der Zeit sein, sich in die Garderoben zu
begeben.
Man begab sich in die Garderoben, die hinter der Bühne lagen, und man
kehrte bald darauf gänzlich verändert und als bunte Theaterfiguren
zurück, um sich durch das Loch, das ich in den Vorhang geschnitten
hatte, über die Besetzung des Hauses zu unterrichten. Das Haus war in
der That nicht übel besetzt, und ich gab mir das Klingelzeichen zum
Beginn der Vorstellung, worauf ich den Taktstock erhob und ein Weilchen
die grosse Stille genoss, die dieser Wink hervorrief. Alsbald jedoch
ertönte auf eine neue Bewegung hin der ahnungsvoll dumpfe Trommelwirbel,
der den Anfang der Ouverture bildete, und den ich mit der linken Hand
auf der Pappschachtel vollführte, -- die Trompeten, Klarinetten und
Flöten, deren Toncharakter ich mit dem Munde auf unvergleichliche Weise
nachahmte, setzten ein, und die Musik spielte fort, bis bei einem
machtvollen crescendo der Vorhang emporrollte und in dunklem Wald oder
prangendem Saal das Drama begann.
Es war vorher in Gedanken entworfen, musste aber im einzelnen
improvisiert werden, und was an leidenschaftlichen und süssen Gesängen
erscholl, zu denen die Klarinetten trillerten und die Pappschachtel
grollte, das waren seltsame, volltönende Verse, die voll grosser und
kühner Worte steckten und sich zuweilen reimten, einen verstandesmässigen
Inhalt jedoch selten ergaben. Die Oper aber nahm ihren Fortgang,
während ich mit der linken Hand trommelte, mit dem Munde
sang und musizierte und mit der Rechten nicht nur die darstellenden
Figuren, sondern auch alles übrige aufs umsichtigste dirigierte, so dass
nach den Aktschlüssen begeisterter Beifall erscholl, der Vorhang wieder
und wieder sich öffnen musste und es manchmal sogar nötig war, dass der
Kapellmeister sich auf seinem Sitze wendete und auf stolze zugleich und
geschmeichelte Art in die Stube hinein dankte.
Wahrhaftig, wenn ich nach solch einer anstrengenden Aufführung mit
heissem Kopf mein Theater zusammenpackte, so erfüllte mich eine
glückliche Mattigkeit, wie ein starker Künstler sie empfinden muss, der
ein Werk, an das er sein bestes Können gesetzt, siegreich vollendete. --
Dieses Spiel blieb bis zu meinem dreizehnten oder vierzehnten Jahre
meine Lieblingsbeschäftigung.

III.
Wie verging doch meine Kindheit und Knabenzeit in dem grossen Hause, in
dessen unteren Räumen mein Vater seine Geschäfte leitete, während oben
meine Mutter in einem Lehnsessel träumte oder leise und nachdenklich
Klavier spielte und meine beiden Schwestern, die zwei und drei Jahre
älter waren als ich, in der Küche und an den Wäscheschränken hantierten?
Ich erinnere mich an so weniges.
Fest steht, dass ich ein ungeheuer muntrer Junge war, der bei seinen
Mitschülern durch bevorzugte Herkunft, durch mustergültige Nachahmung
der Lehrer, durch tausend Schauspielerstückchen und durch eine Art
überlegener Redensarten sich Respekt und Beliebtheit zu verschaffen
wusste. Beim Unterricht aber erging es mir übel, denn ich war zu tief
beschäftigt damit, die Komik aus den Bewegungen der Lehrer
herauszufinden, als dass ich auf das übrige hätte aufmerksam sein
können, und zu Hause war mir der Kopf zu voll von Opernstoffen, Versen
und buntem Unsinn, als dass ich ernstlich im stande gewesen wäre, zu
arbeiten.
