Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 7

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scharfen Beleuchtung noch schwärzer als vor acht Tagen. Übrigens machte
ich die Beobachtung, dass die Mundhaltung, die ich damals an ihr bemerkt
hatte, ihr überhaupt eigentümlich war: in jedem Augenblicke setzte sie
ihre weissen, in kleinen, regelmässigen Abständen schimmernden Zähne auf
die Unterlippe und zog das Kinn ein wenig empor. Diese unschuldige
Miene, die von gar keiner Koketterie zeugte, der ruhig und fröhlich
zugleich umherwandernde Blick ihrer Augen, ihr zarter und weisser Hals,
welcher frei war, und um den sich ein schmales Seidenband von der Farbe
der Taille schmiegte, die Bewegung, mit der sie sich hie und da an den
alten Herrn wandte, um ihn auf irgend etwas im Orchester, am Vorhang, in
einer Loge aufmerksam zu machen -- alles brachte den Eindruck einer
unsäglich feinen und lieblichen Kindlichkeit hervor, die jedoch nichts
in irgend einem Grade Rührendes und »Mitleid«-Erregendes an sich hatte.
Es war eine vornehme, abgemessene und durch elegantes Wohlleben sicher
und überlegen gemachte Kindlichkeit, und sie legte ein Glück an den Tag,
dem nichts Übermütiges, sondern eher etwas Stilles eignete, weil es
selbstverständlich war.
Gounods geistreiche und zärtliche Musik war, wie mich dünkte, keine
falsche Begleitung zu diesem Anblick, und ich lauschte ihr, ohne auf die
Bühne zu achten, und ganz und gar hingegeben an eine milde und
nachdenkliche Stimmung, deren Wehmut ohne diese Musik vielleicht
schmerzlicher gewesen wäre. In der Pause aber bereits, die dem ersten
Akte folgte, erhob sich von seinem Parkettplatz ein Herr von sagen wir
einmal: siebenundzwanzig bis dreissig Jahren, welcher verschwand und
gleich darauf mit einer geschickten Verbeugung in der Loge meiner
Aufmerksamkeit erschien. Der alte Herr streckte ihm alsbald die Hand
entgegen, und auch die junge Dame reichte ihm mit einem freundlichen
Kopfnicken die ihre, die er mit Anstand an seine Lippen führte, worauf
man ihn nötigte, Platz zu nehmen.
Ich erkläre mich bereit, zu bekennen, dass dieser Herr den
unvergleichlichsten Hemdeinsatz besass, den ich in meinem Leben
erblicken durfte. Er war vollkommen blossgelegt dieser Hemdeinsatz, denn
die Weste war nichts als ein schmaler, schwarzer Streifen, und die
Frackjacke, die nicht früher als weit unterhalb des Magens durch einen
Knopf geschlossen wurde, war von den Schultern aus in ungewöhnlich
weitem Bogen ausgeschnitten. Der Hemdeinsatz aber, der an dem hohen und
scharf zurückgeschlagenen Stehkragen durch eine breite, schwarze
Schleife abgeschlossen wurde, und auf dem in gemessenen Abständen zwei
grosse, viereckige und ebenfalls schwarze Knöpfe standen, war von
blendendem Weiss, und er war bewunderungswürdig gestärkt, ohne darum der
Schmiegsamkeit zu ermangeln, denn in der Gegend des Magens bildete er
auf angenehme Art eine Vertiefung, um sich dann wiederum zu einem
gefälligen und schimmernden Buckel zu erheben.
Es versteht sich, dass dieses Hemd den grössten Teil der Aufmerksamkeit
für sich verlangte; der Kopf aber, seinerseits, der vollkommen rund war,
und dessen Schädel eine Decke ganz kurzgeschorenen, hellblonden Haares
überzog, war geschmückt mit einem rand- und bandlosen Binocle, einem
nicht zu starken, blonden und leichtgekräuselten Schnurrbart und auf der
einen Wange mit einer Menge von kleinen Mensurschrammen, die sich bis
zur Schläfe hinaufzogen. Übrigens war dieser Herr ohne Fehler gebaut und
bewegte sich mit Sicherheit.
Ich habe im Verlaufe des Abends -- denn er verblieb in der Loge -- zwei
Positionen an ihm beobachtet, die ihm besonders eigentümlich schienen.
