Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 4

Total number of words is 4322
Total number of unique words is 1488
42.0 of words are in the 2000 most common words
55.7 of words are in the 5000 most common words
60.3 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
mit Paolo den Nachmittagsthee in dem freiherrlichen Salon einnahm. Es
pflegte dort ein kleiner, aber recht angenehmer Kreis versammelt zu
sein: Eine junge Hofschauspielerin, ein Arzt, ein Offizier -- ich
entsinne mich nicht jedes einzelnen.
An Paolos Benehmen beobachtete ich nichts Neues. Er befand sich
gewöhnlich trotz seines besorgniserregenden Aussehens in gehobener,
freudiger Stimmung und zeigte in der Nähe der Baronesse jedesmal wieder
jene unheimliche Ruhe, die ich das erste Mal an ihm wahrgenommen hatte.
Da begegnete mir eines Tages -- und ich hatte Paolo zufällig zwei Tage
lang nicht gesehen -- in der Ludwigstrasse der Baron von Stein. Er war
zu Pferde, hielt an und reichte mir vom Sattel aus die Hand.
»Erfreut, Sie zu sehen! Hoffentlich lassen Sie sich morgen Nachmittag
bei uns blicken?«
»Wenn Sie gestatten, zweifellos, Herr Baron. Auch wenn es irgendwie
zweifelhaft wäre, dass mein Freund Hofmann wie jeden Donnerstag kommen
wird, mich abzuholen ...«
»Hofmann? Aber wissen Sie denn nicht -- er ist ja abgereist! Ich dachte
doch, _Sie_ hätte er davon unterrichtet.«
»Aber mit keiner Silbe!«
»Und so vollkommen à bâton rompu ... Das nennt man Künstlerlaunen ...
Also morgen Nachmittag! --«
Damit setzte er sein Tier in Bewegung und liess mich höchst verdutzt
zurück.
Ich eilte in Paolos Wohnung. -- Ja, leider; Herr Hofmann sei abgereist.
Eine Adresse habe er nicht hinterlassen.
Es war klar, dass der Baron von mehr als einer »Künstlerlaune« wusste.
Seine Tochter selbst hat mir das, was ich ohnehin mit Bestimmtheit
vermutete, bestätigt.
Das geschah auf einem Spaziergang ins Isarthal, den man arrangiert
hatte, und zu dem auch ich aufgefordert worden war. Man war erst
nachmittags ausgezogen, und auf dem Heimwege zu später Abendstunde fügte
es sich, dass die Baronesse und ich als letztes Paar der Gesellschaft
nachfolgten.
Ich hatte an ihr seit Paolos Verschwinden keinerlei Veränderung
wahrgenommen. Sie hatte ihre Ruhe vollständig bewahrt und meines
Freundes bis dahin mit keinem Worte Erwähnung gethan, während ihre
Eltern sich über seine plötzliche Abreise in Ausdrücken des Bedauerns
ergingen.
Nun schritten wir neben einander durch diesen anmutigsten Teil der
Umgebung Münchens; das Mondlicht flimmerte zwischen dem Laubwerk, und
wir lauschten eine Weile schweigend dem Geplauder der übrigen
Gesellschaft, das ebenso einförmig war, wie das Brausen der Wasser, die
neben uns dahinschäumten.
Dann begann sie plötzlich von Paolo zu sprechen, und zwar in einem sehr
ruhigen und sehr sicheren Ton.
»Sie sind seit früher Jugend sein Freund?« fragte sie mich.
»Ja, Baronesse.«
»Sie teilen seine Geheimnisse?«
»Ich glaube, dass sein schwerstes mir bekannt ist, auch ohne dass er es
mir mitgeteilt.«
»Und ich darf Ihnen vertrauen?«
»Ich hoffe, dass Sie nicht daran zweifeln, gnädiges Fräulein.«
»Nun gut,« sagte sie, indem sie den Kopf mit einer entschlossenen
Bewegung erhob. »Er hat um meine Hand angehalten, und meine Eltern haben
sie ihm verweigert. Er sei krank, sagten sie mir, sehr krank -- aber
gleichviel: Ich _liebe_ ihn. Ich darf so zu Ihnen sprechen, nicht wahr?
