Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 1

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Der kleine Herr Friedemann.


COLLECTION FISCHER:

=Hermann Bang=, Die vier Teufel. Geh. M. 1.--.
=Peter Altenberg=, Ashantee. Geh. M. 2.--.
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Jeder Band mit illustriertem Umschlag geheftet 2 Mark.


THOMAS MANN
Der kleine Herr Friedemann
Novellen
BERLIN
S. Fischer, Verlag
1898.

Alle Rechte vorbehalten.


INHALT:

Seite
Der kleine Herr Friedemann 3
Der Tod 55
Der Wille zum Glück 69
Enttäuschung 103
Der Bajazzo 117
Tobias Mindernickel 181


Der kleine Herr Friedemann.

I.
Die Amme hatte die Schuld. -- Was half es, dass, als der erste Verdacht
entstand, Frau Konsul Friedemann ihr ernstlich zuredete, solches Laster
zu unterdrücken? Was half es, dass sie ihr ausser dem nahrhaften Bier
ein Glas Rotwein täglich verabreichte? Es stellte sich plötzlich heraus,
dass dieses Mädchen sich herbeiliess, auch noch den Spiritus zu trinken,
der für den Kochapparat verwendet werden sollte, und ehe Ersatz für sie
eingetroffen war, ehe man sie hatte fortschicken können, war das Unglück
geschehen. Als die Mutter und ihre drei halbwüchsigen Töchter eines
Tages von einem Ausgange zurückkehrten, lag der kleine, etwa einen Monat
alte Johannes, vom Wickeltische gestürzt, mit einem entsetzlich leisen
Wimmern am Boden, während die Amme stumpfsinnig daneben stand.
Der Arzt, der mit einer behutsamen Festigkeit die Glieder des gekrümmten
und zuckenden kleinen Wesens prüfte, machte ein sehr, sehr ernstes
Gesicht, die drei Töchter standen schluchzend in einem Winkel, und Frau
Friedemann in ihrer Herzensangst betete laut.
Die arme Frau hatte es noch vor der Geburt des Kindes erleben müssen,
dass ihr Gatte, der niederländische Konsul, von einer ebenso plötzlichen
wie heftigen Krankheit dahingerafft wurde, und sie war noch zu
gebrochen, um überhaupt der Hoffnung fähig zu sein, der kleine Johannes
möchte ihr erhalten bleiben. Allein nach zwei Tagen erklärte ihr der
Arzt mit einem ermutigenden Händedruck, eine unmittelbare Gefahr sei
schlechterdings nicht mehr vorhanden, die leichte Gehirnaffektion, vor
allem, sei gänzlich gehoben, was man schon an dem Blicke sehen könne,
der durchaus nicht mehr den stieren Ausdruck zeige wie anfangs ...
Freilich müsse man abwarten, wie im übrigen sich die Sache entwickeln
werde -- und das Beste hoffen, wie gesagt, das Beste hoffen ...

