Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 6

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aufgewachsen war, deren Blicke mich stets fremder und erstaunter
betrachteten, und deren Weltanschauung zu einseitig war, als dass ich
geneigt gewesen wäre, mich ihr zu fügen. Zugegeben, dass sie mich
richtig kannten, und zwar als ausgemacht unnützlichen Menschen, so
kannte auch ich mich. Aber skeptisch und fatalistisch genug, um -- mit
dem Worte meines Vaters -- meine »Bajazzobegabung« von der heiteren
Seite zu nehmen, und fröhlich gewillt, das Leben auf meine Art zu
geniessen, fehlte mir nichts an Selbstzufriedenheit.
Ich erhob mein kleines Vermögen, und beinahe ohne mich zu verabschieden,
verliess ich die Stadt, um mich vorerst auf Reisen zu begeben.

VII.
Dieser drei Jahre, die nun folgten, und in denen ich mich mit begieriger
Empfänglichkeit tausend neuen, wechselnden, reichen Eindrücken hingab,
erinnere ich mich wie eines schönen, fernen Traumes. Wie lange ist es
her, dass ich bei den Mönchen auf dem Symplon zwischen Schnee und Eis
ein Neujahrsfest verbrachte; dass ich zu Verona über die Piazza Erbe
schlenderte; dass ich vom Borgo San Spirito aus zum ersten Male unter
die Kolonnaden von Sankt Peter trat und meine eingeschüchterten Augen
sich auf dem ungeheuren Platze verloren; dass ich vom Corso Vittorio
Emanuele über das weissschimmernde Neapel hinabblickte und fern im Meere
die graziöse Silhouette von Capri in blauem Dunst verschwimmen sah ...
Es sind in Wirklichkeit sechs Jahre und nicht viel mehr.
Oh, ich lebte vollkommen vorsichtig und meinen Verhältnissen
entsprechend: in einfachen Privatzimmern, in wohlfeilen Pensionen -- bei
dem häufigen Ortswechsel aber, und weil es mir anfangs schwer fiel, mich
meiner gutbürgerlichen Gewohnheiten zu entwöhnen, waren grössere
Ausgaben gleichwohl nicht zu vermeiden. Ich hatte mir für die Zeit
meiner Wanderungen 15000 Mark meines Kapitals ausgesetzt; diese Summe
freilich ward überschritten.
Übrigens befand ich mich wohl unter den Leuten, mit denen ich unterwegs
hier und da in Berührung kam, uninteressierte und sehr interessante
Existenzen oft, denen ich allerdings nicht wie meiner ehemaligen
Umgebung ein Gegenstand des Respekts war, aber von denen ich auch keine
befremdeten Blicke und Fragen zu befürchten hatte.
Mit meiner Art von gesellschaftlicher Begabung erfreute ich mich in
Pensionen zuweilen aufrichtiger Beliebtheit bei der übrigen
Reisegesellschaft -- wobei ich mich einer Scene im Salon der Pension
Minelli zu Palermo erinnere. In einem Kreise von Franzosen verschiedenen
Alters hatte ich am Pianino von ungefähr begonnen, mit grossem Aufwand
von tragischem Mienenspiel, deklamierendem Gesang und rollenden
Harmonieen ein Musikdrama »von Richard Wagner« zu improvisieren, und ich
hatte soeben unter ungeheurem Beifall geschlossen, als ein alter Herr
auf mich zueilte, der beinahe kein Haar mehr auf dem Kopfe hatte, und
dessen weisse, spärliche Cotelettes auf seine graue Reisejoppe
hinabflatterten. Er ergriff meine beiden Hände und rief mit Thränen in
den Augen:
-- »Aber das ist erstaunlich! Das ist erstaunlich, mein teurer Herr! Ich
schwöre Ihnen, dass ich mich seit dreissig Jahren nicht mehr so köstlich
unterhalten habe! Ah, Sie gestatten, dass ich Ihnen aus vollem Herzen
danke, nicht wahr! Aber es ist nötig, dass Sie Schauspieler oder Musiker
werden!«
Es ist wahr, dass ich bei solchen Gelegenheiten etwas von dem genialen
Übermut eines grossen Malers empfand, der im Freundeskreise sich
herbeiliess, eine lächerliche zugleich und geistreiche Karrikatur auf
die Tischplatte zu zeichnen. Nach dem Diner aber begab ich mich allein
in den Salon zurück und verbrachte eine einsame und wehmütige Stunde
damit, dem Instrumente getragene Accorde zu entlocken, in die ich die
Stimmung zu legen glaubte, die der Anblick Palermos in mir erweckt.