Ich ...«
Sie verwirrte sich einen Augenblick und fuhr dann mit derselben
Entschlossenheit fort:
»Ich weiss nicht, wo er sich aufhält; aber ich gebe Ihnen die Erlaubnis,
ihm meine Worte, die er aus meinem eigenen Munde schon vernommen hat, zu
wiederholen, so bald Sie ihn wiedersehen, sie ihm zu schreiben, sobald
Sie seine Adresse ausfindig gemacht haben: Ich werde niemals einem
anderen Manne die Hand reichen als ihm. Ah -- wir werden sehen!«
In diesem letzten Ausruf lag neben Trotz und Entschlossenheit ein so
hilfloser Schmerz, dass ich mich nicht enthalten konnte, ihre Hand zu
ergreifen und sie stumm zu drücken.
Ich habe mich damals an Hofmanns Eltern brieflich mit der Bitte gewandt,
mich über den Aufenthaltsort ihres Sohnes zu benachrichtigen. Ich
erhielt eine Adresse in Südtirol, und mein Brief, der dorthin abging,
gelangte an mich zurück mit der Bemerkung, der Adressat habe, ohne ein
Reiseziel anzugeben, den Ort schon wieder verlassen.
Er wollte von keiner Seite behelligt sein, er war allem entflohen, um
irgendwo in aller Einsamkeit zu sterben. Gewiss, zu sterben. Denn nach
alledem war es mir zur traurigen Wahrscheinlichkeit geworden, dass ich
ihn nicht wiedersehen würde.
War es nicht klar, dass dieser hoffnungslos kranke Mensch jenes junge
Mädchen mit der lautlosen, vulkanischen, glühend sinnlichen Leidenschaft
liebte, die den gleichartigen ersten Regungen seiner früheren Jugend
entsprach? Der egoistische Instinkt des Kranken hatte die Begier nach
Vereinigung mit blühender Gesundheit in ihm entfacht; musste diese Glut,
da sie ungestillt blieb, seine letzte Lebenskraft nicht schnell
verzehren?
Und es vergingen fünf Jahre, ohne dass ich ein Lebenszeichen von ihm
erhielt, -- aber auch ohne dass die Nachricht von seinem Tode mich
erreichte!
Im vergangenen Jahre nun hielt ich mich in Italien auf, in Rom und
Umgebung. Ich hatte die heissen Monate im Gebirge verlebt, war Ende
September in die Stadt zurückgekehrt, und an einem warmen Abend sass ich
bei einer Tasse Thee im Caffé Aranjo. Ich blätterte in meiner Zeitung
und blickte gedankenlos in das lebendige Treiben, das in dem weiten,
lichterfüllten Raume herrschte. Die Gäste kamen und gingen, die Kellner
eilten hin und her, und dann und wann tönten durch die weit offenen
Thüren die langgezogenen Rufe der Zeitungsjungen in den Saal hinein.
Und plötzlich sehe ich, wie ein Herr von meinem Alter sich langsam
zwischen den Tischen hindurch und einem Ausgang zu bewegt ... Dieser
Gang --? Aber da wendet er auch schon den Kopf nach mir, hebt die
Augenbrauen, kommt mir mit einem freudig erstaunten »Ah!?« entgegen.
»Du hier?« Wir riefen es wie aus einem Munde, und er fügte hinzu:
»Also wir sind beide noch am Leben!«
Seine Augen schweiften ein wenig ab dabei. -- Er hatte sich in diesen
fünf Jahren kaum verändert; nur dass sein Gesicht vielleicht noch
schmaler geworden war, seine Augen noch tiefer in ihren Höhlen lagen.
Dann und wann atmete er tief auf.
»Du bist schon lange in Rom?« fragte er.
»In der Stadt noch nicht lange; ich war ein paar Monate auf dem Lande.«
»Und Du?«
»Ich war bis vor einer Woche am Meer. Du weisst, ich habe es den Bergen
immer vorgezogen ... Ja, ich habe, seit wir uns nicht sahen, ein gutes
Stück Erde kennen gelernt.« --
Und er begann, während er neben mir ein Glas sorbetto schlürfte, zu
erzählen, wie er diese Jahre verbracht hatte: Auf Reisen, immer auf
Reisen. Er hatte in den Tiroler Bergen gestreift, hatte ganz Italien
langsam durchmessen, war von Sizilien nach Afrika gegangen und sprach
von Algier, Tunis, Ägypten.