Gesetzt nämlich, dass die Unterhaltung mit den Herrschaften ruhte, so
sass er, ein Bein über das andere geschlagen und das Fernglas auf den
Knieen, mit Bequemlichkeit zurückgelehnt, senkte das Haupt und schob den
ganzen Mund heftig hervor, um sich in die Betrachtung seiner beiden
Schnurrbartenden zu versenken, gänzlich hypnotisiert davon, wie es
schien, und indem er langsam und still den Kopf von der einen Seite nach
der anderen wandte. In einer Konversation, andernfalls, mit der jungen
Dame begriffen, änderte er aus Ehrerbietung die Stellung seiner Beine,
lehnte sich jedoch noch weiter zurück, wobei er mit beiden Händen seinen
Sessel erfasste, erhob das Haupt so weit wie immer möglich und lächelte
mit ziemlich weit geöffnetem Munde in liebenswürdiger und bis zu einem
gewissen Grade überlegener Weise auf seine junge Nachbarin nieder.
Diesen Herrn musste ein wundervoll glückliches Selbstbewusstsein
erfüllen ...
Im Ernste gesprochen, ich weiss dergleichen zu schätzen. Keiner seiner
Bewegungen, und sei ihre Nonchalance immerhin gewagt gewesen, folgte
eine peinliche Verlegenheit; er war getragen von Selbstgefühl. Und warum
sollte dies anders sein? Es war klar: er hatte, ohne sich vielleicht
besonders hervorzuthun, seinen korrekten Weg gemacht, er würde denselben
bis zu klaren und nützlichen Zielen verfolgen, er lebte im Schatten des
Einverständnisses mit aller Welt und in der Sonne der allgemeinen
Achtung. Mittlerweile sass er dort in der Loge und plauderte mit einem
jungen Mädchen, für dessen reinen und köstlichen Reiz er vielleicht
nicht unzugänglich war, und dessen Hand er in diesem Falle sich guten
Mutes erbitten konnte. Wahrhaftig, ich spüre keine Lust, irgend ein
missächtliches Wort über diesen Herrn zu äussern!
Ich aber, ich meinesteils? Ich sass hier unten und mochte aus der
Entfernung, aus dem Dunkel heraus grämlich beobachten, wie jenes
kostbare und unerreichliche Geschöpf mit diesem Nichtswürdigen plauderte
und lachte! Ausgeschlossen, unbeachtet, unberechtigt, fremd, hors ligne,
deklassiert, Paria, erbärmlich vor mir selbst ...
Ich blieb bis zum Ende, und ich traf die drei Herrschaften in der
Garderobe wieder, wo man sich beim Umlegen der Pelze ein wenig aufhielt
und mit diesem oder jenem ein paar Worte wechselte, hier mit einer Dame,
dort mit einem Offizier ... Der junge Herr begleitete Vater und Tochter,
als sie das Theater verliessen, und ich folgte ihnen in einem kleinem
Abstande durch das Vestibül.
Es regnete nicht, es standen ein paar Sterne am Himmel, und man nahm
keinen Wagen. Gemächlich und plaudernd schritten die drei vor mir her,
der ich sie in scheuer Entfernung verfolgte, -- niedergedrückt,
gepeinigt von einem stechend schmerzlichen, höhnischen, elenden Gefühl
... Man hatte nicht weit zu gehen; kaum war eine Strasse zurückgelegt,
als man vor einem stattlichen Hause mit schlichter Fassade stehen blieb,
und gleich darauf verschwanden Vater und Tochter nach herzlicher
Verabschiedung von ihrem Begleiter, der seinerseits beschleunigten
Schrittes davonging.
An der schweren, geschnitzten Thür des Hauses war der Name »Justizrat
Rainer« zu lesen.

XIII.
Ich bin entschlossen, diese Niederschrift zu Ende zu führen, obgleich
ich vor innerem Widerstreben in jedem Augenblicke aufspringen und
davonlaufen möchte. Ich habe in dieser Angelegenheit so bis zur
Erschlaffung gegraben und gebohrt! Ich bin alles dessen so bis zur
Übelkeit überdrüssig!...