Ich hatte von Sizilien aus Afrika ganz flüchtig berührt, war alsdann
nach Spanien gegangen und dort, in der Nähe von Madrid, auf dem Lande
war es, im Winter, an einem trüben, regnerischen Nachmittage, als ich
zum ersten Male den Wunsch empfand, nach Deutschland zurückzukehren --
und die Notwendigkeit obendrein. Denn abgesehen davon, dass ich begann,
mich nach einem ruhigen, geregelten und ansässigen Leben zu sehnen, war
es nicht schwer, mir auszurechnen, dass bis zu meiner Ankunft in
Deutschland bei aller Einschränkung 20000 Mark verausgabt sein würden.
Ich zögerte nicht allzu lange, den langsamen Rückweg durch Frankreich
anzutreten, auf den ich bei längerem Aufenthalt in einzelnen Städten
annähernd ein halbes Jahr verwendete, und ich erinnere mich mit
wehmütiger Deutlichkeit des Sommerabends, an dem ich in den Bahnhof der
mitteldeutschen Residenzstadt einfuhr, die ich mir beim Beginn meiner
Reise bereits ausersehen hatte, -- ein wenig unterrichtet nunmehr, mit
einigen Erfahrungen und Kenntnissen versehen und ganz voll von einer
kindlichen Freude, mir hier, in meiner sorglosen Unabhängigkeit und gern
meinen bescheidenen Mitteln gemäss, nun ein ungestörtes und
beschauliches Dasein gründen zu können.
Damals war ich 25 Jahre alt.

VIII.
Der Platz war nicht übel gewählt. Es ist eine ansehnliche Stadt, noch
ohne allzu lärmenden Grossstadttrubel und allzu anstössiges
Geschäftstreiben, mit einigen ziemlich beträchtlichen alten Plätzen
andererseits und einem Strassenleben, das weder der Lebhaftigkeit noch
zum Teile der Elégance entbehrt. Die Umgebung besitzt mancherlei
angenehme Punkte; aber ich habe stets die geschmackvoll angelegte
Promenade bevorzugt, die sich auf dem »Lerchenberge« hinzieht, einem
schmalen und langgestreckten Hügel, an den ein grosser Teil der Stadt
sich lehnt, und von dem man einen weiten Ausblick über Häuser, Kirchen
und den weich geschlängelten Fluss hinweg ins Freie geniesst. An einigen
Punkten, und besonders, wenn an schönen Sommernachmittagen eine
Militärkapelle konzertiert und Equipagen und Spaziergänger sich hin und
her bewegen, wird man dort an den Pincio erinnert. -- Aber ich werde
dieser Promenade noch zu erwähnen haben ...
Niemand glaubt, mit welchem umständlichen Vergnügen ich mir das
geräumige Zimmer herrichtete, das ich nebst anstossender Schlafkammer
etwa inmitten der Stadt, in belebter Gegend gemietet hatte. Die
elterlichen Möbel waren zwar zum grössten Teil in den Besitz meiner
Schwestern übergegangen, indessen war mir immerhin zugefallen, was ich
gebrauchte: stattliche und gediegene Dinge, die zusammen mit meinen
Büchern und den beiden Vorfahrenporträts eintrafen; vor allem aber der
alte Flügel, den meine Mutter für mich bestimmt hatte.
In der That, als alles aufgestellt und geordnet war, als die
Photographieen, die ich auf Reisen gesammelt, alle Wände sowie den
schweren Mahagoni-Schreibtisch und die bauchige Kommode schmückten, und
als ich mich, fertig und geborgen, in einem Lehnsessel am Fenster
niederliess, um abwechselnd die Strassen draussen und meine neue Wohnung
zu betrachten, war mein Behagen nicht gering. Und dennoch -- ich habe
diesen Augenblick nicht vergessen -- dennoch regte sich neben
Zufriedenheit und Vertrauen sacht etwas anderes in mir, irgend ein
kleines Gefühl von Ängstlichkeit und Unruhe, das leise Bewusstsein
irgend einer Art von Empörung und Auflehnung meinerseits gegen eine
drohende Macht ... der leicht bedrückende Gedanke, dass meine Lage, die
bislang niemals mehr als etwas Vorläufiges gewesen war, nunmehr zum
ersten Male als definitiv und unabänderlich betrachtet werden musste ...
