Andrea Delfin: Eine venezianische Novelle - 4

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schweren Pfeilern des alten Baues vorüberwallte, schien ungeduldig das
Ergebnis dieser Sitzung abzuwarten; so oft ein Nobile sich am Fenster
blicken ließ, entstand ein Murmeln und Deuten und Hinaufstarren, als
werde jeden Augenblick das Urteil über den unentdeckten Frevler vom
Balkon herab verkündigt werden. Auch Andrea, der das lange Viereck
des Platzes einsam durchmessen hatte, näherte sich jetzt dem
Dogenpalast und warf im Vorbeigehen einen Blick in die Kirche von San
Marco, wo er Kopf an Kopf bis zu den Pforten hinaus die Menschen
stehen und der Predigt lauschen sah. Dann bahnte er sich mühsam einen
Weg nach den beiden Säulen und stand in düsteren Gedanken am Kai der
Piazetta, vor sich die wimmelnde Menge der schwarzen Gondeln, deren
stählerne, gezahnte Schnäbel bei jeder Wendung ihre Sonnenblitze über
die Wellen warfen. Auch die Riva degli Schiavoni, die zu seiner
Linken lag, war dicht gedrängt von erwartungsvollen Menschen. Über
dem Turban des Türken tauchte der rote griechische Fes, die malerische
Mütze der Schiffer von Chioggia, der dreieckige Hut und die gepuderte
Perücke auf, und man hörte gleicher Weise die verschiedensten Zungen
durcheinander schwirren, während vom Wasser herauf die eintönigen
Anrufe der Gondoliere auch dem Blinden sagten, daß der große Kanal
Venedigs zu seinen Füßen floß.
Eine offene Gondel, von zwei Dienern in reicher goldgestickter Livree
gerudert, flog vorüber; eine Dame lag nachlässig auf den breiten
Polstern, das Haupt in die Hand gestützt. Das Feuer eines großen
Diamantringes spielte aus dem rötlichen Glanz ihrer Haare hervor; ihre
Augen ruhten auf dem Gesicht eines jungen Mannes, der ihr gegenüber
saß und eifrig zu ihr sprach. Sie hob jetzt den Kopf und musterte mit
einem stolzen Blick das Menschengewoge droben auf der Piazetta. Das
ist die blonde Gräfin, hörte Andrea im Volke sagen; er hatte sie
längst erkannt. Zusammenfahrend, wie wenn schon ihr Anblick Verderben
brächte, wandte er sich ab. Da sah er in ein bekanntes Gesicht, das
ihm vertraulich zunickte. Samuele stand hinter ihm.
Seid ihr auch einmal unter Menschen, Herr Delfin? raunte ihm der Jude
mit seiner dünnen Stimme zu. Vergebens habe ich Euer Gnaden all die
Tage her wieder zu begegnen gesucht. Ihr lebt eingezogener, als eine
Frau in den Wochen. Wenn ihr wollt mitgehen, wohin mich meine
Geschäfte rufen, so hätt' ich Euch zu sagen, was Ihr vielleicht gern
hört. Kommt! Was steht Ihr hier, wie die anderen Narren, die da
glauben, im Großen Rat würde das Heil der Republik zur Welt gebracht?
Die Ratten im Schiff machen es nicht flott, wenn es aufgefahren ist.
Die wahren Lotsen haben jetzt besseres zu tun, als zu schwatzen. Aber
gehen wir von hier fort, ich habe Eile, und in der Gondel reden wir
bequemer.
Er winkte eine von den Mietgondeln heran und zog Andrea am Arm sich
nach. Sie stiegen ein und setzten sich unter das schwarze Dach, links
und rechts durch die Öffnungen der engen Kajüte den Kanal überblickend.
Was habt Ihr mir zu sagen, Herr? begann Andrea. Und wohin führt Ihr
mich? Geht morgen früh nicht zu Eurem Notar, sagte der Jude. Es wäre
möglich, daß Ihr zu einem Gang abgeholt würdet, der Euch mehr eintrüge.
Was meint Ihr, Samuele?