Es sind nicht völlig drei Monate, dass mich die Zeitungen über einen
»Bazar« unterrichteten, der zu Zwecken der Wohlthätigkeit im Rathause
der Stadt arrangiert worden war, und zwar unter Beteiligung der
vornehmen Welt. Ich las diese Annonce mit Aufmerksamkeit, und ich war
gleich darauf entschlossen, den Bazar zu besuchen. Sie wird dort sein,
dachte ich, vielleicht als Verkäuferin, und in diesem Falle wird nichts
mich abhalten, mich ihr zu nähern. Ruhig überlegt bin ich Mensch von
Bildung und guter Familie, und wenn mir dieses Fräulein Rainer gefällt,
so ist es mir bei solcher Gelegenheit so wenig wie dem Herrn mit dem
erstaunlichen Hemdeinsatz verwehrt, sie anzureden, ein paar scherzhafte
Worte mit ihr zu wechseln ...
Es war ein windiger und regnerischer Nachmittag, als ich mich zum
Rathause begab, vor dessen Portal ein Gedränge von Menschen und Wagen
herrschte. Ich bahnte mir einen Weg in das Gebäude, erlegte das
Eintrittsgeld, gab Überzieher und Hut in Verwahrung und gelangte mit
einiger Anstrengung die breite, mit Menschen bedeckte Treppe hinauf ins
erste Stockwerk und in den Festsaal, aus dem mir ein schwüler Dunst von
Wein, Speisen, Parfüms und Tannengeruch, ein wirrer Lärm von Gelächter,
Gespräch, Musik, Ausrufen und Gongschlägen entgegendrang.
Der ungeheuer hohe und weite Raum war mit Fahnen und Guirlanden
buntfarbig geschmückt, und an den Wänden wie in der Mitte zogen sich die
Buden hin, offene Verkaufsstellen sowohl, wie geschlossene Verschläge,
deren Besuch phantastisch maskierte Herren aus vollen Lungen empfahlen.
Die Damen, die ringsumher Blumen, Handarbeiten, Tabak und Erfrischungen
aller Art verkauften, waren gleichfalls in verschiedener Weise
kostümiert. Am oberen Ende des Saales lärmte auf einer mit Pflanzen
besetzten Estrade die Musikkapelle, während in dem nicht breiten Gange,
den die Buden freiliessen, ein kompakter Zug von Menschen sich langsam
vorwärts bewegte.
Ein wenig frappiert von dem Geräusch der Musik, der Glückshäfen, der
lustigen Reklame, schloss ich mich dem Strome an, und noch war keine
Minute vergangen, als ich vier Schritte links vom Eingange die junge
Dame erblickte, die ich hier suchte. Sie hielt in einer kleinen, mit
Tannenlaub bekränzten Bude Weine und Limonaden feil und war als
Italienerin gekleidet: mit dem bunten Rock, der weissen, rechtwinkligen
Kopfbedeckung und dem kurzen Mieder der Albanerinnen, dessen Hemdärmel
ihre zarten Arme bis zu den Ellenbogen entblösst liessen. Ein wenig
erhitzt lehnte sie seitwärts am Verkaufstisch, spielte mit ihrem bunten
Fächer und plauderte mit einer Anzahl von Herren, die rauchend die Bude
umstanden, und unter denen ich mit dem ersten Blicke den Wohlbekannten
gewahrte; ihr zunächst stand er am Tische, vier Finger jeder Hand in den
Seitentaschen seines Jaquetts.
Ich drängte langsam vorüber, entschlossen, zu ihr zu treten, sobald eine
Gelegenheit sich böte, sobald sie weniger in Anspruch genommen wäre ...
Ah! Es sollte sich erweisen nunmehr, ob ich noch über einen Rest von
fröhlicher Sicherheit und selbstbewusster Gewandtheit verfügte, oder ob
die Morosität und die halbe Verzweiflung meiner letzten Wochen
berechtigt gewesen war! Was hatte mich eigentlich angefochten? Woher
angesichts dieses Mädchens dies peinigende und elende Mischgefühl aus
Neid, Liebe, Scham und gereizter Bitterkeit, das mir auch nun wieder,
ich bekenne es, das Gesicht erhitzte? Freimut! Liebenswürdigkeit!
Heitere und anmutige Selbstgefälligkeit, zum Teufel, wie sie einem
begabten und glücklichen Menschen geziemt! Und ich dachte mit einem
nervösen Eifer der scherzhaften Wendung, dem guten Worte, der
italienischen Anrede nach, mit der ich mich ihr zu nähern
beabsichtigte ...