Ich verschweige nicht, dass diese und ähnliche Empfindungen sich hie und
da wiederholten. Aber sind die gewissen Nachmittagsstunden überhaupt zu
vermeiden, in denen man hinaus in die wachsende Dämmerung und vielleicht
in einen langsamen Regen blickt und das Opfer trübseherischer
Anwandlungen wird? In jedem Falle stand fest, dass meine Zukunft
vollkommen gesichert war. Ich hatte die runde Summe von 80000 Mark der
städtischen Bank vertraut, die Zinsen betrugen -- mein Gott, die Zeiten
sind schlecht! -- etwa 600 Mark für das Vierteljahr und gestatteten mir
also, anständig zu leben, mich mit Lektüre zu versehen, hier und da ein
Theater zu besuchen -- ein Bisschen leichteren Zeitvertreibs nicht
ausgeschlossen.
Meine Tage vergingen fortab in Wirklichkeit dem Ideale gemäss, das von
jeher mein Ziel gewesen war. Ich erhob mich etwa um 10 Uhr, frühstückte
und verbrachte die Zeit bis zum Mittage am Klavier und mit der Lektüre
einer litterarischen Zeitschrift oder eines Buches. Dann schlenderte ich
die Strasse hinauf zu dem kleinen Restaurant, in dem ich mit
Regelmässigkeit verkehrte, speiste und machte darauf einen längeren
Spaziergang durch die Strassen, durch eine Gallerie, in die Umgegend,
auf den Lerchenberg. Ich kehrte nach Hause zurück und nahm die
Beschäftigungen des Vormittags wieder auf: ich las, musizierte,
unterhielt mich manchmal sogar mit einer Art von Zeichenkunst oder
schrieb mit Sorgfalt einen Brief. Wenn ich mich nach dem Abendessen
nicht in ein Theater oder ein Konzert begab, so hielt ich mich im Café
auf und las bis zum Schlafengehen die Zeitungen. Der Tag aber war gut
und schön gewesen, er hatte einen beglückenden Inhalt gehabt, wenn mir
am Klaviere ein Motiv gelungen war, das mir neu und schön erschien, wenn
ich aus der Lektüre einer Novelle, aus dem Anblick eines Bildes eine
zarte und anhaltende Stimmung davongetragen hatte ...
Übrigens unterlasse ich es nicht, zu sagen, dass ich in meinen
Dispositionen mit einer gewissen Idealität zu Werke ging und dass ich
mit Ernst darauf bedacht war, meinen Tagen so viel »Inhalt« zu geben,
wie nur immer möglich. Ich speiste bescheiden, hielt mir in der Regel
nur einen Anzug, kurz, schränkte meine leiblichen Bedürfnisse mit
Vorsicht ein, um andererseits in der Lage zu sein, für einen guten Platz
in der Oper oder im Konzert einen hohen Preis zu zahlen, mir neue
litterarische Erscheinungen zu kaufen, diese oder jene Kunstausstellung
zu besuchen ...
Die Tage aber verstrichen, und es wurden Wochen und Monate daraus --
Langeweile? Ich gebe zu: es ist nicht immer ein Buch zur Hand, das einer
Reihe von Stunden den Inhalt verschaffen könnte; übrigens hast du ohne
jedes Glück versucht, auf dem Klavier zu phantasieren, du sitzest am
Fenster, rauchst Cigaretten, und unwiderstehlich beschleicht dich ein
Gefühl der Abneigung von aller Welt und dir selbst; die Ängstlichkeit
befällt dich wieder, die übelbekannte Ängstlichkeit, und du springst auf
und machst dich davon, um dir auf der Strasse mit dem heiteren
Achselzucken des Glücklichen die Berufs- und Arbeitsleute zu betrachten,
die geistig und materiell zu unbegabt sind für Musse und Genuss.

IX.