»Schliesslich bin ich einige Zeit in Deutschland gewesen,« sagte er, »in
Karlsruhe; meine Eltern wünschten dringend, mich zu sehen und haben mich
nur ungern wieder ziehen lassen. Jetzt bin ich seit einem Vierteljahre
wieder in Italien. Ich fühle mich im Süden zu Hause, weisst Du. Rom
gefällt mir über alle Massen!...«
Ich hatte ihn noch mit keinem Worte nach seinem Befinden befragt. Jetzt
sagte ich:
»Aus alledem darf ich schliessen, dass Deine Gesundheit sich bedeutend
gekräftigt hat?«
Er sah mich einen Augenblick fragend an; dann erwiderte er:
»Du meinst, weil ich so munter umherwandere? Ach, ich will Dir sagen:
Das ist ein sehr natürliches Bedürfnis. Was willst du? Trinken, Rauchen
und Lieben hat man mir verboten, -- irgend ein Narkotikum habe ich
nötig, verstehst Du?«
Da ich schwieg, fügte er hinzu:
»Seit fünf Jahren -- _sehr_ nötig.« --
Wir waren bei dem Punkte angelangt, den wir bis dahin vermieden hatten,
und die Pause, die eintrat, redete von unserer beiderseitigen
Ratlosigkeit. -- Er sass gegen das Sammetpolster zurückgelehnt und
blickte zum Kronleuchter empor. Dann sagte er plötzlich:
»Vor allem, -- nicht wahr, Du verzeihst mir, dass ich so lange nichts
habe von mir hören lassen ... Du verstehst das?«
»Gewiss!«
»Du bist über meine Münchener Erlebnisse orientiert?« fuhr er in beinahe
hartem Tone fort.
»So vollkommen wie möglich. Und weisst Du, dass ich mich die ganze Zeit
mit einem Auftrag für Dich getragen habe? Einem Auftrag von einer Dame?«
Seine müden Augen flammten kurz auf. Dann sagte er in demselben
trockenen und scharfen Tone von vorher:
»Lass hören, ob es etwas Neues ist.«
»Neues kaum; nur eine Bekräftigung dessen, was Du von ihr selbst schon
gehört hast« ...
Und ich wiederholte ihm, inmitten der schwatzenden und gestikulierenden
Menge, die Worte, die an jenem Abend die Baronesse zu mir gesprochen
hatte.
Er lauschte, indem er sich langsam über die Stirne strich; dann sagte er
ohne irgend ein Zeichen von Bewegung:
»Ich danke Dir.« --
Sein Ton fing an, mich irre zu machen.
»Aber über diese Worte sind Jahre hingegangen,« sagte ich, »fünf lange
Jahre, die sie und Du, ihr beide durchlebt habt ... Tausend neue
Eindrücke, Gefühle, Gedanken, Wünsche« ...
Ich brach ab, denn er richtete sich auf und sagte mit einer Stimme, in
der wieder die Leidenschaft bebte, die ich einen Moment für erloschen
gehalten hatte:
»_Ich_ -- _halte_ diese Worte!«
Und in diesem Augenblick erkannte ich auf seinem Gesicht und in seiner
ganzen Haltung den Ausdruck wieder, den ich damals, als ich die
Baronesse zum ersten Male sehen sollte, an ihm beobachtete: diese
gewaltsame, krampfhaft angespannte Ruhe, die das Raubtier vor dem
Sprunge zeigt.
Ich lenkte ab, und wir sprachen wieder von seinen Reisen, von den
Studien, die er unterwegs gemacht. Es schienen nicht viele zu sein; er
liess sich ziemlich gleichgültig darüber aus.
Kurz nach Mitternacht erhob er sich.
»Ich möchte schlafen gehen oder doch allein sein ... Du findest mich
morgen Vormittag in der Galleria Doria. Ich kopiere mir Saraceni; ich
habe mich in den musizierenden Engel verliebt. Sei so gut und komme hin.
Ich bin sehr froh, dass du hier bist. Gute Nacht.« --
Und er ging hinaus -- langsam, ruhig, mit schlaffen, trägen Bewegungen.
Während des ganzen nächsten Monats habe ich mit ihm die Stadt
durchwandert; Rom, dies überschwenglich reiche Museum aller Kunst, diese
moderne Grossstadt im Süden, diese Stadt, die voll ist von lautem,
raschem, heissem, sinnreichem Leben, und in die doch der warme Wind die
schwüle Trägheit des Orients hinüberträgt.
Paolos Benehmen blieb immer das gleiche. Er war meistens ernst und still
und konnte zuweilen in eine schlaffe Müdigkeit versinken, um dann,
während seine Augen aufblitzten, sich plötzlich zusammenzuraffen und ein
ruhendes Gespräch mit Eifer fortzusetzen.