Es währte eine gute Weile, bis ich in der schwerfällig vorwärts
schiebenden Menge den Weg um den Saal zurückgelegt hatte, -- und in der
That: als ich mich aufs neue bei der kleinen Weinbude befand, war der
Halbkreis von Herren verschwunden, und nur der Wohlbekannte lehnte noch
am Schanktische, indem er sich aufs lebhafteste mit der jungen
Verkäuferin unterhielt. Nun wohl, so musste ich mir erlauben, diese
Unterhaltung zu unterbrechen ... Und mit einer kurzen Wendung verliess
ich den Strom und stand am Tische.
Was geschah? Ah, nichts! Beinahe nichts! Die Konversation brach ab, der
Wohlbekannte trat einen Schritt zur Seite, indem er mit allen fünf
Fingern sein rand- und bandloses Binocle erfasste und mich zwischen
diesen Fingern hindurch betrachtete, und die junge Dame liess einen
ruhigen und prüfenden Blick über mich hingleiten -- über meinen Anzug
bis auf die Stiefel hinab. Dieser Anzug war keineswegs neu, und diese
Stiefel waren vom Strassenkot besudelt, ich wusste das. Überdies war ich
erhitzt, und mein Haar war sehr möglicherweise in Unordnung. Ich war
nicht kühl, nicht frei, nicht auf der Höhe der Situation. Das Gefühl,
dass ich, ein Fremder, Unberechtigter, Unzugehöriger, hier störte und
mich lächerlich machte, befiel mich. Unsicherheit, Hilflosigkeit, Hass
und Jämmerlichkeit verwirrten mir den Blick, und mit einem Worte, ich
führte meine munteren Absichten aus, indem ich mit finster
zusammengezogenen Brauen, mit heiserer Stimme und auf kurze, beinahe
grobe Weise sagte:
-- Ich bitte um ein Glas Wein.
Es ist vollkommen gleichgültig, ob ich mich irrte, als ich zu bemerken
glaubte, dass das junge Mädchen einen raschen und spöttischen Blick zu
ihrem Freunde hinüberspielen liess. Schweigend wie er und ich gab sie
mir den Wein, und ohne den Blick zu erheben, rot und verstört vor Wut
und Schmerz, eine unglückliche und lächerliche Figur, stand ich zwischen
diesen beiden, trank ein paar Schlucke, legte das Geld auf den Tisch,
verbeugte mich fassungslos, verliess den Saal und stürzte ins Freie.
Seit diesem Augenblicke ist es zu Ende mit mir, und es fügt der Sache
bitterwenig hinzu, dass ich ein paar Tage später in den Journalen die
Verkündigung fand:
»Die Verlobung meiner Tochter Anna mit Herrn Assessor Dr. Alfred
Witznagel beehre ich mich ergebenst anzuzeigen. Justizrat Rainer.«

XIV.
Seit diesem Augenblick ist es zu Ende mit mir. Mein letzter Rest von
Glücksbewusstsein und Selbstgefälligkeit ist zu Tode gehetzt
zusammengebrochen, ich kann nicht mehr, ja, ich bin unglücklich, ich
gestehe es ein, und ich sehe eine klägliche und lächerliche Figur in
mir! -- Aber ich halte das nicht aus! Ich gehe zu Grunde! Ich werde mich
totschiessen, sei es heut oder morgen!
Meine erste Regung, mein erster Instinkt war der schlaue Versuch, das
Belletristische aus der Sache zu ziehen und mein erbärmliches
Übelbefinden in »unglückliche Liebe« umzudeuten: Eine Albernheit, wie
sich von selbst versteht. Man geht an keiner unglücklichen Liebe zu
Grunde. Eine unglückliche Liebe ist eine Attitüde, die nicht übel ist.
In einer unglücklichen Liebe gefällt man sich. Ich aber gehe daran zu
Grunde, dass es mit allem Gefallen an mir selbst so ohne Hoffnung zu
Ende ist!
Liebte ich, wenn endlich einmal diese Frage erlaubt ist, liebte ich
dieses Mädchen denn eigentlich? -- Vielleicht ... aber wie und warum?