Ist ein Siebenundzwanzigjähriger überhaupt im stande, an die endgültige
Unabänderlichkeit seiner Lage, und sei diese Unabänderlichkeit nur zu
wahrscheinlich, im Ernste zu glauben? Das Zwitschern eines Vogels, ein
winziges Stück Himmelsblau, irgend ein halber und verwischter Traum zur
Nacht, alles ist geeignet, plötzliche Ströme von vager Hoffnung in sein
Herz zu ergiessen und es mit der festlichen Erwartung eines grossen,
unvorhergesehenen Glückes zu erfüllen ... Ich schlenderte von einem Tag
in den andern -- beschaulich, ohne ein Ziel, beschäftigt mit dieser oder
jener kleinen Hoffnung, handele es sich auch nur um den Tag der
Herausgabe einer unterhaltenden Zeitschrift, mit der energischen
Überzeugung, glücklich zu sein, und hin und wieder ein wenig müde vor
Einsamkeit.
Wahrhaftig, die Stunden waren nicht gerade selten, in denen ein Unwille
über Mangel an Verkehr und Gesellschaft mich ergriff, -- denn ist es
nötig, diesen Mangel zu erklären? Mir fehlte jede Verbindung mit der
guten Gesellschaft und den ersten und zweiten Kreisen der Stadt; um mich
bei der goldenen Jugend als fêtard einzuführen, gebrach es mir bei Gott
an Mitteln, -- und andererseits die Bohème? Aber ich bin ein Mensch von
Erziehung, ich trage saubere Wäsche und einen heilen Anzug, und ich
finde schlechterdings keine Lust darin, mit ungepflegten jungen Leuten
an absinthklebrigen Tischen anarchistische Gespräche zu führen. Um kurz
zu sein: es gab keinen bestimmten Gesellschaftskreis, dem ich mit
Selbstverständlichkeit angehört hätte, und die Bekanntschaften, die sich
auf eine oder die andere Weise von selbst ergaben, waren selten,
oberflächlich und kühl -- durch mein eigenes Verschulden, wie ich
zugebe, denn ich hielt mich auch in solchen Fällen mit einem Gefühl der
Unsicherheit zurück und mit dem unangenehmen Bewusstsein, nicht einmal
einem verbummelten Maler auf kurze, klare und Anerkennung erweckende
Weise sagen zu können, wer und was ich eigentlich sei.
Übrigens hatte ich ja wohl mit der »Gesellschaft« gebrochen und auf sie
verzichtet, als ich mir die Freiheit nahm, ohne ihr in irgend einer
Weise zu dienen, meine eigenen Wege zu gehen, und wenn ich, um glücklich
zu sein, der »Leute« bedurft hätte, so musste ich mir erlauben, mich zu
fragen, ob ich in diesem Falle nicht zur Stunde damit beschäftigt
gewesen wäre, mich als Geschäftsmann grösseren Stils gemeinnützlich zu
bereichern und mir den allgemeinen Neid und Respekt zu verschaffen.
Indessen -- indessen! Die Thatsache bestand, dass mich meine
philosophische Vereinsamung in viel zu hohem Grade verdross, und dass
sie am Ende durchaus nicht mit meiner Auffassung von »Glück«
übereinstimmen wollte, mit meinem Bewusstsein, meiner Überzeugung,
glücklich zu sein, deren Erschütterung doch -- es bestand kein Zweifel
-- schlechthin unmöglich war. Nicht glücklich sein, unglücklich sein:
aber war das überhaupt denkbar? Es war undenkbar, und mit diesem
Entscheid war die Frage erledigt, bis aufs neue Stunden kamen, in denen
mir dieses Für-sich-sitzen, diese Zurückgezogenheit und
Ausserhalbstellung nicht in der Ordnung, durchaus nicht in der Ordnung
erscheinen wollte und mich zum Erschrecken mürrisch machte.
»Mürrisch« -- war das eine Eigenschaft des Glücklichen? Ich erinnerte
mich meines Lebens daheim in dem beschränkten Kreise, in dem ich mich
mit dem vergnügten Bewusstsein meiner genial-artistischen Veranlagung
bewegt hatte -- gesellig, liebenswürdig, die Augen voll Heiterkeit,
Moquerie und überlegenem Wohlwollen für alle Welt, im Urteil der Leute
ein wenig verwunderlich und dennoch beliebt. Damals war ich glücklich
gewesen, trotzdem ich in dem grossen Holzgeschäfte des Herrn Schlievogt
hatte arbeiten müssen; und nun? Und nun?...