Ihr wißt, was die Nacht geschehen ist, fuhr der andere fort. Es ist
unerhört, daß zwölf Stunden nach einem Mord in Venedig vergehen und
noch keine Spur gefunden ist, wer ihn begangen hat. Wir sind um
unseren Kredit gekommen bei der Signoria, beim Volk, bei den Fremden,
die von der Polizei hier zu Lande Wunder geglaubt und Zeichen erwartet
haben. Der Rat der Zehn findet, daß er schlecht bedient wird. Er
wird sich nach neuen Augen umtun, die besser in alle Winkel dringen.
Eure Augen, Herr Delfin, möchten, wenn Ihr noch denkt wie vor zehn
Tagen, bald eine feinere Schrift zu lesen bekommen, als die Akten
Eures Herrn Notars. Darum haltet Euch zu Haus morgen früh. Wenn es
was ist und ich kann ein Wort für Euch anbringen, soll es mich freuen.
Mein Sinn ist noch nicht verändert; aber fast zweifle ich an meinen
Fähigkeiten.
Husch, husch! sagte der andere und schüttelte den Zeigefinger. Ich
müßte Gesichter nicht kennen, oder Ihr habt Eures in Eurer Gewalt, und
wer verbergen kann, was er denkt, hat schon halb erraten, was für
Gedanken andere zu verbergen suchen.
Und wer entscheidet, ob man mich brauchen kann oder nicht?
Ihr müßt Euch prüfen lassen vor dem Tribunal; ich kann nichts tun, als
sagen, daß ich Euch kenne und Euch Talente zutraue. Bis morgen, denk'
ich, wird das Tribunal vollzählig sein; die Zehn sitzen eben zusammen
und wählen den dritten Mann. Ich kann sagen, daß man mir geben könnte
viel Geld, daß ich sollte Staatsinquisitor werden--ich dankte für die
Ehre. Denn die Inschrift auf dem Dolch ist nicht so für die
Langeweile eingraviert, und der Soldat auf der Pulvermine ißt sein
Brot ruhiger als einer der drei Herren Venedigs seit gestern nacht.
Dennoch ist wohl kein Zweifel, daß der Erwählte das Amt antritt? Oder
darf er ablehnen?
Ablehnen! Wißt Ihr nicht, daß die Republik jeden schwer bestraft, der
sich einem Amt entzieht?
Andrea schwieg und sah finster durch die Luke auf die Fläche des
Kanals. Eine unabsehliche Menge schwarzer Gondeln fuhr in derselben
Richtung zwischen den hohen Palästen hin, und vom Rialto her kam eine
nicht geringere Zahl ihnen entgegen. Beide Züge trafen jetzt
aufeinander und drängten sich um eine breite Wassertreppe, wo sie um
die Wette anfuhren und ihre Herrschaften landeten. Es war der Palast
Venier, und droben lag der Tote.
Ein Blick zeigte Andrea, wo sie waren. Gewaltsam beherrschte er seine
Bewegung und sagte: Habt Ihr hier zu tun, Samuele, oder ist es bloß
die Neugier, einen ermordeten Staatsinquisitor auf dem Paradebett zu
sehen?
Ich bin im Dienst, erwiderte der Jude. Aber auch Euch kann es
nützlich sein, mitzugehen. Ich werde Euch mit einigen meiner Freunde
bekannt machen, denn der Zehnte hier weiß, was er sucht. Aber wir tun,
als kennten wir uns nicht. Wißt Ihr, daß ich wetten möchte, von den
Verschworenen seien nicht wenige unter diesen Beileidsgesichtern? Wer
weiß, ob der Täter nicht selbst eben aus einer dieser Gondeln steigt!
Er wäre nicht dumm, wenn er sich hier sicherer glaubte, als irgend wo
sonst. Denn zu dieser Stunde, kann ich Euch sagen, durchsucht die
Polizei, während alles im Freien ist, die Häuser, die ihr jemals
verdächtig waren, und das Sprichwort ist wahr: Der Teufel lehrt es zu
tun, aber nicht, es zu verbergen.
Mit diesen Worten sprang er aus der Gondel und half Andrea
dienstfertig aussteigen. Ist es Euch unheimlich, einen Toten zu
sehen? fragte er. Ihr seid nicht wohl aufgelegt.