-- »Pfui,« sagte mein Vater, und die Falten zwischen seinen Brauen
vertieften sich, wenn ich ihm nach dem Mittagessen mein Zeugnis ins
Wohnzimmer gebracht und er das Papier, die Hand im Rockaufschlag,
durchlesen hatte. -- »Du machst mir wenig Freude, das ist wahr. Was soll
aus Dir werden, wenn Du die Güte haben willst, mir das zu sagen? Du
wirst im Leben niemals an die Oberfläche gelangen ...«
Das war betrübend; allein es hinderte nicht, dass ich bereits nach dem
Abendessen den Eltern und Schwestern ein Gedicht vorlas, das ich während
des Nachmittags geschrieben. Mein Vater lachte dabei, dass sein Pincenez
auf der weissen Weste hin und her sprang. -- »Was für Narrenspossen!«
rief er einmal über das andere. Meine Mutter aber zog mich zu sich,
strich mir das Haar aus der Stirn und sagte: -- »Es ist gar nicht
schlecht, mein Junge, ich finde, dass ein paar hübsche Stellen darin
sind.«
Später, als ich noch ein wenig älter war, erlernte ich auf eigene Hand
eine Art von Klavierspiel. Ich begann damit, in fis-dur Accorde zu
greifen, weil ich die schwarzen Tasten besonders reizvoll fand, suchte
mir Übergänge zu anderen Tonarten und gelangte allmählich, da ich lange
Stunden am Flügel verbrachte, zu einer gewissen Fertigkeit im takt- und
melodielosen Wechsel von Harmonieen, wobei ich in dies mystische Gewoge
so viel Ausdruck legte, wie nur immer möglich.
Meine Mutter sagte: -- »Er hat einen Anschlag, der Geschmack verrät.«
Und sie veranlasste, dass ich Unterricht erhielt, der während eines
halben Jahres fortgesetzt wurde, denn ich war wirklich nicht dazu
angethan, den gehörigen Fingersatz und Takt zu erlernen. --
Nun, die Jahre vergingen, und ich wuchs trotz der Sorgen, die mir die
Schule bereitete, ungemein fröhlich heran. Ich bewegte mich heiter und
beliebt im Kreise meiner Bekannten und Verwandten, und ich war gewandt
und liebenswürdig aus Lust daran, den Liebenswürdigen zu spielen,
obgleich ich alle diese Leute, die trocken und phantasielos waren, aus
einem Instinkt heraus zu verachten begann.

IV.
Eines Nachmittags, als ich etwa achtzehn Jahre alt war und an der
Schwelle der hohen Schulklassen stand, belauschte ich ein kurzes
Zwiegespräch zwischen meinen Eltern, die im Wohnzimmer an dem runden
Sofatisch beisammensassen und nicht wussten, dass ich im anliegenden
Speisezimmer thatenlos im Fenster lag und über den Giebelhäusern den
blassen Himmel betrachtete. Als ich meinen Namen verstand, trat ich
leise an die weisse Flügelthür, die halb offen stand.
Mein Vater sass in seinen Sessel zurückgelehnt, ein Bein über das andere
geschlagen, und hielt mit der einen Hand das Börsenblatt auf den Knieen,
während er auf der anderen langsam zwischen den Cotelettes sein Kinn
streichelte. Meine Mutter sass auf dem Sofa und hatte ihr stilles
Gesicht über eine Stickerei geneigt. Die Lampe stand zwischen beiden.
Mein Vater sagte: -- »Ich bin der Meinung, dass wir ihn demnächst aus
der Schule entfernen und in ein gross angelegtes Geschäft in die Lehre
thun.«
-- »Oh,« sagte meine Mutter ganz betrübt und blickte auf. »Ein so
begabtes Kind!«
Mein Vater schwieg einen Augenblick, während er mit Sorgfalt eine
Staubfaser von seinem Rocke blies. Dann hob er die Achseln empor,
breitete die Arme aus, indem er meiner Mutter beide Handflächen
entgegenhielt und sagte:
-- »Wenn Du annimmst, meine Liebe, dass zu der Thätigkeit eines
Kaufmanns keinerlei Begabung gehört, so ist diese Auffassung eine
irrige. Andererseits bringt es der Junge, wie ich zu meinem Leidwesen
mehr und mehr erkennen muss, auf der Schule schlechterdings zu nichts.