Aber ein über die Massen interessantes Buch ist erschienen, ein neuer
französischer Roman, dessen Ankauf ich mir gestattet habe, und den ich,
behaglich im Lehnsessel, mit Musse geniessen werde. Dreihundert Seiten,
wieder einmal, voll Geschmack, Blague und auserlesener Kunst! Ah, ich
habe mir mein Leben zu meinem Wohlgefallen eingerichtet! Bin ich
vielleicht nicht glücklich? Eine Lächerlichkeit, diese Frage, und weiter
nichts ...

X.
Wieder einmal ist ein Tag zu Ende, ein Tag, dem nicht abzusprechen ist,
Gott sei Dank, dass er Inhalt hatte; der Abend ist da, die Vorhänge des
Fensters sind geschlossen, auf dem Schreibtische brennt die Lampe, es
ist beinahe schon Mitternacht. Man könnte zu Bette gehen, aber man
verharrt halb liegend im Lehnsessel, und die Hände im Schosse gefaltet,
blickt man zur Decke empor, um mit Ergebenheit das leise Graben und
Zehren irgend eines halb unbestimmten Schmerzes zu verfolgen, der nicht
hat verscheucht werden können.
Vor ein paar Stunden noch habe ich mich der Wirkung eines grossen
Kunstwerkes hingegeben, einer dieser ungeheuren und grausamen
Schöpfungen, welche mit dem verderbten Pomp eines ruchlos genialen
Dilettantismus rütteln, betäuben, peinigen, beseligen, niederschmettern
... Meine Nerven beben noch, meine Phantasie ist aufgewühlt, seltene
Stimmungen wogen in mir auf und nieder, Stimmungen von Sehnsucht,
religiöser Inbrunst, Triumph, mystischem Frieden, -- und ein Bedürfnis
ist dabei, das sie stets aufs neue emportreibt, das sie heraustreiben
möchte: das Bedürfnis, sie zu äussern, sie mitzuteilen, sie zu zeigen,
»etwas daraus zu machen« ...
Wie, wenn ich in der That ein Künstler wäre, befähigt, mich in Ton, Wort
oder Bildwerk zu äussern -- am liebsten, aufrichtig gesprochen, in allem
zu gleicher Zeit? -- Aber es ist wahr, dass ich allerhand vermag! Ich
kann, zum guten Beispiel, mich am Flügel niederlassen, um mir im stillen
Kämmerlein meine schönen Gefühle vollauf zum Besten zu geben, und das
sollte mir billig genügen; denn wenn ich, um glücklich zu sein, der
»Leute« bedürfte -- zugegeben dies alles! Allein gesetzt, dass ich auch
auf den Erfolg ein wenig Wert legte, auf den Ruhm, die Anerkennung, das
Lob, den Neid, die Liebe?... Bei Gott! Schon wenn ich mich an die Scene
in jenem Salon zu Palermo erinnere, so muss ich zugeben, dass ein
ähnlicher Vorfall in diesem Augenblick für mich eine unvergleichlich
wohlthuende Ermunterung bedeuten würde.
Wohlüberlegt, ich kann nicht umhin, mir diese sophistische und
lächerliche Begriffsunterscheidung zu gestehen: die Unterscheidung
zwischen innerem und äusserem Glück! -- Das »äussere Glück«, was ist das
eigentlich? -- Es giebt eine Art von Menschen, Lieblingskinder Gottes,
wie es scheint, deren Glück das Genie und deren Genie das Glück ist,
Lichtmenschen, die mit dem Widerspiel und Abglanz der Sonne in ihren
Augen auf eine leichte, anmutige und liebenswürdige Weise durchs Leben
tändeln, während alle Welt sie umringt, während alle Welt sie bewundert,
belobt, beneidet und liebt, weil auch der Neid unfähig ist, sie zu
hassen. Sie aber blicken darein wie die Kinder, spöttisch, verwöhnt,
launisch, übermütig, mit einer sonnigen Freundlichkeit, sicher ihres
Glückes und Genies, und als könne das alles durchaus nicht anders
sein ...