Ich muss eines Tages Erwähnung thun, an dem er einige Worte fallen
liess, die erst jetzt die richtige Bedeutung für mich bekommen haben.
Es war an einem Sonntag. Wir hatten den wundervollen Spätsommermorgen
für einen Spaziergang auf der Via Appia benutzt und rasteten nun,
nachdem wir die antike Strasse weit hinaus verfolgt hatten, auf jenem
kleinen, cypressenumstandenen Hügel, von dem aus man einen entzückenden
Blick auf die sonnige Campagna mit dem grossen Aquädukt und auf die
Albanerberge geniesst, die ein weicher Dunst umhüllt.
Paolo ruhte halbliegend, das Kinn in die Hand gestützt, neben mir auf
dem warmen Grasboden und blickte mit müden, verschleierten Augen in die
Ferne. Dann war es wieder einmal jenes plötzliche Aufraffen aus völliger
Apathie, mit dem er sich an mich wandte:
»Diese Luftstimmung! -- Die Luftstimmung ist das Ganze!«
Ich erwiderte etwas Beistimmendes, und es war wieder still. Und da
plötzlich, ohne jeden Übergang, sagte er, indem er mir mit einer
gewissen Eindringlichkeit das Gesicht zuwandte:
»Sag mal, ist es dir eigentlich nicht aufgefallen, dass ich immer noch
am Leben bin?«
Ich schwieg betroffen, und er blickte wieder mit einem nachdenklichen
Ausdruck in die Ferne.
»Mir -- ja,« fuhr er langsam fort. »Ich wundere mich im Grunde jeden Tag
darüber. Weisst Du eigentlich, wie es um mich steht? -- Der französische
Doktor in Algier sagte zu mir: ›Der Teufel begreife, wie Sie noch immer
umherreisen mögen! Ich rate Ihnen, fahren Sie nach Hause und legen Sie
sich ins Bett!‹ Er war immer so geradezu, weil wir jeden Abend zusammen
Domino spielten.
Ich lebe doch noch immer. Ich bin beinahe täglich am Ende. Ich liege
abends im Dunkeln, -- auf der rechten Seite, wohlgemerkt! -- Das Herz
klopft mir bis in den Hals, es schwindelt mir, dass mir der
Angstschweiss ausbricht, und dann plötzlich ist es, als ob der Tod mich
anrührte. Es ist für einen Augenblick, als stehe alles still in mir, der
Herzschlag setzt aus, die Atmung versagt. Ich fahre auf, ich mache
Licht, ich atme tief auf, blicke um mich, verschlinge die Gegenstände
mit meinen Blicken. Dann trinke ich einen Schluck Wasser und lege mich
wieder zurück; immer auf die rechte Seite! Allmählich schlafe ich ein.
Ich schlafe sehr tief und sehr lange, denn ich bin eigentlich immer
todmüde. Glaubst Du, dass ich, wenn ich wollte, mich hier einfach
hinlegen könnte und sterben?
Ich glaube, dass ich in diesen Jahren tausendmal schon den Tod von
Angesicht zu Angesicht gesehen habe. Ich bin nicht gestorben. -- Mich
hält etwas. -- Ich fahre auf, ich denke an etwas, ich klammere mich an
einen Satz, den ich mir zwanzigmal wiederhole, während meine Augen
gierig alles Licht und Leben um mich her einsaugen ...... Verstehst du
mich?«
Er lag regungslos und schien kaum eine Antwort zu erwarten. Ich weiss
nicht mehr, was ich ihm erwiderte; aber ich werde niemals den Eindruck
vergessen, den seine Worte auf mich machten.
Und nun jener Tag -- oh, mir ist, als hätte ich ihn gestern erlebt!
Es war einer der ersten Herbsttage, jener grauen, unheimlich warmen
Tage, an denen der feuchte, beklemmende Wind aus Afrika durch die
Strassen geht und abends der ganze Himmel unaufhörlich im Wetterleuchten
zuckt.
Am Morgen trat ich bei Paolo ein, um ihn zu einem Ausgange abzuholen.
Sein grosser Koffer stand inmitten des Zimmers, Schrank und Kommode
waren weit offen; seine Aquarellskizzen aus dem Orient und der
Gipsabguss des vatikanischen Junokopfes waren noch an ihren Plätzen.