II.
Das graue Giebelhaus, in dem Johannes Friedemann aufwuchs, lag am
nördlichen Thore der alten, kaum mittelgrossen Handelsstadt. Durch die
Hausthür betrat man eine geräumige, mit Steinfliesen versehene Diele,
von der eine Treppe mit weissgemaltem Holzgeländer in die Etagen
hinaufführte. Die Tapeten des Wohnzimmers im ersten Stock zeigten
verblichene Landschaften, und um den schweren Mahagoni-Tisch mit der
dunkelroten Plüschdecke standen steiflehnige Möbel.
Hier sass er oft in seiner Kindheit am Fenster, vor dem stets schöne
Blumen prangten, auf einem kleinen Schemel zu den Füssen seiner Mutter
und lauschte etwa, während er ihren glatten, grauen Scheitel und ihr
gutes, sanftmütiges Gesicht betrachtete und den leisen Duft atmete, der
immer von ihr ausging, auf eine wundervolle Geschichte. Oder er liess
sich vielleicht das Bild des Vaters zeigen, eines freundlichen Herrn mit
grauem Backenbart. Er befand sich im Himmel, sagte die Mutter, und
erwartete dort sie alle.
Hinter dem Hause war ein kleiner Garten, in dem man während des Sommers
einen guten Teil des Tages zuzubringen pflegte, trotz des süsslichen
Dunstes, der von einer nahen Zuckerbrennerei fast immer herüberwehte.
Ein alter, knorriger Wallnussbaum stand dort, und in seinem Schatten
sass der kleine Johannes oft auf einem niedrigen Holzsessel und knackte
Nüsse, während Frau Friedemann und die drei nun schon erwachsenen
Schwestern in einem Zelt aus grauem Segeltuch beisammen waren. Der Blick
der Mutter aber hob sich oft von ihrer Handarbeit, um mit wehmütiger
Freundlichkeit zu dem Kinde hinüberzugleiten.
Er war nicht schön, der kleine Johannes, und wie er so mit seiner
spitzen und hohen Brust, seinem weit ausladenden Rücken und seinen viel
zu langen, mageren Armen auf dem Schemel hockte und mit einem behenden
Eifer seine Nüsse knackte, bot er einen höchst seltsamen Anblick. Seine
Hände und Füsse aber waren zartgeformt und schmal, und er hatte grosse,
rehbraune Augen, einen weichgeschnittenen Mund und feines, lichtbraunes
Haar. Obgleich sein Gesicht so jämmerlich zwischen den Schultern sass,
war es doch beinahe schön zu nennen.

III.
Als er sieben Jahre alt war, ward er zur Schule geschickt, und nun
vergingen die Jahre einförmig und schnell. Täglich wanderte er, mit der
komisch wichtigen Gangart, die Verwachsenen manchmal eigen ist, zwischen
den Giebelhäusern und Läden hindurch nach dem alten Schulhaus mit den
gotischen Gewölben; und wenn er daheim seine Arbeit gethan hatte, las er
vielleicht in seinen Büchern mit den schönen, bunten Titelbildern oder
beschäftigte sich im Garten, während die Schwestern der kränkelnden
Mutter den Hausstand führten. Auch besuchten sie Gesellschaften, denn
Friedemanns gehörten zu den ersten Kreisen der Stadt; aber geheiratet
hatten sie leider noch nicht, denn ihr Vermögen war nicht eben gross,
und sie waren ziemlich hässlich.
Johannes erhielt wohl ebenfalls von seinen Altersgenossen hie und da
eine Einladung, aber er hatte nicht viel Freude an dem Verkehr mit
ihnen. Er vermochte an ihren Spielen nicht teilzunehmen, und da sie ihm
gegenüber eine befangene Zurückhaltung immer bewahrten, so konnte es zu
einer Kameradschaft nicht kommen.
Es kam die Zeit, wo er sie auf dem Schulhofe oft von gewissen
Erlebnissen sprechen hörte; aufmerksam und mit grossen Augen lauschte
er, wie sie von ihren Schwärmereien für dies oder jenes kleine Mädchen
redeten, und schwieg dazu. Diese Dinge, sagte er sich, von denen die
Anderen ersichtlich ganz erfüllt waren, gehörten zu denen, für die er
sich nicht eignete, wie Turnen und Ballwerfen. Das machte manchmal ein
wenig traurig; am Ende aber war er von jeher daran gewöhnt, für sich zu
stehen und die Interessen der anderen nicht zu teilen.
Dennoch geschah es, dass er -- sechzehn Jahre zählte er damals -- zu
einem gleichalterigen Mädchen eine plötzliche Neigung fasste. Sie war
die Schwester eines seiner Klassengenossen, ein blondes, ausgelassen
fröhliches Geschöpf, und bei ihrem Bruder lernte er sie kennen. Er
empfand eine seltsame Beklommenheit in ihrer Nähe, und die befangene und
künstlich freundliche Art, mit der auch sie ihn behandelte, erfüllte ihn
mit tiefer Traurigkeit.
Als er eines Sommernachmittags einsam vor der Stadt auf dem Walle
spazieren ging, vernahm er hinter einem Jasminstrauch ein Flüstern und
lauschte vorsichtig zwischen den Zweigen hindurch. Auf der Bank, die
dort stand, sass jenes Mädchen neben einem langen, rotköpfigen Jungen,
den er sehr wohl kannte; er hatte den Arm um sie gelegt und drückte
einen Kuss auf ihre Lippen, den sie kichernd erwiderte. Als Johannes
Friedemann dies gesehen hatte, machte er kehrt und ging leise von
dannen.
Sein Kopf sass tiefer als je zwischen den Schultern, seine Hände
zitterten, und ein scharfer, drängender Schmerz stieg ihm aus der Brust
in den Hals hinauf. Aber er würgte ihn hinunter und richtete sich
entschlossen auf, so gut er das vermochte. »Gut,« sagte er zu sich, »das
ist zu Ende. Ich will mich niemals wieder um dies alles bekümmern. Den
anderen gewährt es Glück und Freude, mir aber vermag es immer nur Gram
und Leid zu bringen. Ich bin fertig damit. Es ist für mich abgethan. Nie
wieder. --«
Der Entschluss that ihm wohl. Er verzichtete, verzichtete auf immer. Er
ging nach Hause und nahm ein Buch zur Hand oder spielte Violine, was er
trotz seiner verwachsenen Brust erlernt hatte.