Was mich betrifft, ich leugne die Schwäche nicht, dass ich zu diesen
Menschen gehören möchte, und es will mich, gleichviel ob mit Recht oder
Unrecht, immer aufs neue bedünken, als hätte ich einstmal zu ihnen
gehört: vollkommen »gleichviel«, denn seien wir ehrlich: es kommt darauf
an, für was man sich hält, für was man sich giebt, für was man die
Sicherheit hat, sich zu geben!
Vielleicht verhält es sich in Wirklichkeit nicht anders, als dass ich
auf dieses »äussere Glück« verzichtet habe, indem ich mich dem Dienst
der »Gesellschaft« entzog und mir mein Leben ohne die »Leute«
einrichtete. An meiner Zufriedenheit aber damit ist, wie
selbstverständlich, in keinem Augenblick zu zweifeln, kann nicht
gezweifelt werden, darf nicht gezweifelt werden -- denn um es zu
wiederholen, und zwar mit einem verzweifelten Nachdruck zu wiederholen:
Ich will und muss glücklich sein! Die Auffassung des »Glückes« als eine
Art von Verdienst, Genie, Vornehmheit, Liebenswürdigkeit, die Auffassung
des »Unglücks« als etwas Hässliches, Lichtscheues, Verächtliches und mit
einem Worte Lächerliches ist mir zu tief eigentlich, als dass ich mich
selbst noch zu achten vermöchte, wenn ich unglücklich wäre.
Wie dürfte ich mir gestatten, unglücklich zu sein? Welche Rolle müsste
ich vor mir spielen? Müsste ich nicht als eine Art von Fledermaus oder
Eule im Dunkeln hocken und neidisch zu den »Lichtmenschen«
hinüberblinzeln, den liebenswürdigen Glücklichen? Ich müsste sie hassen,
mit jenem Hass, der nichts ist als eine vergiftete Liebe, -- und mich
verachten!
»Im Dunkeln hocken!« Ah, und mir fällt ein, was ich seit manchem Monat
hin und wieder über meine »Ausserhalb-Stellung« und »philosophische
Vereinsamung« gedacht und gefühlt habe! Und die Angst meldet sich
wieder, die übelbekannte Angst! Und das Bewusstsein irgend einer Art von
Empörung gegen eine drohende Macht ...
-- Unzweifelhaft, dass sich ein Trost fand, eine Ablenkung, eine
Betäubung für dieses Mal und ein anderes und wiederum ein nächstes. Aber
es kehrte wieder, alles dies, es kehrte tausendmal wieder im Laufe der
Monate und der Jahre.

XI.
Es giebt Herbsttage, die wie ein Wunder sind. Der Sommer ist vorüber,
draussen hat längst das Laub zu vergilben begonnen, und in der Stadt hat
Tage lang bereits der Wind um alle Ecken gepfiffen, während in den
Rinnsteinen unreinliche Bäche sprudelten. Du hast dich darein ergeben,
du hast dich sozusagen am Ofen bereit gesetzt, um den Winter über dich
ergehen zu lassen; eines Morgens aber beim Erwachen bemerkst du mit
ungläubigen Augen, dass ein schmaler Streif von leuchtendem Blau
zwischen den Fenstervorhängen hindurch in dein Zimmer blitzt. Ganz
erstaunt springst du aus dem Bette, du öffnest das Fenster, eine Woge
von zitterndem Sonnenlicht strömt dir entgegen, und zugleich vernimmst
du durch alles Strassengeräusch hindurch ein geschwätziges und munteres
Vogelgezwitscher, während es dir nicht anders ist, als atmetest du mit
der frischen und leichten Luft eines ersten Oktobertages die
unvergleichlich süsse und verheissungsvolle Würze ein, die sonst den
Winden des Mai gehört. Es ist Frühling, es ist ganz augenscheinlich
Frühling, dem Kalender zum Trotz, und du wirfst dich in die Kleider, um
unter dem schimmernden Himmel durch die Strassen und ins Freie zu
eilen ...