Seine Begabung, von der Du sprichst, ist eine Art von Bajazzobegabung,
wobei ich mich beeile, hinzuzufügen, dass ich dergleichen durchaus nicht
unterschätze. Er kann liebenswürdig sein, wenn er Lust hat, er versteht
es, mit den Leuten umzugehen, sie zu amüsieren, ihnen zu schmeicheln, er
hat das Bedürfnis, ihnen zu gefallen und Erfolge zu erzielen; mit
derartiger Veranlagung hat bereits mancher sein Glück gemacht, und mit
ihr ist er angesichts seiner sonstigen Indifferenz zum Handelsmann
grösseren Stils relativ geeignet.«
Hier lehnte mein Vater sich befriedigt zurück, nahm eine Cigarette aus
dem Etui und setzte sie langsam in Brand.
-- »Du hast sicherlich recht,« sagte meine Mutter und blickte wehmütig
im Zimmer umher. -- »Ich habe nur oftmals geglaubt und gewissermassen
gehofft, es könne einmal ein Künstler aus ihm werden ... Es ist wahr,
auf sein musikalisches Talent, das unausgebildet geblieben ist, darf
wohl kein Gewicht gelegt werden; aber hast Du bemerkt, dass er sich
neuerdings, seitdem er die kleine Kunstausstellung besuchte, ein wenig
mit Zeichnen beschäftigt? Es ist gar nicht schlecht, dünkt mich ...«
Mein Vater blies den Rauch von sich, setzte sich im Sessel zurecht und
sagte kurz:
-- »Das alles ist Clownerie und Blague. Im übrigen kann man, wie billig,
ihn selbst ja nach seinen Wünschen fragen.«
Nun, was sollte wohl ich für Wünsche haben? Die Aussicht auf Veränderung
meines äusseren Lebens wirkte durchaus erheiternd auf mich, ich erklärte
mich ernsten Angesichtes bereit, die Schule zu verlassen, um Kaufmann zu
werden, und trat in das grosse Holzgeschäft des Herrn Schlievogt, unten
am Fluss, als Lehrling ein.

V.
Die Veränderung war ganz äusserlich, das versteht sich. Mein Interesse
für das grosse Holzgeschäft des Herrn Schlievogt war ungemein
geringfügig, und ich sass auf meinem Drehsessel unter der Gasflamme in
dem engen und dunklen Comptoir so fremd und abwesend wie ehemals auf der
Schulbank. Ich hatte weniger Sorgen nunmehr; darin bestand der
Unterschied.
Herr Schlievogt, ein beleibter Mensch mit rotem Gesicht und grauem,
hartem Schifferbart, kümmerte sich wenig um mich, da er sich meistens in
der Sägemühle aufhielt, die ziemlich weit von Comptoir und Lagerplatz
entfernt lag, und die Angestellten des Geschäftes behandelten mich mit
Respekt. In freundschaftlichem Verkehr stand ich nur mit einem von
ihnen, einem begabten und vergnügten jungen Menschen aus guter Familie,
den ich auf der Schule bereits gekannt hatte, und der übrigens Schilling
hiess. Er moquierte sich gleich mir über alle Welt, legte jedoch
nebenher ein eifriges Interesse für den Holzhandel an den Tag und
verfehlte an keinem Tage, den bestimmten Vorsatz zu äussern, auf irgend
eine Weise ein reicher Mann zu werden.
Ich meinesteils erledigte mechanisch meine notwendigen Angelegenheiten,
um im übrigen auf dem Lagerplatz zwischen den Bretterstapeln und den
Arbeitern umherzuschlendern, durch das hohe Holzgitter den Fluss zu
betrachten, an dem dann und wann ein Güterzug vorüber rollte, und dabei
an eine Theateraufführung oder an ein Konzert zu denken, dem ich
beigewohnt, oder an ein Buch, das ich gelesen.