IV.
Mit siebenzehn Jahren verliess er die Schule, um Kaufmann zu werden, wie
in seinen Kreisen alle Welt es war, und trat in das grosse Holzgeschäft
des Herrn Schlievogt, unten am Fluss, als Lehrling ein. Man behandelte
ihn mit Nachsicht, er seinerseits war freundlich und entgegenkommend,
und friedlich und geregelt verging die Zeit. In seinem einundzwanzigsten
Lebensjahre aber starb nach langem Leiden seine Mutter.
Das war ein grosser Schmerz für Johannes Friedemann, den er sich lange
bewahrte. Er genoss ihn, diesen Schmerz, er gab sich ihm hin, wie man
sich einem grossen Glücke hingiebt, er pflegte ihn mit tausend
Kindheitserinnerungen und beutete ihn aus als sein erstes starkes
Erlebnis.
Ist nicht das Leben an sich etwas Gutes, gleichviel, ob es sich nun so
für uns gestaltet, dass man es »glücklich« nennt? Johannes Friedemann
fühlte das, und er liebte das Leben. Niemand versteht, mit welcher
innigen Sorgfalt er, der auf das grösste Glück, das es uns zu bieten
vermag, Verzicht geleistet hatte, die Freuden, die ihm zugänglich waren,
zu geniessen wusste. Ein Spaziergang zur Frühlingszeit draussen in den
Anlagen vor der Stadt, der Duft einer Blume, der Gesang eines Vogels --
konnte man für solche Dinge nicht dankbar sein?
Und dass zur Genussfähigkeit Bildung gehört, ja, dass Bildung immer nur
gleich Genussfähigkeit ist, -- auch das verstand er: und er bildete
sich. Er liebte die Musik und besuchte alle Konzerte, die etwa in der
Stadt veranstaltet wurden. Er selbst spielte allmählich, obgleich er
sich ungemein merkwürdig dabei ausnahm, die Geige nicht übel und freute
sich an jedem schönen und weichen Ton, der ihm gelang. Auch hatte er
sich durch viele Lektüre mit der Zeit einen litterarischen Geschmack
angeeignet, den er wohl in der Stadt mit niemandem teilte. Er war
unterrichtet über die neueren Erscheinungen des In- und Auslandes, er
wusste den rhythmischen Reiz eines Gedichtes auszukosten, die intime
Stimmung einer fein geschriebenen Novelle auf sich wirken zu lassen ...
oh! man konnte beinahe sagen, dass er ein Epikuräer war.
Er lernte begreifen, dass alles geniessenswert, und dass es beinahe
thöricht ist, zwischen glücklichen und unglücklichen Erlebnissen zu
unterscheiden. Er nahm alle seine Empfindungen und Stimmungen
bereitwilligst auf und pflegte sie, die trüben so gut wie die heiteren:
auch die unerfüllten Wünsche, -- die _Sehnsucht_. Er liebte sie um ihrer
selbst willen und sagte sich, dass mit der Erfüllung das Beste vorbei
sein würde. Ist das süsse, schmerzliche, vage Sehnen und Hoffen stiller
Frühlingsabende nicht genussreicher als alle Erfüllungen, die der Sommer
zu bringen vermöchte? -- Ja, er war ein Epikuräer, der kleine Herr
Friedemann!
Das wussten die Leute wohl nicht, die ihn auf der Strasse mit jener
mitleidig freundlichen Art begrüssten, an die er von jeher gewöhnt war.
Sie wussten nicht, dass dieser unglückliche Krüppel, der da mit seiner
putzigen Wichtigkeit in hellem Überzieher und blankem Cylinder -- er war
seltsamerweise ein wenig eitel -- durch die Strassen marschierte, das
Leben zärtlich liebte, das ihm sanft dahinfloss, ohne grosse Affekte,
aber erfüllt von einem stillen und zarten Glück, das er sich zu schaffen
wusste.