Er selbst stand hoch aufgerichtet am Fenster und liess nicht ab,
unbeweglich hinauszublicken, als ich mit einem erstaunten Ausruf stehen
blieb. Dann wandte er sich kurz, streckte mir einen Brief hin und sagte
nichts als:
»Lies.«
Ich sah ihn an. Auf diesem schmalen, gelblichen Krankengesicht mit den
schwarzen, fiebernden Augen lag ein Ausdruck, wie ihn sonst nur der Tod
hervorzubringen vermag, ein ungeheurer Ernst, der mich die Augen auf den
Brief niederschlagen liess, den ich entgegengenommen hatte. Und ich las:
»Hochgeehrter Herr Hofmann!
Der Liebenswürdigkeit Ihrer werten Eltern, an die ich mich wandte,
verdanke ich die Kenntnis Ihrer Adresse, und hoffe nun, dass Sie
diese Zeilen freundlich aufnehmen werden.
Gestatten Sie mir, hochgeehrter Herr Hofmann, die Versicherung, dass
ich während dieser fünf Jahre stets mit dem Gefühl aufrichtiger
Freundschaft Ihrer gedacht habe. Müsste ich annehmen, dass Ihre
plötzliche Abreise an jenem für Sie _und_ mich so schmerzlichen Tage
_Zorn_ gegen mich und die Meinen bekunden sollte, so wäre meine
Betrübnis darüber noch grösser, als das Erschrecken und tiefe
Erstaunen, das ich empfand, als Sie bei mir um die Hand meiner
Tochter anhielten.
Ich habe damals zu Ihnen gesprochen als ein Mann zum andern, habe
Ihnen offen und ehrlich, auf die Gefahr hin, brutal zu erscheinen,
den Grund mitgeteilt, warum ich einem Manne, den ich -- ich kann es
nicht genug betonen -- in jeder Beziehung so überaus hochschätze,
die Hand meiner Tochter versagen musste, und ich habe als Vater zu
Ihnen gesprochen, der das _dauernde_ Glück seines einzigen Kindes im
Auge hat und der das Aufkeimen von Wünschen der bewussten Art auf
beiden Seiten gewissenhaft vereitelt hätte, wenn ihm jemals der
Gedanke an ihre Möglichkeit gekommen wäre!
In den gleichen Eigenschaften, mein verehrter Herr Hofmann, spreche
ich auch heute zu Ihnen: als Freund und als Vater. -- Fünf Jahre
sind seit Ihrer Abreise verflossen, und hatte ich bis dahin noch
nicht Musse genug zu der Erkenntnis gehabt, wie tief die Neigung,
die Sie meiner Tochter einzuflössen vermochten, in ihr Wurzel
gefasst hat, so ist kürzlich ein Ereignis eingetreten, das mir
völlig darüber die Augen öffnen musste. Warum sollte ich es Ihnen
verschweigen, dass meine Tochter im Gedanken an Sie die Hand eines
ausgezeichneten Mannes ausgeschlagen hat, dessen Werbung ich als
Vater nur dringend befürworten konnte?
An den Gefühlen und Wünschen meiner Tochter sind die Jahre machtlos
vorübergegangen, und sollte -- dies ist eine offene und bescheidene
Frage! -- bei Ihnen, hochgeehrter Herr Hofmann, das Gleiche der Fall
sein, so erkläre ich Ihnen hiermit, dass wir Eltern dem Glücke
unseres Kindes fernerhin nicht im Wege stehen wollen.
Ich sehe Ihrer Antwort entgegen, für die ich Ihnen, wie sie auch
lauten möge, überaus dankbar sein werde, und habe diesen Zeilen
nichts hinzuzufügen, als den Ausdruck meiner vollsten Hochachtung.
Ergebenst _Oskar Freiherr von Stein_.«
-- Ich blickte auf. Er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und sich
wieder dem Fenster zugewandt. Ich fragte nichts, als:
»Du reist?«
Und ohne mich anzusehen, erwiderte er:
»Bis morgen früh müssen meine Sachen bereit sein.«
Der Tag verging mit Besorgungen und Kofferpacken, wobei ich ihm
behilflich war, und abends machten wir auf meinen Vorschlag einen
letzten gemeinsamen Spaziergang durch die Strassen der Stadt.
Es war noch jetzt fast unerträglich schwül, und der Himmel zuckte jede
Sekunde in jähem Phosphorlichte auf. -- Paolo schien ruhig und ermüdet;
aber er atmete tief und schwer.
Schweigend oder in gleichgültigen Gesprächen waren wir wohl eine Stunde
umhergewandert, als wir vor der Fontana Trevi stehen blieben, jenem
berühmten Brunnen, der das dahineilende Gespann des Meergottes zeigt.