Ein so unverhoffter und merkwürdiger Tag erschien vor nunmehr etwa vier
Monaten, -- wir stehen augenblicklich am Anfang des Februar -- und an
diesem Tage sah ich etwas ausnehmend Hübsches. Vor neun Uhr am Morgen
hatte ich mich aufgemacht, und ganz erfüllt von einer leichten und
freudigen Stimmung, von einer unbestimmten Hoffnung auf Veränderungen,
Überraschungen und Glück schlug ich den Weg zum Lerchenberge ein. Ich
stieg am rechten Ende den Hügel hinan, und ich verfolgte seinen ganzen
Rücken der Länge nach, indem ich mich stets auf der Hauptpromenade am
Rande und an der niedrigen Steinrampe hielt, um auf dem ganzen Wege, der
wohl eine kleine halbe Stunde in Anspruch nimmt, den Ausblick über die
leicht terrassenförmig abfallende Stadt und den Fluss freizuhaben,
dessen Schlingungen in der Sonne blinkten und hinter dem die Landschaft
mit Hügeln und Grün im Sonnendunst verschwamm.
Es war noch beinahe menschenleer hier oben. Die Bänke jenseits des Weges
standen einsam, und hie und da blickte zwischen den Bäumen eine Statue
hervor, weissschimmernd vor Sonne, während doch ein welkes Blatt dann
und wann langsam darauf niedertaumelte. Die Stille, der ich horchte,
während ich im Wandern den Blick auf das lichte Panorama zur Seite
gerichtet hielt, blieb ungestört, bis ich das Ende des Hügels erreicht
hatte, und der Weg sich zwischen alten Kastanien zu senken begann. Hier
jedoch klang hinter mir Pferdegestampf und das Rollen eines Wagens auf,
der sich in raschem Trabe näherte, und dem ich an der Mitte etwa des
Abstieges Platz machen musste. Ich trat zur Seite und blieb stehen.
Es war ein kleiner, ganz leichter und zweirädiger Jagdwagen, bespannt
mit zwei grossen, blanken und lebhaft schnaubenden Füchsen. Die Zügel
hielt eine junge Dame von neunzehn vielleicht oder zwanzig Jahren, neben
der ein alter Herr von stattlichem und vornehmem Äussern sass, mit
weissem à la russe aufgebürstetem Schnurrbart und dichten, weissen
Augenbrauen. Ein Bedienter in einfacher, schwarz-silberner Livree
dekorierte den Rücksitz.
Das Tempo der Pferde war bei Beginn des Abstieges zum Schritt verzögert
worden, da das eine von ihnen nervös und unruhig schien. Es hatte sich
weit seitwärts von der Deichsel entfernt, drückte den Kopf auf die Brust
und setzte seine schlanken Beine mit einem so zitternden Widerstreben,
dass der alte Herr, ein wenig besorgt, sich vorbeugte, um mit seiner
elegant behandschuhten Linken der jungen Dame beim Straffziehen der
Zügel behilflich zu sein. Die Lenkung schien ihr nur vorübergehend und
halb zum Scherze anvertraut worden, wenigstens sah es aus, als ob sie
das Kutschieren mit einer Art von kindlicher Wichtigkeit und
Unerfahrenheit zugleich behandelte. Sie machte eine kleine, ernsthafte
und indignierte Kopfbewegung, während sie das scheuende und stolpernde
Tier zu beruhigen suchte.
Sie war brünett und schlank. Auf ihrem Haar, das überm Nacken zu einem
festen Knoten gewunden war und das sich ganz leicht und lose um Stirn
und Schläfen legte, so dass einzelne lichtbraune Fäden zu unterscheiden
waren, sass ein runder, dunkelfarbiger Strohhut, geschmückt
ausschliesslich mit einem kleinen Arrangement von Bandwerk. Übrigens
trug sie eine kurze, dunkelblaue Jacke und einen schlichtgearbeiteten
Rock aus hellgrauem Tuch.
In ihrem ovalen und feingeformten Gesicht, dessen zartbrünetter Teint
von der Morgenluft frisch gerötet war, bildeten das Anziehendste
sicherlich die Augen: ein Paar schmaler und langgeschnittener Augen,
deren kaum zur Hälfte sichtbare Iris blitzend schwarz war, und über
denen sich ausserordentlich gleichmässige und wie mit der Feder
gezeichnete Brauen wölbten. Die Nase war vielleicht ein wenig lang, und
der Mund, dessen Lippenlinien jedenfalls klar und fein waren, hätte
schmaler sein dürfen. Im Augenblicke aber wurde ihm durch die schimmernd
weissen und etwas von einander entfernt stehenden Zähne ein Reiz
gegeben, die das junge Mädchen bei den Bemühungen um das Pferd energisch
auf die Unterlippe drückte, und mit denen sie das fast kindlich runde
Kinn ein wenig emporzog.