V.
Die Hauptneigung aber des Herrn Friedemann, seine eigentliche
Leidenschaft war das Theater. Er besass ein ungemein starkes
dramatisches Empfinden, und bei einer wuchtigen Bühnenwirkung, der
Katastrophe eines Trauerspiels, konnte sein ganzer kleiner Körper ins
Zittern geraten. Er hatte auf dem ersten Range des Stadttheaters seinen
bestimmten Platz, den er mit Regelmässigkeit besuchte, und hin und
wieder begleiteten ihn seine drei Schwestern dorthin. Sie führten seit
dem Tode der Mutter sich und ihrem Bruder allein die Wirtschaft in dem
alten Hause, in dessen Besitz sie sich mit ihm teilten.
Verheiratet waren sie leider noch immer nicht; aber sie waren längst in
einem Alter, in dem man sich bescheidet, denn Friederike, die Älteste,
hatte siebzehn Jahre vor Herrn Friedemann voraus. Sie und ihre Schwester
Henriette waren ein wenig zu lang und dünn, während Pfiffi, die Jüngste,
allzu klein und beleibt erschien. Letztere übrigens hatte eine drollige
Art, sich bei jedem Worte zu schütteln und Feuchtigkeit dabei in die
Mundwinkel zu bekommen.
Der kleine Herr Friedemann kümmerte sich nicht viel um die drei Mädchen:
sie aber hielten treu zusammen und waren stets einer Meinung. Besonders
wenn eine Verlobung in ihrer Bekanntschaft sich ereignete, betonten sie
einstimmig, dass dies ja _sehr_ erfreulich sei.
Ihr Bruder fuhr fort, bei ihnen zu wohnen, auch als er die Holzhandlung
des Herrn Schlievogt verliess und sich selbständig machte, indem er
irgend ein kleines Geschäft übernahm, eine Agentur oder dergleichen, was
nicht allzuviel Arbeit in Anspruch nahm. Er hatte ein paar
Parterre-Räumlichkeiten des Hauses inne, damit er nur zu den Mahlzeiten
die Treppe hinaufzusteigen brauchte, denn hin und wieder litt er ein
wenig an Asthma. --
An seinem dreissigsten Geburtstage, einem hellen und warmen Junitage,
sass er nach dem Mittagessen in dem grauen Gartenzelt mit einer neuen
Nackenrolle, die Henriette ihm gearbeitet hatte, einer guten Cigarre im
Munde und einem guten Buche in der Hand. Dann und wann hielt er das
letztere beiseite, horchte auf das vergnügte Zwitschern von Sperlingen,
die in dem alten Nussbaum sassen, und blickte auf den sauberen Kiesweg,
der zum Hause führte, und auf den Rasenplatz mit den bunten Beeten.
Der kleine Herr Friedemann trug keinen Bart, und sein Gesicht hatte sich
fast gar nicht verändert; nur dass die Züge ein wenig schärfer geworden
waren. Sein feines, lichtbraunes Haar trug er seitwärts glatt
gescheitelt.
Als er einmal das Buch ganz auf die Kniee hinabsinken liess und hinauf
in den blauen, sonnigen Himmel blinzelte, sagte er zu sich: »Das wären
nun dreissig Jahre. Nun kommen vielleicht noch zehn oder auch noch
zwanzig, Gott weiss es. Sie werden still und geräuschlos daherkommen und
vorüberziehen wie die verflossenen, und ich erwarte sie mit
Seelenfrieden.« --