Wir betrachteten wieder einmal lange und mit Bewunderung diese prächtig
schwungvolle Gruppe, die, unaufhörlich von grellblauem Leuchten
umspielt, einen nahezu zauberhaften Eindruck machte. Mein Begleiter
sagte:
»Gewiss, Bernini entzückt mich auch noch in den Werken seiner Schüler.
Ich begreife seine Feinde nicht. -- Freilich, wenn das jüngste Gericht
mehr gehauen als gemalt ist, so sind Berninis Werke sämtlich mehr gemalt
als gehauen. Aber giebt es einen grösseren Dekorateur?«
»Weisst Du eigentlich,« fragte ich, »was für eine Bewandtnis es mit dem
Brunnen hat? Wer beim Abschied von Rom daraus trinkt, der kehrt zurück.
Hier hast Du mein Reiseglas --« und ich füllte es an einem der
Wasserstrahlen -- »Du sollst Dein Rom wiedersehen!«
Er nahm das Glas und führte es an die Lippen. In diesem Augenblick
flammte der ganze Himmel in einem blendenden, lang anhaltenden
Feuerscheine auf, und klirrend sprang das dünne Gefässchen am Rande des
Bassins in Scherben.
Paolo trocknete mit dem Taschentuch das Wasser an seinem Anzug.
»Ich bin nervös und ungeschickt,« sagte er. »Gehen wir weiter.
Hoffentlich war das Glas nichts wert.«
Am nächsten Morgen hatte sich das Wetter aufgeklärt. Ein lichtblauer
Sommerhimmel lachte über uns, als wir zum Bahnhof fuhren.
Der Abschied war kurz. Paolo schüttelte schweigend meine Hand, als ich
ihm Glück wünschte, viel Glück.
Ich sah ihm lange nach, wie er hochaufgerichtet an dem breiten
Aussichtsfenster stand. Tiefer Ernst lag in seinen Augen -- und Triumph.
Was habe ich noch zu sagen? -- Er ist tot; gestorben am Morgen nach der
Hochzeitsnacht, -- beinahe in der Hochzeitsnacht.
Es musste so sein. War es nicht der Wille, der Wille zum Glück allein,
mit dem er so lange den Tod bezwungen hatte? Er musste sterben, ohne
Kampf und Widerstand sterben, als seinem Willen zum Glück Genüge
geschehen war; er hatte keinen Vorwand mehr zu leben.
Ich habe mich gefragt, ob er schlecht gehandelt, bewusst schlecht an
der, welcher er sich verband. Aber ich habe sie gesehen bei seinem
Begräbnis, als sie zu Häupten seines Sarges stand; und ich habe auch in
ihrem Antlitz den Ausdruck erkannt, den ich auf seinem gefunden: den
feierlichen und starken Ernst des Triumphes.


Enttäuschung.

Ich gestehe, dass mich die Reden dieses sonderbaren Herrn ganz und gar
verwirrten, und ich fürchte, dass ich auch jetzt noch nicht im stande
sein werde, sie auf eine Weise zu wiederholen, dass sie andere in
ähnlicher Weise berührten, wie an jenem Abend mich selbst. Vielleicht
beruhte ihre Wirkung nur auf der befremdlichen Offenheit, mit der ein
ganz Unbekannter sie mir äusserte ...
Der Herbstvormittag, an dem mir jener Unbekannte auf der Piazza San
Marco zum ersten Male auffiel, liegt nun etwa zwei Monate zurück. Auf
dem weiten Platze bewegten sich nur wenige Menschen umher, aber vor dem
bunten Wunderbau, dessen üppige und märchenhafte Umrisse und goldene
Zierrate sich in entzückender Klarheit von einem zarten, lichtblauen
Himmel abhoben, flatterten in leichtem Seewind die Fahnen; grade vor dem
Hauptportal hatte sich um ein junges Mädchen, das Mais streute, ein
ungeheurer Rudel von Tauben versammelt, während immer mehr noch von
allen Seiten herbeischossen ... Ein Anblick von unvergleichlich lichter
und festlicher Schönheit.