Ihr irrt, Samuele, antwortete Andrea rasch und sah ihm gleichmütig ins
Gesicht. Ich bin Euch vielmehr dankbar, daß Ihr meiner Trägheit zu
Hilfe gekommen seid. Ohne Euch wäre ich schwerlich hier. Laßt uns
hinaufgehen, um dem großen Herrn, der uns im Leben schwerlich
vorgelassen hätte, unseren Besuch zu machen. Eine stattliche Wohnung,
die er so hastig mit einem engen Kämmerchen vertauschen muß! Er tut
mir leid, in der Tat, obwohl ich ihn nie mit Augen gesehen habe.
Sie stiegen unter einem großen Andrang nebeneinander die
schwarzverhangene Treppe hinauf, von deren Höhe das umflorte Wappen
des Hauses Venier heruntersah und statt jedes Pförtners der Menge
Stille gebot. Drinnen in dem größten Saal war der Katafalk unter
einem Baldachin errichtet, Zypressenbäume ragten bis an die hohe Decke,
Kerzen auf silbernen Kandelabern flackerten im Luftzug, der über den
offenen Balkon vom Wasser herauf durch die Halle strich, und vier
Diener des Hauses Venier in schwarzem Samt, die blanken Hellebarden
mit Flören umwickelt, hielten wie Standbilder an den Ecken des
Totengerüstes die Wache. Über den Leichnam war eine samtene Decke
gebreitet; die silbernen Fransen hingen bis auf den Boden herab. Der
Tote zeigte den Eintretenden das scharfe Profil, mit einem zornigen
und traurigen Ausdruck das geschlossene Auge gegen den Baldachin
gekehrt. Andrea erkannte diese Züge wieder. Er hatte sie im Zimmer
Leonoras in jener Nacht sich tief ins Gedächtnis geprägt. Aber kein
Zucken seines Mundes noch der Augen, die scharf auf den Toten
gerichtet waren, verriet, daß der Rächer vor seinem Opfer stand.-Eine
Stunde später kam Andrea nach Hause. Frau Giovanna empfing ihn oben
an der Treppe mit einer fast mütterlichen Sorge, und auch Marietta
schien unruhig auf ihn gewartet zu haben. Sie erzählten ihm, daß die
Sbirren in seiner Abwesenheit sein Zimmer durchsucht, aber alles in
bester Ordnung gefunden hätten, übereinstimmend mit dem Zeugnis,
welches sie selbst, die Wirtin, ihrem Mieter ausgestellt habe. Die
ruhige Art, in der Andrea ihre Erzählung anhörte, versicherte sie
vollends, daß ihre Angst überflüssig und der Besuch der Polizei mehr
eine Sache der Form gewesen sei. Eine Menge Warnungen und
Vorsichtsmaßregeln legte die gute Frau ihm ans Herz, wie er sich in
dieser bösen Zeit mit Reden und Handlungen vor jedem Verdacht zu
schützen habe. Sie werden das Regiment noch verschärfen, seufzte die
Alte, denn sie wissen wohl: eine Katze mit Handschuhen fängt keine
Mäuse, und das ist auch ein wahres Wort, daß die Toten den Lebenden
die Augen öffnen. Darum seid auf Eurer Hut, teurer Herr, und traut
niemand, der sich an Euch macht. Ihr kennt die schlimmen Gesellen
noch nicht, wie gutmütig sie sich zu stellen wissen, aber glaubt mir:
man wird nur von dem betrogen, dem man traut. Geht lieber nicht zu
Tisch in einem Gasthaus, sondern laßt Euch gefallen, daß wir Euch zu
Hause auftragen, was wir vermögen. Ihr seht angegriffen aus. Legt
Euch ein wenig aufs Bett; Ihr seid das Herumlaufen nicht gewohnt.
Alle diese Reden begleitete Marietta mit bittenden Blicken und sah,
neben der Mutter stehend, unverwandt in sein blasses, ernstes Gesicht.