Ich las viel, las alles, was mir erreichbar war, und meine
Eindrucksfähigkeit war gross. Jede dichterische Persönlichkeit verstand
ich mit dem Gefühl, glaubte in ihr mich selbst zu erkennen und dachte
und empfand so lange in dem Stile eines Buches, bis ein neues seinen
Einfluss auf mich ausgeübt hatte. In meinem Zimmer, in dem ich ehemals
mein Puppentheater aufgebaut hatte, sass ich nun mit einem Buch auf den
Knieen und blickte zu den beiden Vorfahrenbildern empor, um den Tonfall
der Sprache nachzugeniessen, der ich mich hingegeben hatte, während ein
unfruchtbares Chaos von halben Gedanken und Phantasiebildern mich
erfüllte ...
Meine Schwestern hatten sich kurz nacheinander verheiratet, und ich
ging, wenn ich nicht im Geschäft war, oft ins Wohnzimmer hinunter, wo
meine Mutter, die ein wenig kränkelte, und deren Gesicht stets
kindlicher und stiller wurde, nun meistens ganz einsam sass. Wenn sie
mir Chopin vorgespielt und ich ihr einen neuen Einfall von
Harmonien-Verbindung gezeigt hatte, fragte sie mich wohl, ob ich
zufrieden in meinem Berufe und glücklich sei .... Kein Zweifel, dass ich
glücklich war.
Ich war nicht viel älter als zwanzig Jahre, meine Lebenslage war nichts
als provisorisch, und der Gedanke war mir nicht fremd, dass ich ganz und
gar nicht gezwungen sei, mein Leben bei Herrn Schlievogt oder in einem
Holzgeschäfte noch grösseren Stils zu verbringen, dass ich mich eines
Tages frei machen könne, um die giebelige Stadt zu verlassen und
irgendwo in der Welt meinen Neigungen zu leben: gute und
feingeschriebene Romane zu lesen, ins Theater zu gehen, ein wenig Musik
zu machen ... Glücklich? Aber ich speiste vorzüglich, ich ging aufs
beste gekleidet, und früh bereits, wenn ich etwa während meiner
Schulzeit gesehen hatte, wie arme und schlecht gekleidete Kameraden sich
gewohnheitsmässig duckten und mich und meinesgleichen mit einer Art
schmeichlerischer Scheu willig als Herren und Tonangebende anerkannten,
war ich mir mit Heiterkeit bewusst gewesen, dass ich zu den Oberen,
Reichen, Beneideten gehörte, die nun einmal das Recht haben, mit
wohlwollender Verachtung auf die Armen, Unglücklichen und Neider
hinabzublicken. Wie sollte ich nicht glücklich sein? Mochte alles seinen
Gang gehen. Fürs erste hatte es seinen Reiz, sich fremd, überlegen und
heiter unter diesen Verwandten und Bekannten zu bewegen, über deren
Begrenztheit ich mich moquierte, während ich ihnen, aus Lust daran, zu
gefallen, mit gewandter Liebenswürdigkeit begegnete und mich
wohlgefällig in dem unklaren Respekte sonnte, den alle diese Leute vor
meinem Sein und Wesen erkennen liessen, weil sie mit Unsicherheit etwas
Oppositionelles und Extravagantes darin vermuteten.

VI.