Da begegnete ich ihm, und ich habe ihn, während ich schreibe, mit
ausserordentlicher Deutlichkeit vor Augen. Er war kaum mittelgross und
ging schnell und gebückt, während er seinen Stock mit beiden Händen auf
dem Rücken hielt. Er trug einen schwarzen, steifen Hut, hellen
Sommerüberzieher und dunkelgestreifte Beinkleider. Aus irgend einem
Grunde hielt ich ihn für einen Engländer. Er konnte dreissig Jahre alt
sein, vielleicht auch fünfzig. Sein Gesicht, mit etwas dicker Nase und
müdeblickenden, grauen Augen, war glattrasiert, und um seinen Mund
spielte beständig ein unerklärliches und ein wenig blödes Lächeln. Nur
von Zeit zu Zeit blickte er, indem er die Augenbrauen hob, forschend um
sich her, sah dann wieder vor sich zu Boden, sprach ein paar Worte mit
sich selbst, schüttelte den Kopf und lächelte. So ging er beharrlich den
Platz auf und nieder.
Von nun an beobachtete ich ihn täglich, denn er schien sich mit nichts
anderem zu beschäftigen, als bei gutem wie bei schlechtem Wetter,
vormittags wie nachmittags, dreissig- und fünfzigmal die Piazza auf und
ab zu schreiten, immer allein und immer mit dem gleichen seltsamen
Gebahren.
An dem Abend, den ich im Sinne habe, hatte eine Militärkapelle
konzertiert. Ich sass an einem der kleinen Tische, die das Café Florian
weit auf den Platz hinausstellt, und als nach Schluss des Konzertes die
Menge, die bis dahin in dichten Strömen hin und wieder gewogt war, sich
zu zerstreuen begann, nahm der Unbekannte, auf abwesende Art lächelnd
wie stets, an einem neben mir freigewordenen Tische Platz.
Die Zeit verging, rings umher ward es stiller und stiller, und schon
standen weit und breit alle Tische leer. Kaum dass hier und da noch ein
Mensch vorüberschlenderte; ein majestätischer Friede lagerte über dem
Platz, der Himmel hatte sich mit Sternen bedeckt, und über der
prachtvoll theatralischen Façade von San Marco stand der halbe Mond.
Ich las, indem ich meinem Nachbar den Rücken zuwandte, in meiner Zeitung
und war eben im Begriff, ihn allein zu lassen, als ich mich genötigt
sah, mich halb nach ihm umzuwenden; denn während ich bislang nicht
einmal das Geräusch einer Bewegung von ihm vernommen hatte, begann er
plötzlich zu sprechen.
-- Sie sind zum ersten Mal in Venedig, mein Herr? fragte er in
schlechtem Französisch; und als ich mich bemühte, ihm in englischer
Sprache zu antworten, fuhr er in dialektfreiem Deutsch zu sprechen fort
mit einer leisen und heiseren Stimme, die er oft durch ein Hüsteln
aufzufrischen suchte.
-- Sie sehen das alles zum ersten Male? Es erreicht Ihre Erwartungen? --
Übertrifft es sie vielleicht sogar? -- Ah! Sie haben es sich nicht
schöner gedacht? -- Das ist wahr? -- Sie sagen das nicht nur, um
glücklich und beneidenswert zu erscheinen? -- Ah! -- Er lehnte sich
zurück und betrachtete mich mit schnellem Blinzeln und einem ganz
unerklärlichen Gesichtsausdruck.
Die Pause, die eintrat, währte lange, und ohne zu wissen, wie dieses
seltsame Gespräch fortzusetzen sei, war ich aufs neue im Begriff, mich
zu erheben, als er sich hastig vorbeugte.
-- Wissen Sie, mein Herr, was das ist: Enttäuschung? fragte er leise und
eindringlich, indem er sich mit beiden Händen auf seinen Stock lehnte.
-- Nicht im Kleinen und Einzelnen ein Misslingen, ein Fehlschlagen,
sondern die grosse, die allgemeine Enttäuschung, die Enttäuschung, die
alles, das ganze Leben einem bereitet? Sicherlich, Sie kennen sie nicht.
Ich aber bin von Jugend auf mit ihr umhergegangen, und sie hat mich
einsam, unglücklich und ein wenig wunderlich gemacht, ich leugne es
nicht.
Wie könnten Sie mich bereits verstehen, mein Herr? Vielleicht aber
werden Sie es, wenn ich Sie bitten darf, mir zwei Minuten lang
zuzuhören. Denn wenn es gesagt werden kann, so ist es schnell gesagt ...
Lassen Sie mich erwähnen, dass ich in einer ganz kleinen Stadt
aufgewachsen bin in einem Pastorhause, in dessen überreinlichen Räumen
ein altmodisch pathetischer Gelehrtenoptimismus herrschte, und in dem
man eine eigentümliche Atmosphäre von Kanzelrhetorik einatmete -- von
diesen grossen Wörtern für Gut und Böse, Schön und Hässlich, die ich so
bitterlich hasse, weil sie vielleicht, sie allein an meinem Leiden die
Schuld tragen.