VI.
Im Juli desselben Jahres ereignete sich jener Wechsel in der
Bezirks-Kommandantur, der alle Welt in Erregung versetzte. Der beleibte,
joviale Herr, der lange Jahre hindurch diesen Posten innegehabt hatte,
war in den gesellschaftlichen Kreisen sehr beliebt gewesen, und man sah
ihn ungern scheiden. Gott weiss, infolge welches Umstandes nun
ausgemacht Herr von Rinnlingen aus der Hauptstadt hierher gelangte.
Der Tausch schien übrigens nicht übel zu sein, denn der neue
Oberstlieutenant, der verheiratet aber kinderlos war, mietete in der
südlichen Vorstadt eine sehr geräumige Villa, woraus man schloss, dass
er ein Haus zu machen gedachte. Jedenfalls wurde das Gerücht, er sei
ganz ausserordentlich vermögend, auch dadurch bestätigt, dass er vier
Dienstboten, fünf Reit- und Wagenpferde, einen Landauer und einen
leichten Jagdwagen mit sich brachte.
Die Herrschaften begannen bald nach ihrer Ankunft bei den angesehenen
Familien Besuche zu machen, und ihr Name war in aller Munde; das
Hauptinteresse aber nahm schlechterdings nicht Herr von Rinnlingen
selbst in Anspruch, sondern seine Gattin. Die Herren waren verblüfft und
hatten vorderhand noch kein Urteil; die Damen aber waren geradeheraus
nicht einverstanden mit dem Sein und Wesen Gerdas von Rinnlingen.
»Dass man die hauptstädtische Luft verspürt,« äusserte sich Frau
Rechtsanwalt Hagenström gesprächsweise gegen Henriette Friedemann, --
»nun, das ist natürlich. Sie raucht, sie reitet -- einverstanden! Aber
ihr Benehmen ist nicht nur frei, es ist burschikos, und auch das ist
noch nicht das rechte Wort ... Sehen Sie, sie ist durchaus nicht
hässlich, man könnte sie sogar hübsch finden: und dennoch entbehrt sie
jedes weiblichen Reizes, und ihrem Blick, ihrem Lachen, ihren Bewegungen
fehlt alles, was Männer lieben. Sie ist nicht kokett, und ich bin, Gott
weiss es, die letzte, die das nicht lobenswert fände; aber darf eine so
junge Frau -- sie ist vierundzwanzig Jahre alt -- die natürliche
anmutige Anziehungskraft ... vollkommen vermissen lassen? Liebste, ich
bin nicht zungenfertig, aber ich weiss, was ich meine. Unsere Herren
sind jetzt noch wie vor den Kopf geschlagen: Sie werden sehen, dass sie
sich nach ein paar Wochen gänzlich dégoutiert von ihr abwenden ...«
»Nun«, sagte Fräulein Friedemann, »sie ist ja vortrefflich versorgt.«
»Ja, ihr Mann!« rief Frau Hagenström. »Wie behandelt sie ihn? Sie
sollten es sehen! Sie werden es sehen! Ich bin die erste, die darauf
besteht, dass eine verheiratete Frau gegen das andere Geschlecht bis zu
einem gewissen Grade abweisend zu sein hat. Wie aber benimmt sie sich
gegen ihren eigenen Mann? Sie hat eine Art, ihn eiskalt anzusehen und
mit einer mitleidigen Betonung »Lieber Freund« zu ihm zu sagen, die mich
empört! Denn man muss _ihn_ dabei sehen -- korrekt, stramm, ritterlich,
ein prächtig konservierter Vierziger, ein glänzender Offizier! Vier
Jahre sind sie verheiratet ... Liebste ...«