War diese Liebe nicht eine Ausgeburt meiner längst schon gereizten und
kranken Eitelkeit, die beim ersten Anblick dieser unerreichbaren
Kostbarkeit peinigend aufbegehrt war und Gefühle von Neid, Hass und
Selbstverachtung hervorgebracht hatte, für die dann die Liebe bloss
Vorwand, Ausweg und Rettung war?
Ja, das alles ist Eitelkeit! Und hat mich nicht mein Vater schon einst
einen Bajazzo genannt?
Ach, ich war nicht berechtigt, ich am wenigsten, mich seitab zu setzen
und die »Gesellschaft« zu ignorieren, ich, der ich zu eitel bin, ihre
Miss- und Nichtachtung zu ertragen, der ich ihrer und ihres Beifalls
nicht zu entraten vermag! -- Aber es handelt sich nicht um Berechtigung?
Sondern um Notwendigkeit? Und mein unbrauchbares Bajazzotum hätte für
keine sociale Stellung getaugt? Nunwohl, eben dieses Bajazzotum ist es,
an dem ich in jedem Falle zu Grunde gehen musste.
Gleichgültigkeit, ich weiss, das wäre eine Art von Glück ... Aber ich
bin nicht im stande, gleichgültig gegen mich zu sein, ich bin nicht im
stande, mich mit anderen Augen anzusehen, als mit denen der »Leute«, und
ich gehe an bösem Gewissen zu Grunde -- erfüllt von Unschuld ... Sollte
das böse Gewissen denn niemals etwas anderes sein, als eiternde
Eitelkeit? --
Es giebt nur ein Unglück: das Gefallen an sich selbst einbüssen. Sich
nicht mehr zu gefallen, das ist das Unglück -- ah, und ich habe das
stets sehr deutlich gefühlt! Alles übrige ist Spiel und Bereicherung des
Lebens, in jedem anderen Leiden kann man so ausserordentlich mit sich
zufrieden sein, sich so vorzüglich ausnehmen. Die Zwietracht erst mit
dir selbst, das böse Gewissen im Leiden, die Kämpfe der Eitelkeit erst
sind es, die dich zu einem kläglichen und widerwärtigen Anblick
machen ...
Ein alter Bekannter erschien auf der Bildfläche, ein Herr Namens
Schilling, mit dem ich einst in dem grossen Holzgeschäfte des Herrn
Schlievogt gemeinschaftlich der Gesellschaft diente. Er berührte in
Geschäften die Stadt und kam, mich zu besuchen -- ein »skeptisches
Individuum«, die Hände in den Hosentaschen, mit einem schwarzgeränderten
Pincenez und einem realistisch duldsamen Achselzucken. Er traf des
Abends ein und sagte: »Ich bleibe ein paar Tage hier.« -- Wir gingen in
eine Weinstube.
Er begegnete mir, als sei ich noch der glückliche Selbstgefällige, als
den er mich gekannt hatte, und in dem guten Glauben, mir nur meine eigne
fröhliche Meinung entgegen zu bringen, sagte er:
-- »Bei Gott, Du hast Dir Dein Leben angenehm eingerichtet, mein Junge!
Unabhängig, was? frei! Eigentlich hast Du recht, zum Teufel! Man lebt
nur einmal, wie? Was geht einen im Grunde das übrige an? Du bist der
Klügere von uns beiden, das muss ich sagen. Übrigens, Du warst immer ein
Genie ...« Und wie ehemals fuhr er fort, mich bereitwilligst
anzuerkennen und mir gefällig zu sein, ohne zu ahnen, dass ich
meinerseits voll Angst war, zu missfallen.
Mit verzweifelten Anstrengungen bemühte ich mich, den Platz zu
behaupten, den ich in seinen Augen einnahm, nach wie vor auf der Höhe zu
erscheinen, glücklich und selbstzufrieden zu erscheinen -- umsonst! Mir
fehlte jedes Rückgrat, jeder gute Mut, jede Contenance, ich kam ihm mit
einer matten Verlegenheit, einer geduckten Unsicherheit entgegen -- und
er erfasste das mit unglaublicher Schnelligkeit! Es war entsetzlich, zu
sehen, wie er, der vollkommen bereit gewesen war, mich als glücklichen
und überlegenen Menschen anzuerkennen, begann, mich zu durchschauen,
mich erstaunt anzusehen, kühl zu werden, überlegen zu werden, ungeduldig
und widerwillig zu werden und mir schliesslich seine Verachtung mit
jeder Miene zu zeigen. Er brach früh auf, und am nächsten Tage belehrten
mich ein paar flüchtige Zeilen darüber, dass er dennoch genötigt gewesen
sei, abzureisen.