Er versicherte, daß ihm wohl sei, bat um Brot und Wein und kam,
nachdem man es ihm gebracht hatte, den Rest des Tages nicht wieder zum
Vorschein.
Früh am anderen Morgen, als er noch im Bette lag, trat Samuele bei ihm
ein. Wenn Euch darum zu tun ist, sagte er, zum mindesten vierzehn
Dukaten monatlich in die Tasche zu stecken, so kommt mit mir; es ist
alles eingeleitet, und ich denke, Ihr macht den Gang nicht umsonst.
Ist der neue Staatsinquisitor schon gewählt? fragte Andrea.
Es scheint so.
Und noch keine Spur von der Verschwörung?
Noch keine Spur. Der Schrecken unter dem Adel ist groß. Sie
verschließen sich in ihren Häusern und sehen in jedem Besucher einen
Spion der Zehn oder des Tribunals. Einer nach dem anderen von den
fremden Gesandten hat dem Dogen seine Aufwartung gemacht, die
feierlichsten Versicherungen seiner Empörung über die Tat abgelegt und
seine Hilfe zur Entdeckung des Täters angeboten. Von nun an werden
die drei vom Tribunal sich noch geheimer halten als zuvor, und, wie
ich glaube, soll ein Preis auf den Kopf des Mörders gesetzt werden,
der einen armen Teufel schon für einige Jahre flott machen würde. Die
Augen auf, Herr Andrea! Wir beide trinken vielleicht bald einen
besseren Wein zusammen, als damals in jener Kneipe!
Schweigend hatte sich Andrea angezogen und folgte nun seinem Gönner,
der beständig plauderte, nach dem Dogenpalast. Samuele war hier gut
bekannt. Er klopfte an eine unscheinbare Tür im Hof, sagte dem Diener,
der öffnete, ein Wort ins Ohr und ließ Andrea auf einer kleinen
Treppe höflich den Vortritt. Nachdem sie droben einen langen,
helldunkeln Gang durchschritten und einigen Hellebardieren Rede
gestanden hatten, wurden sie in ein nicht gar großes Gemach
eingelassen, dessen Fenster nach dem Hofe ging und mit einer dunkeln
Gardine zur Hälfte verhangen war. Im Hintergrunde gingen drei Männer
in flüsterndem Gespräch auf und ab, die Gesichter mit Masken bedeckt,
unter denen nur die Spitzen der Bärte hervorsahen. Ein vierter,
unmaskiert, saß an einem Tisch und schrieb beim Schein einer einzelnen
Kerze.
Er sah auf, als Samuele mit Andrea auf der Schwelle erschien. Die
drei anderen schienen die Hereintretenden nicht zu beachten, sondern
ihr Gespräch eifrig fortzusetzen.
Ihr bringt den Fremden, den Ihr uns angekündigt habt? fragte der
Sekretär.
Ja, Euer Gnaden.
Ihr könnt abtreten Samuele.
Der Jude verneigte sich gehorsam und verließ das Zimmer.
Nach einer Pause, in welcher der Sekretär des Tribunals einige Papiere,
die vor ihm lagen, überflogen und dann mit einem langen Blick die
Gestalt des Fremden geprüft hatte, sagte er: Euer Name ist Andrea
Delfin; seid Ihr mit den venezianischen Nobili gleichen Namens
verwandt?
Nicht daß ich wüßte. Meine Familie ist seit Urzeiten in Brescia
ansässig.
Ihr wohnt in der Calle della Cortesia bei Giovanna Danieli; Ihr
wünscht in den Dienst des erlauchten Rates der Zehn zu treten.
Ich wünsche der Republik meine Dienste zu widmen.
Eure Papiere aus Brescia sind in Ordnung. Der Advokat, bei dem Ihr
fünf Jahre gearbeitet habt, gibt Euch das Zeugnis eines verständigen
und zuverlässigen Mannes. Nur über die sechs oder sieben Jahre, bevor
Ihr zu ihm kamt, fehlt ein jeder Ausweis. Was habt Ihr, nachdem Eure
Eltern gestorben waren, in der langen Zeit getrieben? Ihr habt sie
nicht in Brescia zugebracht?