Das Leben bestand für mich schlechterdings aus grossen Wörtern, denn ich
kannte nichts davon als die ungeheuren und wesenlosen Ahnungen, die
diese Wörter in mir hervorriefen. Ich erwartete von den Menschen das
göttlich Gute und das haarsträubend Teuflische; ich erwartete vom Leben
das entzückend Schöne und das Grässliche, und eine Begierde nach alledem
erfüllte mich, eine tiefe, angstvolle Sehnsucht nach der weiten
Wirklichkeit, nach dem Erlebnis, gleichviel welcher Art, nach dem
berauschend herrlichen Glück und dem unsäglich, unahnbar furchtbaren
Leiden.
Ich erinnere mich, mein Herr, mit einer traurigen Deutlichkeit der
ersten Enttäuschung meines Lebens, und ich bitte Sie, zu bemerken, dass
sie keineswegs in dem Fehlschlagen einer schönen Hoffnung bestand,
sondern in dem Eintritt eines Unglücks. Ich war beinahe noch ein Kind,
als ein nächtlicher Brand in meinem väterlichen Hause entstand. Das
Feuer hatte heimlich und tückisch um sich gegriffen, bis an meine
Kammerthür brannte das ganze kleine Stockwerk, und auch die Treppe war
nicht weit entfernt, in Flammen aufzugehen. Ich war der erste, der es
bemerkte, und ich weiss, dass ich durch das Haus stürzte, indem ich
einmal über das andere den Ruf hervorstiess: »Nun brennt es! Nun brennt
es!« Ich entsinne mich dieses Wortes mit grosser Genauigkeit, und ich
weiss auch, welches Gefühl ihm zu Grunde lag, obgleich es mir damals
kaum zum Bewusstsein gekommen sein mag. Dies ist, so empfand ich, eine
Feuersbrunst; nun erlebe ich sie! Schlimmer ist es nicht? Das ist das
Ganze?...
Gott weiss, dass es keine Kleinigkeit war. Das ganze Haus brannte
nieder, wir alle retteten uns mit Mühe aus äusserster Gefahr, und ich
selbst trug ganz beträchtliche Verletzungen davon. Auch wäre es
unrichtig, zu sagen, dass meine Phantasie den Ereignissen vorgegriffen
und mir einen Brand des Elternhauses entsetzlicher ausgemalt hätte. Aber
ein vages Ahnen, eine gestaltlose Vorstellung von etwas noch weit
Grässlicherem hatte in mir gelebt, und im Vergleich damit erschien die
Wirklichkeit mir matt. Die Feuersbrunst war mein erstes grosses
Erlebnis: eine furchtbare Hoffnung wurde damit enttäuscht.
Fürchten Sie nicht, dass ich fortfahren werde, Ihnen meine
You have read 1 text from German literature.
Next - Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 5
  • Parts
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 1
    Total number of words is 4194
    Total number of unique words is 1524
    39.6 of words are in the 2000 most common words
    53.5 of words are in the 5000 most common words
    59.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 2
    Total number of words is 4399
    Total number of unique words is 1458
    42.3 of words are in the 2000 most common words
    55.6 of words are in the 5000 most common words
    62.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 3
    Total number of words is 4389
    Total number of unique words is 1501
    43.3 of words are in the 2000 most common words
    56.1 of words are in the 5000 most common words
    62.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 4
    Total number of words is 4322
    Total number of unique words is 1488
    42.0 of words are in the 2000 most common words
    55.7 of words are in the 5000 most common words
    60.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 5
    Total number of words is 4370
    Total number of unique words is 1577
    39.7 of words are in the 2000 most common words
    53.5 of words are in the 5000 most common words
    59.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 6
    Total number of words is 4221
    Total number of unique words is 1656
    36.8 of words are in the 2000 most common words
    49.2 of words are in the 5000 most common words
    55.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 7
    Total number of words is 4294
    Total number of unique words is 1663
    40.7 of words are in the 2000 most common words
    52.9 of words are in the 5000 most common words
    57.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der kleine Herr Friedemann: Novellen - 8
    Total number of words is 1692
    Total number of unique words is 712
    45.8 of words are in the 2000 most common words
    59.1 of words are in the 5000 most common words
    64.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.