Es ist Thatsache, alle Welt ist viel zu angelegentlich mit sich selbst
beschäftigt, als dass man ernstlich eine Meinung über einen anderen zu
haben vermöchte; man acceptiert mit träger Bereitwilligkeit den Grad von
Respekt, den du die Sicherheit hast, vor dir selber an den Tag zu legen.
Sei, wie du willst, lebe, wie du willst, aber zeige kecke Zuversicht und
kein böses Gewissen, und niemand wird moralisch genug sein, dich zu
verachten. Erlebe es andererseits, die Einigkeit mit dir zu verlieren,
die Selbstgefälligkeit einzubüssen, zeige, dass du dich verachtest, und
blindlings wird man dir recht geben. -- Was mich betrifft, ich bin
verloren ...
* * * * *
Ich höre auf zu schreiben, ich werfe die Feder fort -- voll Ekel, voll
Ekel! -- Ein Ende machen: aber wäre das nicht beinahe zu heldenhaft für
einen »Bajazzo«? Es wird sich ergeben, fürchte ich, dass ich weiter
leben, weiter essen, schlafen und mich ein wenig beschäftigen werde und
mich allgemach dumpfsinnig daran gewöhnen, eine »unglückliche und
lächerliche Figur« zu sein.
Mein Gott, wer hätte es gedacht, wer hätte es denken können, dass es ein
solches Verhängnis und Unglück ist, als ein »Bajazzo« geboren zu
werden!...


Tobias Mindernickel.

I.
Eine der Strassen, die von der Quaigasse aus ziemlich steil zur
mittleren Stadt emporführen, heisst der Graue Weg. Etwa in der Mitte
dieser Strasse und rechter Hand, wenn man vom Flusse kommt, steht das
Haus No. 47, ein schmales, trübfarbiges Gebäude, das sich durch nichts
von seinen Nachbarn unterscheidet. In seinem Erdgeschoss befindet sich
ein Krämerladen, in welchem man auch Gummischuhe und Ricinusöl erhalten
kann. Geht man, mit dem Durchblick auf einen Hofraum, in dem sich Katzen
umhertreiben, über den Flur, so führt eine enge und ausgetretene
Holztreppe, auf der es unaussprechlich dumpfig und ärmlich riecht, in
die Etagen hinauf. Im ersten Stockwerk links wohnt ein Schreiner, rechts
eine Hebamme. Im zweiten Stockwerk links wohnt ein Flickschuster, rechts
eine Dame, welche laut zu singen beginnt, sobald sich Schritte auf der
Treppe vernehmen lassen. Im dritten Stockwerk steht linker Hand die
Wohnung leer, rechts wohnt ein Mann Namens Mindernickel, der obendrein
Tobias heisst. Von diesem Manne giebt es eine Geschichte, die erzählt
werden soll, weil sie rätselhaft und über alle Begriffe schändlich ist.
Das Äussere Mindernickels ist auffallend, sonderbar und lächerlich.
Sieht man beispielsweise, wenn er einen Spaziergang unternimmt, seine
magere, auf einen Stock gestützte Gestalt sich die Strasse
hinaufbewegen, so ist er schwarz gekleidet, und zwar vom Kopfe bis zu
den Füssen. Er trägt einen altmodischen, geschweiften und rauhen
Cylinder, einen engen und altersblanken Gehrock und in gleichem Masse
schäbige Beinkleider, die unten ausgefranst und so kurz sind, dass man
den Gummieinsatz der Stiefeletten sieht. Übrigens muss gesagt werden,
dass diese Kleidung aufs reinlichste gebürstet ist. Sein hagerer Hals
erscheint um so länger, als er sich aus einem niedrigen Klappkragen
erhebt. Das ergraute Haar ist glatt und tief in die Schläfen gestrichen,
und der breite Rand des Cylinders beschattet ein rasiertes und fahles
Gesicht mit eingefallenen Wangen, mit entzündeten Augen, die sich selten
vom Boden erheben, und zwei tiefen Furchen, die grämlich von der Nase
bis zu den abwärts gezogenen Mundwinkeln laufen.