Nein, Euer Gnaden, erwiderte Andrea ruhig. Ich war in fremden Ländern,
in Frankreich, Holland und Spanien. Nachdem ich mein geringes Erbe
aufgezehrt hatte, mußte ich mich bequemen, Bedienter zu werden.
Eure Zeugnisse?
Sie sind mir entwendet worden in einem Koffer, der meine ganze Habe
enthielt. Ich war dann des unsicheren Reiselebens müde und ging nach
Brescia zurück. Meine Herrschaften hatten mich zu mancherlei
Sekretärdiensten brauchbar gefunden. Ich versuchte es bei einem
Advocaten, und Euer Gnaden haben das Zeugnis selbst vor sich, daß ich
zu arbeiten gelernt habe.
Während er dies sagte, in einer stillen, unterwürfigen Haltung, den
Kopf etwas vorgebeugt und den Hut in beiden Händen, trat plötzlich
einer der drei Herren in der Maske näher an den Tisch heran, und
Andrea fühlte einen durchdringenden Blick auf sich gerichtet.
Wie heißt Ihr? fragte der Inquisitor mit einer Stimme, die ein hohes
Alter verriet.
Andrea Delfin. Meine Papiere weisen es aus.
Bedenkt, daß es Euer Tod ist, wenn Ihr das erlauchte Tribunal
hintergeht. Erwägt die Antwort noch einmal. Wenn ich nun sage, daß
Euer Name Candiano sei?
Eine kurze Pause folgte auf dieses Wort, man hörte den Totenwurm im
Gebälk des Zimmers bohren. Acht forschende Augen waren auf den
Fremden geheftet.
Candiano? sagte er langsam, doch mit fester Stimme. Warum soll ich
Candiano heißen? Ich wollt' es wahrlich selbst; denn soviel ich weiß,
ist das Haus Candiano reich und vornehm, und wer diesen Namen trägt,
braucht nicht sein Brot mühsam mit der Feder zu verdienen.
Ihr habt das Gesicht eines Candiano. Euer Betragen überdies verrät
eine bessere Herkunft, als diese Papiere anzeigen.
Ich kann nichts für mein Gesicht, erlauchte Herren, erwiderte Andrea
mit anständiger Unbefangenheit. Was mein Betragen angeht, so habe ich
auf Reisen allerlei Sitten gesehen und die meinigen, soviel ich konnte,
verbessert, auch meine Zeit in Brescia nicht verloren, sondern aus
Büchern die Versäumnisse meiner Jugend nachgeholt.
Die beiden anderen Inquisitoren waren indes jenem ersten näher
getreten, und der eine, dessen roter Bart sich breit unter der Maske
vorschob, sagte halblaut: Eine Ähnlichkeit mag Euch täuschen, die ich
nicht wegleugnen will. Aber Ihr wißt selbst: der Zweig des Hauses,
der bei Marano angesiedelt war, ist ausgestorben; der Alte ist in Rom
begraben, die Söhne überlebten ihn nicht lange.
Mag sein, erwiderte der erste. Aber seht ihn an und sagt, ob es nicht
ist, als wäre der alte Luigi Candiano, nur verjüngt, aus dem Grabe
erstanden. Ich hab ihn gut genug gekannt; wir wurden an demselben
Tage in den Senat gewählt.
Er nahm die Papiere vom Tisch und prüfte sie sorgfältig. Ihr mögt
recht haben, sagte er endlich. Es würde mit den Jahren nicht stimmen.
Für einen der Söhne Luigis ist dieser zu alt. Wenn er ihn vor der
Ehe erzeugt hätte--so würde es uns gleichgültig sein können.
Er warf die Papiere wieder hin, gab dem Sekretär einen Wink und trat
mit den anderen in die Fensternische zurück, das unterbrochene
Gespräch leise fortsetzend. Niemand konnte Andreas Augen anmerken,
welch eine Last in diesem Augenblick ihm von der Seele fiel. Der
Sekretär begann von neuem. Ihr versteht fremde Sprachen? fragte er.
Ich spreche Französisch und ein wenig Deutsch, Euer Gnaden.
Deutsch? Wo habt Ihr das gelernt?