Es wäre ganz falsch, zu sagen, dass dieses Gesicht von auffallender und
bewunderungswürdiger Schönheit gewesen sei. Es besass den Reiz der
Jugend und der fröhlichen Frische, und dieser Reiz war gleichsam
geglättet, stillgemacht und veredelt durch wohlhabende Sorglosigkeit,
vornehme Erziehung und luxuriöse Pflege; es war gewiss, dass diese
schmalen und blitzenden Augen, die jetzt mit verwöhnter Ärgerlichkeit
auf das störrische Pferd blickten, in der nächsten Minute wieder den
Ausdruck sicheren und selbstverständlichen Glückes annehmen würden. --
Die Ärmel der Jacke, die an den Schultern weit und bauschig waren,
umspannten ganz knapp die schlanken Handgelenke, und niemals habe ich
einen entzückenderen Eindruck von auserlesener Eleganz empfangen, als
durch die Art, mit der diese schmalen, unbekleideten, mattweissen Hände
die Zügel hielten! --
Ich stand am Wege, von keinem Blicke gestreift, während der Wagen
vorüberfuhr, und ich ging langsam weiter, als er sich wieder in Trab
setzte und rasch verschwand. Was ich empfand, war Freude und
Bewunderung; aber irgend ein seltsamer und stechender Schmerz meldete
sich zur gleichen Zeit, ein herbes und drängendes Gefühl von -- Neid?
von Liebe? -- ich wagte es nicht auszudenken -- von Selbstverachtung?
Während ich schreibe, kommt mir die Vorstellung eines armseligen
Bettlers, der vor dem Schaufenster eines Juweliers in den kostbaren
Schimmer eines Edelsteinkleinods starrt. Dieser Mensch wird es in seinem
Inneren nicht zu dem klaren Wunsche bringen, das Geschmeid zu besitzen;
denn schon der Gedanke an diesen Wunsch wäre eine lächerliche
Unmöglichkeit, die ihn vor sich selbst zum Gespött machen würde.

XII.
Ich will erzählen, dass ich infolge eines Zufalles diese junge Dame nach
Verlauf von acht Tagen bereits zum zweiten Male sah, und zwar in der
Oper. Man gab Gounods »Margarete«, und kaum hatte ich den
hellerleuchteten Saal betreten, um mich zu meinem Parkettplatze zu
begeben, als ich sie zur Linken des alten Herrn, in einer
Prosceniumsloge der anderen Seite gewahrte. Nebenbei stellte ich fest,
dass mich lächerlicherweise ein kleiner Schreck und etwas wie Verwirrung
dabei berührte, und dass ich aus irgend einem Grunde meine Augen sofort
abschweifen und über die anderen Ränge und Logen hinwandern liess. Erst
beim Beginn der Ouverture entschloss ich mich, die Herrschaften ein
wenig eingehender zu betrachten.
Der alte Herr, in streng geschlossenem Gehrock mit schwarzer Schleife,
sass mit einer ruhigen Würde in seinen Sessel zurückgelehnt und liess
die eine der braun bekleideten Hände leicht auf dem Sammet der
Logenbrüstung ruhen, während die andere hie und da langsam über den Bart
oder über das kurzgehaltene ergraute Haupthaar strich. Das junge Mädchen
dagegen -- seine Tochter, ohne Zweifel? -- sass interessiert und lebhaft
vorgebeugt, beide Hände, in denen sie ihren Fächer hielt, auf dem
Sammetpolster. Dann und wann machte sie eine kurze Kopfbewegung, um das
lockere, lichtbraune Haar ein wenig von der Stirn und den Schläfen
zurückzuwerfen.
Sie trug eine ganz leichte Bluse aus heller Seide, in deren Gürtel ein
Veilchensträusschen steckte, und ihre schmalen Augen blitzten in der
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