Mindernickel verlässt selten das Haus, und das hat seinen Grund. Sobald
er nämlich auf der Strasse erscheint, laufen viele Kinder zusammen,
ziehen ein gutes Stück Wegs hinter ihm drein, lachen, höhnen, singen:
»Ho, ho, Tobias!« und zupfen ihn wohl auch am Rocke, während die Leute
vor die Thüren treten und sich amüsieren. Er selbst aber geht, ohne sich
zu wehren und scheu um sich blickend, mit hochgezogenen Schultern und
vorgestrecktem Kopfe davon, wie ein Mensch, der ohne Schirm durch einen
Platzregen eilt; und obgleich man ihm ins Gesicht lacht, grüsst er hie
und da mit einer demütigen Höflichkeit jemanden von den Leuten, die vor
den Thüren stehn. Später, wenn die Kinder zurückbleiben, wenn man ihn
nicht mehr kennt und nur wenige sich nach ihm umsehen, ändert sich sein
Benehmen nicht wesentlich. Er fährt fort, ängstlich um sich zu blicken
und geduckt davonzustreben, als fühlte er tausend höhnische Blicke auf
sich, und wenn er unschlüssig und scheu den Blick vom Boden erhebt, so
bemerkt man das Sonderbare, dass er nicht im stande ist, irgend einen
Menschen oder auch nur ein Ding mit Festigkeit und Ruhe ins Auge zu
fassen. Es scheint, möge es fremdartig klingen, ihm die natürliche,
sinnlich wahrnehmende Überlegenheit zu fehlen, mit der das Einzelwesen
auf die Welt der Erscheinungen blickt, er scheint sich einer jeden
Erscheinung unterlegen zu fühlen, und seine haltlosen Augen müssen vor
Mensch und Ding zu Boden kriechen ...
Was für eine Bewandtnis hat es mit diesem Manne, der stets allein ist
und der in ungewöhnlichem Grade unglücklich zu sein scheint? Seine
gewaltsam bürgerliche Kleidung sowie eine gewisse sorgfältige Bewegung
der Hand über das Kinn scheint anzudeuten, dass er keineswegs zu der
Bevölkerungsklasse gerechnet werden will, in deren Mitte er wohnt. Gott
weiss, in welcher Weise ihm mitgespielt worden ist. Sein Gesicht sieht
aus, als hätte ihm das Leben verächtlich lachend mit voller Faust
hineingeschlagen ... Übrigens ist es sehr möglich, dass er, ohne schwere
Schicksalsschläge erlebt zu haben, einfach dem Dasein selbst nicht
gewachsen ist, und die leidende Unterlegenheit und Blödigkeit seiner
Erscheinung macht den peinvollen Eindruck, als hätte die Natur ihm das
Mass von Gleichgewicht, Kraft und Rückgrat versagt, das hinlänglich
wäre, mit erhobenem Kopfe zu existieren.
Hat er, gestützt auf seinen schwarzen Stock, einen Gang in die Stadt
hinauf gemacht, so kehrt er, im Grauen Weg von den Kindern johlend
empfangen, in seine Wohnung zurück; er begiebt sich die dumpfige Treppe
hinauf in sein Zimmer, das ärmlich und schmucklos ist. Nur die Kommode,
ein solides Empire-Möbel mit schweren Metallgriffen, ist von Wert und
Schönheit. Vor dem Fenster, dessen Aussicht von der grauen Seitenmauer
des Nachbarhauses hoffnungslos abgeschnitten ist, steht ein Blumentopf,
voll von Erde, in der jedoch durchaus nichts wächst; gleichwohl tritt
Tobias Mindernickel zuweilen dorthin, betrachtet den Blumentopf und
riecht an der blossen Erde. -- Neben dieser Stube liegt eine kleine,
dunkle Schlafkammer. -- Nachdem er eingetreten, legt Tobias Cylinder und
Stock auf den Tisch, setzt sich auf das grün überzogene Sofa, das nach
Staub riecht, stützt das Kinn in die Hand und blickt mit erhobenen
Augenbrauen vor sich nieder zu Boden. Es scheint, dass es für ihn auf
Erden nichts weiter zu thun giebt.