VII.
Der Ort, an dem es dem kleinen Herrn Friedemann zum ersten Male vergönnt
war, Frau von Rinnlingen zu erblicken, war die Hauptstrasse, an der fast
ausschliesslich Geschäftshäuser lagen, und diese Begegnung ereignete
sich um die Mittagszeit, als er soeben von der Börse kam, wo er ein
Wörtchen mitgeredet hatte.
Er spazierte, winzig und wichtig, neben dem Grosskaufmann Stephens,
einem ungewöhnlich grossen und vierschrötigen Herrn mit
rundgeschnittenem Backenbart und furchtbar dicken Augenbrauen. Beide
trugen Cylinder und hatten wegen der grossen Wärme die Überzieher
geöffnet. Sie sprachen über Politik, wobei sie taktmässig ihre
Spazierstöcke auf das Trottoir stiessen; als sie aber etwa bis zur Mitte
der Strasse gekommen waren, sagte plötzlich der Grosskaufmann Stephens:
»Der Teufel hole mich, wenn dort nicht die Rinnlingen dahergefahren
kommt.«
»Nun, das trifft sich gut,« sagte Herr Friedemann mit seiner hohen und
etwas scharfen Stimme und blickte erwartungsvoll geradeaus. »Ich habe
sie nämlich noch immer nicht zu Gesichte bekommen. Da haben wir den
gelben Wagen.«
In der That war es der gelbe Jagdwagen, den Frau von Rinnlingen heute
benutzte, und sie lenkte die beiden schlanken Pferde in eigener Person,
während der Diener mit verschränkten Armen hinter ihr sass. Sie trug
eine weite, ganz helle Jacke, und auch der Rock war hell. Unter dem
kleinen, runden Strohhut mit braunem Lederbande quoll das rotblonde Haar
hervor, das über die Ohren frisiert war und als ein dicker Knoten tief
in den Nacken fiel. Die Hautfarbe ihres ovalen Gesichtes war mattweiss,
und in den Winkeln ihrer ungewöhnlich nahe bei einander liegenden
braunen Augen lagerten bläuliche Schatten. Über ihrer kurzen, aber recht
fein geschnittenen Nase sass ein kleiner Sattel von Sommersprossen, was
sie gut kleidete; ob aber ihr Mund schön war, konnte man nicht erkennen,
denn sie schob unaufhörlich die Unterlippe vor und wieder zurück, indem
sie sie an der Oberlippe scheuerte.
Grosskaufmann Stephens grüsste ausserordentlich ehrerbietig, als der
Wagen herangekommen war, und auch der kleine Herr Friedemann lüftete
seinen Hut, wobei er Frau von Rinnlingen gross und aufmerksam ansah. Sie
senkte ihre Peitsche, nickte leicht mit dem Kopfe und fuhr langsam
vorüber, indem sie rechts und links die Häuser und Schaufenster
betrachtete.
Nach ein paar Schritten sagte der Grosskaufmann:
»Sie hat eine Spazierfahrt gemacht und fährt nun nach Hause.«
Der kleine Herr Friedemann antwortete nicht, sondern blickte vor sich
nieder auf das Pflaster. Dann sah er plötzlich den Grosskaufmann an und
fragte:
»Wie meinten Sie?«
Und Herr Stephens wiederholte seine scharfsinnige Bemerkung.