Es begann eine Veränderung mit meinem Vater vor sich zu gehen. Wenn er
um vier Uhr zu Tische kam, so schienen die Falten zwischen seinen Brauen
täglich tiefer, und er schob nicht mehr mit einer imposanten Gebärde die
Hand in den Rockaufschlag, sondern zeigte ein gedrücktes, nervöses und
scheues Wesen. Eines Tages sagte er zu mir:
-- »Du bist alt genug, die Sorgen, die meine Gesundheit untergraben, mit
mir zu teilen. Übrigens habe ich die Verpflichtung, Dich mit ihnen
bekannt zu machen, damit Du Dich über Deine künftige Lebenslage keinen
falschen Erwartungen hingiebst. Du weisst, dass die Heiraten Deiner
Schwestern beträchtliche Opfer gefordert haben. Neuerdings hat die Firma
Verluste erlitten, welche geeignet waren, das Vermögen erheblich zu
reduzieren. Ich bin ein alter Mann, fühle mich entmutigt, und glaube
nicht, dass an der Sachlage Wesentliches zu ändern sein wird. Ich bitte
Dich, zu bemerken, dass Du auf Dich selbst gestellt sein wirst ...«
Dies sprach er zwei Monate etwa vor seinem Tode. Eines Tages fand man
ihn gelblich, gelähmt und lallend in dem Armsessel seines
Privatkomptoirs, und eine Woche darauf nahm die ganze Stadt an seinem
Begräbnis teil.
Meine Mutter sass zart und still auf dem Sofa an dem runden Tische im
Wohnzimmer, und ihre Augen waren meist geschlossen. Wenn meine
Schwestern und ich uns um sie bemühten, so nickte sie vielleicht und
lächelte, worauf sie fortfuhr, zu schweigen und regungslos, die Hände im
Schosse gefaltet, mit einem grossen, fremden und traurigen Blick eine
Götterfigur der Tapete zu betrachten. Wenn die Herren in Gehröcken
kamen, um über den Verlauf der Liquidation Bericht zu erstatten, so
nickte sie gleichfalls und schloss aufs neue die Augen.
Sie spielte nicht mehr Chopin, und wenn sie hie und da leise über den
Scheitel strich, so zitterte ihre blasse, zarte und müde Hand. Kaum ein
halbes Jahr nach meines Vaters Tode legte sie sich nieder, und sie
starb, ohne einen Wehelaut, ohne einen Kampf um ihr Leben ...
Nun war das alles zu Ende. Was hielt mich eigentlich am Orte? Die
Geschäfte waren erledigt worden, gehe es gut oder schlecht, es ergab
sich, dass auf mich ein Erbteil von ungefähr hunderttausend Mark
gefallen war, und das genügte, um mich unabhängig zu machen -- von aller
Welt um so mehr, als man mich aus irgend einem gleichgültigen Grunde für
militäruntüchtig erklärt hatte.
Nichts verband mich länger mit den Leuten, zwischen denen ich
You have read 1 text from German literature.
Next - Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 6
  • Parts
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 1
    Total number of words is 4194
    Total number of unique words is 1524
    39.6 of words are in the 2000 most common words
    53.5 of words are in the 5000 most common words
    59.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 2
    Total number of words is 4399
    Total number of unique words is 1458
    42.3 of words are in the 2000 most common words
    55.6 of words are in the 5000 most common words
    62.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 3
    Total number of words is 4389
    Total number of unique words is 1501
    43.3 of words are in the 2000 most common words
    56.1 of words are in the 5000 most common words
    62.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 4
    Total number of words is 4322
    Total number of unique words is 1488
    42.0 of words are in the 2000 most common words
    55.7 of words are in the 5000 most common words
    60.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 5
    Total number of words is 4370
    Total number of unique words is 1577
    39.7 of words are in the 2000 most common words
    53.5 of words are in the 5000 most common words
    59.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 6
    Total number of words is 4221
    Total number of unique words is 1656
    36.8 of words are in the 2000 most common words
    49.2 of words are in the 5000 most common words
    55.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 7
    Total number of words is 4294
    Total number of unique words is 1663
    40.7 of words are in the 2000 most common words
    52.9 of words are in the 5000 most common words
    57.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 8
    Total number of words is 1692
    Total number of unique words is 712
    45.8 of words are in the 2000 most common words
    59.1 of words are in the 5000 most common words
    64.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.