Was Mindernickels Charakter betrifft, so ist es sehr schwer, darüber zu
urteilen; der folgende Vorfall scheint zu Gunsten desselben zu sprechen.
Als der sonderbare Mann eines Tages das Haus verliess und wie gewöhnlich
eine Schar von Kindern sich einfand, die ihn mit Spottrufen und
Gelächter verfolgten, strauchelte ein Junge von etwa zehn Jahren über
den Fuss eines anderen und schlug so heftig auf das Pflaster, dass ihm
das Blut aus der Nase und von der Stirne lief und er weinend liegen
blieb. Alsbald wandte Tobias sich um, eilte auf den Gestürzten zu,
beugte sich über ihn und begann mit milder und bebender Stimme ihn zu
bemitleiden. »Du armes Kind,« sagte er, »hast Du Dir wehgethan? Du
blutest! Seht, das Blut läuft ihm von der Stirn herunter! Ja, ja, wie
elend Du nun daliegst! Freilich, es thut so weh, dass es weint, das arme
Kind! Welch Erbarmen ich mit Dir habe! Es war Deine Schuld, aber ich
will Dir mein Taschentuch um den Kopf binden ... So, so! Nun fasse Dich
nur, nun erhebe Dich nur wieder ...« Und nachdem er mit diesen Worten
dem Jungen in der That sein eigenes Schnupftuch umgewunden hatte,
stellte er ihn mit Sorgfalt auf die Füsse und ging davon. Seine Haltung
und sein Gesicht aber zeigten in diesem Augenblicke einen entschieden
anderen Ausdruck als gewöhnlich. Er schritt fest und aufrecht, und seine
Brust atmete tief unter dem engen Gehrock; seine Augen hatten sich
vergrössert, sie hatten Glanz erhalten und fassten mit Sicherheit
Menschen und Dinge, während um seinen Mund ein Zug von schmerzlichem
Glücke lag ...
Dieser Vorfall hatte zur Folge, dass sich die Spottlust der Leute vom
Grauen Wege zunächst ein wenig verminderte. Nach Verlauf einiger Zeit
jedoch war sein überraschendes Betragen vergessen, und eine Menge von
gesunden, wohlgemuten und grausamen Kehlen sang wieder hinter dem
geduckten und haltlosen Manne drein: »Ho, ho, Tobias!«

II.
Eines sonnigen Vormittags um 11 Uhr verliess Mindernickel das Haus und
begab sich durch die ganze Stadt hinauf zum Lerchenberge, jenem
langgestreckten Hügel, der um die Nachmittagsstunden die vornehmste
Promenade der Stadt bildet, der aber bei dem ausgezeichneten
Frühlingswetter, welches herrschte, auch um diese Zeit bereits von
einigen Wagen und Fussgängern besucht war. Unter einem Baum der grossen
Hauptallee stand ein Mann mit einem jungen Jagdhund an der Leine, den er
den Vorübergehenden mit der ersichtlichen Absicht zeigte, ihn zu
verkaufen; es war ein kleines gelbes und muskulöses Tier von etwa vier
Monaten, mit einem schwarzen Augenring und einem schwarzen Ohr.
Als Tobias dies aus einer Entfernung von zehn Schritten bemerkte, blieb
er stehen, strich mehrere Male mit der Hand über das Kinn und blickte
nachdenklich auf den Verkäufer und auf das alert mit dem Schwanze
wedelnde Hündchen. Hierauf begann er aufs neue zu gehen, umkreiste, die
Krücke seines Stockes gegen den Mund gedrückt, dreimal den Baum, an
welchem der Mann lehnte, trat dann auf den letzteren zu und sagte,
während er unverwandt das Tier im Auge behielt, mit leiser und hastiger
Stimme:
»Was kostet dieser Hund?«
»Zehn Mark,« antwortete der Mann.
Tobias schwieg einen Augenblick und wiederholte dann unschlüssig:
»Zehn Mark?«
»Ja,« sagte der Mann.
Da zog Tobias eine schwarze Lederbörse aus der Tasche, entnahm derselben
einen Fünf-Mark-Schein, ein Drei- und ein Zwei-Mark-Stück, händigte
rasch dieses Geld dem Verkäufer ein, ergriff die Leine und zerrte eilig,
gebückt und scheu um sich blickend, da einige Leute den Kauf beobachtet
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