VIII.
Drei Tage später kam Johannes Friedemann um 12 Uhr mittags von seinem
regelmässigen Spaziergange nach Hause. Um halb 1 Uhr wurde zu Mittag
gespeist, und er wollte gerade noch für eine halbe Stunde in sein
»Bureau« gehen, das gleich rechts neben der Hausthür lag, als das
Dienstmädchen über die Diele kam und zu ihm sagte:
»Es ist Besuch da, Herr Friedemann.«
»Bei mir?« fragte er.
»Nein, oben, bei den Damen.«
»Wer denn?«
»Herr und Frau Oberstlieutenant von Rinnlingen.«
»Oh,« sagte Herr Friedemann, »da will ich doch ...«
Und er ging die Treppe hinauf. Oben schritt er über den Vorplatz, und er
hatte schon den Griff der hohen, weissen Thür in der Hand, die zum
»Landschaftszimmer« führte, als er plötzlich innehielt, einen Schritt
zurücktrat, kehrt machte und langsam wieder davonging, wie er gekommen
war. Und obgleich er vollkommen allein war, sagte er ganz laut vor sich
hin:
»Nein. Lieber nicht. --«
Er ging hinunter in sein »Bureau«, setzte sich an den Schreibtisch und
nahm die Zeitung zur Hand. Nach einer Minute aber liess er sie wieder
sinken und blickte seitwärts zum Fenster hinaus. So blieb er sitzen, bis
das Mädchen kam und meldete, dass angerichtet sei; dann begab er sich
hinauf ins Speisezimmer, wo die Schwestern schon seiner warteten, und
nahm auf seinem Stuhle Platz, auf dem drei Notenbücher lagen.
Henriette, welche die Suppe auffüllte, sagte:
»Weisst Du, Johannes, wer hier war?«
»Nun?« fragte er.
»Die neuen Oberstlieutenants.«
»Ja, so? Das ist liebenswürdig.«
»Ja,« sagte Pfiffi und bekam Flüssigkeit in die Mundwinkel, »ich finde,
dass beide durchaus angenehme Menschen sind.«
»Jedenfalls,« sagte Friederike, »dürfen wir mit unserem Gegenbesuch
nicht zögern. Ich schlage vor, dass wir übermorgen gehen, Sonntag.«
»Sonntag,« sagten Henriette und Pfiffi.
»Du wirst doch mit uns gehen, Johannes?« fragte Friederike.
»Selbstredend!« sagte Pfiffi und schüttelte sich. Herr Friedemann hatte
die Frage ganz überhört und ass mit einer stillen und ängstlichen Miene
seine Suppe. Es war, als ob er irgendwohin horchte, auf irgend ein
unheimliches Geräusch.

IX.
Am folgenden Abend gab man im Stadttheater den »Lohengrin«, und alle
gebildeten Leute waren anwesend. Der kleine Raum war besetzt von oben
bis unten und erfüllt von summendem Geräusch, Gasgeruch und Parfums.
Alle Augengläser aber, im Parquet wie auf den Rängen, richteten sich auf
Loge 13, gleich rechts neben der Bühne, denn dort waren heute zum ersten
Male Herr von Rinnlingen nebst Frau erschienen, und man hatte
Gelegenheit, das Paar einmal gründlich zu mustern.
Als der kleine Herr Friedemann in tadellosem schwarzen Anzug mit
glänzend weissem, spitz hervorstehendem Hemdeinsatz seine Loge -- Loge
13 -- betrat, zuckte er in der Thür zurück, wobei er eine Bewegung mit
der Hand nach der Stirn machte und seine Nasenflügel sich einen
Augenblick krampfhaft öffneten. Dann aber liess er sich auf seinem
Sessel nieder, dem Platze links von Frau Rinnlingen.
Sie blickte ihn, während er sich setzte, eine Weile aufmerksam an, indem
sie die Unterlippe vorschob, und wandte sich dann, um mit ihrem Gatten,
der hinter ihr stand, ein paar Worte zu wechseln. Es war ein grosser,
breiter Herr mit aufgebürstetem Schnurrbart und einem braunen,
gutmütigen Gesicht.
Als die Ouvertüre begann und Frau von Rinnlingen sich über die Brüstung
beugte, liess Herr Friedemann einen raschen, hastigen Seitenblick über
sie hingleiten. Sie trug eine helle Gesellschaftstoilette und war, als
die einzige der anwesenden Damen, sogar ein wenig dekolletiert. Ihre
Ärmel waren sehr weit und bauschig, und die weissen Handschuhe reichten
bis an die Ellenbogen. Ihre Gestalt hatte heute etwas Üppiges, was
neulich, als sie die weite Jacke trug, nicht bemerkbar gewesen war; ihr
Busen hob und senkte sich voll und langsam, und der Knoten des
rotblonden Haares fiel tief und schwer in den Nacken.
Herr Friedemann war bleich, viel bleicher als gewöhnlich, und unter dem
glattgescheitelten braunen Haar standen kleine Tropfen auf seiner Stirn.
Frau von Rinnlingen hatte von ihrem linken Arm, der auf dem roten Sammet
der Brüstung lag, den Handschuh gestreift, und diesen runden,
mattweissen Arm, der wie die schmucklose Hand von ganz blassblauem
Geäder durchzogen war, sah er immer; das war nicht zu ändern.
Die Geigen sangen, die Posaunen schmetterten darein, Telramund fiel, im
Orchester herrschte allgemeiner Jubel, und der kleine Herr Friedemann
sass unbeweglich, blass und still, den Kopf tief zwischen den Schultern,
einen Zeigefinger am Munde und die andere Hand im Aufschlage seines
Rockes.
Während der Vorhang fiel, erhob sich Frau von Rinnlingen, um mit ihrem
Gatten die Loge zu verlassen. Herr Friedemann sah es ohne hinzublicken,
fuhr mit seinem Taschentuch leicht über die Stirn, stand plötzlich auf,
ging bis an die Thür, die auf den Korridor führte, kehrte wieder um,
setzte sich an seinen Platz und verharrte dort regungslos in der
Stellung, die er vorher innegehabt hatte.
Als das Klingelzeichen erscholl und seine Nachbarn wieder eintraten,
fühlte er, dass Frau von Rinnlingens Augen auf ihm ruhten, und ohne es
zu wollen, erhob er den Kopf nach ihr. Als ihre Blicke sich trafen, sah
sie durchaus nicht beiseite, sondern fuhr fort, ihn ohne eine Spur von
Verlegenheit aufmerksam zu betrachten, bis er selbst, bezwungen und
gedemütigt, die Augen niederschlug. Er ward noch bleicher dabei, und ein
seltsamer, süsslich beizender Zorn stieg in ihm auf ... Die Musik
begann.
Gegen Ende dieses Aufzuges geschah es, dass Frau von Rinnlingen sich
ihren Fächer entgleiten liess und dass derselbe neben Herrn Friedemann
zu Boden fiel. Beide bückten sich gleichzeitig, aber sie ergriff ihn
selbst und sagte mit einem Lächeln, das spöttisch war:
»Ich danke.«
Ihre Köpfe waren ganz dicht beieinander gewesen, und er hatte einen
Augenblick den warmen Duft ihrer Brust atmen müssen. Sein Gesicht war
verzerrt, sein ganzer Körper zog sich zusammen, und sein Herz klopfte so
grässlich schwer und wuchtig, dass ihm der Atem verging. Er sass noch
eine halbe Minute, dann schob er den Sessel zurück, stand leise auf und
ging leise hinaus.

X.
Er ging, gefolgt von den Klängen der Musik, über den Korridor, liess
sich an der Garderobe seinen Cylinder, seinen hellen Überzieher und
seinen Stock geben und schritt die Treppe hinab auf die Strasse.
Es war ein warmer, stiller Abend. Im Lichte der Gaslaternen standen die
grauen Giebelhäuser schweigend gegen den Himmel, an dem die Sterne hell
und milde glänzten. Die Schritte der wenigen Menschen, die Herrn
Friedemann begegneten, hallten auf dem Trottoir. Jemand grüsste ihn,
aber er sah es nicht; er hielt den Kopf tief gesenkt, und seine hohe,
spitze Brust zitterte, so schwer atmete er. Dann und wann sagte er leise
vor sich hin:
»Mein Gott! Mein Gott!«
Er sah mit einem entsetzten und angstvollen Blick in sich hinein, wie
sein Empfinden, das er so sanft gepflegt, so milde und klug stets
behandelt hatte, nun emporgerissen war, aufgewirbelt, zerwühlt ... Und
plötzlich, ganz überwältigt, in einem Zustand von Schwindel,
Trunkenheit, Sehnsucht und Qual, lehnte er sich gegen einen
Laternenpfahl und flüsterte bebend:
»Gerda!« --
Alles blieb still. Weit und breit war in diesem Augenblick kein Mensch
zu sehen. Der kleine Herr Friedemann raffte sich auf und schritt weiter.
Er war die Strasse hinaufgegangen, in der das Theater lag und die
ziemlich steil zum Flusse hinunterlief, und verfolgte nun die
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