Ein deutscher Maler in Brescia war mein guter Freund.
Seid Ihr je in Triest gewesen?
Zwei Monate, Euer Gnaden, in Geschäften meines Herrn, des Advokaten.
Der Sekretär stand auf und trat zu den dreien am Fenster. Nach einer
Weile kam er an den Tisch zurück und sagte: Man wird Euch den Paß
eines österreichischen Untertans geben, der aus Triest gebürtig war.
Mit diesem geht Ihr in das Haus des österreichischen Gesandten und
bittet um seinen Schutz, da die Republik Euch auszuweisen drohe. Ihr
werdet sagen, daß Ihr in früher Jugend Triest verlassen habt und nach
Brescia hinübergegangen seid. Was auch die Antwort sein möge, dieser
Besuch wird Euch, bei einiger Geschicklichkeit, genügen, um mit dem
Sekretär des Gesandten Bekanntschaft zu machen. Es ist Eure Aufgabe,
dieses Verhältnis fortzuspinnen und, soviel Ihr könnt, die geheimen
Verbindungen des Wiener Hofes mit den Adeligen Venedigs zu beobachten.
Entdeckt Ihr das Geringste, was Euch Verdacht einflößt, so habt Ihr
es unverzüglich zu melden.
Wünscht das hohe Tribunal, daß ich meine bisherige Stellung bei dem
Notar Fanfani aufgebe?
Ihr ändert nichts in Eurer Lebensweise. Euer Gehalt beträgt für den
ersten Monat nur zwölf Dukaten. Von Eurer Geschicklichkeit und
Umsicht hängt es ab, die Summe zu verdoppeln.
Andrea verneigte sich zum Zeichen, daß er mit allem einverstanden sei.
Hier ist Euer deutscher Paß, sagte der Sekretär. Eure Wohnung ist dem
Palast der Gräfin Amidei benachbart. Es wird Euch ein leichtes sein,
mit ihrer Kammerfrau ein Verhältnis anzuknüpfen, dessen Kosten Euch
erstattet werden sollen. Was Ihr auf diesem Wege über die Beziehungen
der Gräfin zu vornehmen Venezianern erfahrt, berichtet Ihr an diesem
Ort. Die Republik erwartet, daß Ihr treu und gewissenhaft Eure
Aufgabe erfüllt. Sie verpflichtet Euch nicht durch einen Eid, weil,
wenn die Scheu vor den irdischen Strafen, die wir verhängen, Euch
nicht in der Pflicht zurückhielte, Ihr kein Menschenblut in den Adern
haben müßtet und also auch der himmlischen Gerechtigkeit spotten
würdet. Ihr seid entlassen.
Andrea verbeugte sich wiederum und wandte sich nach der Tür. Der
Sekretär rief ihn zurück.
Noch eins, sagte er, indem er ein Kästchen aufschloß, das auf dem
Tische stand. Tretet heran und betrachtet den Dolch in diesem
Kästchen. Es sind große Waffenfabriken in Brescia. Entsinnt Ihr Euch,
dort irgend eine ähnliche Arbeit gesehen zu haben?
Andrea blickte, mit letzter Kraft sich bezwingend, in den Behälter,
den ihm der Sekretär entgegenhielt. Er erkannte die Waffe nur zu wohl.
Es war ein zweischneidiges Messer, der Griff, ebenfalls stählern, in
Kreuzesform. Auf der Klinge, vom Blut noch nicht gereinigt, standen
die Worte eingegraben: "Tod allen Staatsinquisitoren".
Nach einer längeren Prüfung schob er mit fester Hand das Kästchen
zurück. Ich entsinne mich nicht, sagte er, einen ähnlichen Dolch in
den Kaufläden von Brescia gesehen zu haben.
Es ist gut.
Der Sekretär verschloß das Kästchen wieder und winkte ihm mit der Hand,
zu gehen. Langsam schritt Andrea hinaus. Die Hellebardiere ließen
ihn passieren; wie im Traum ging er den hallenden Korridor entlang,
und erst als er auf der dunkeln Treppe war, gönnte er sich's, einen
Augenblick auf einer der Marmorstufen niederzusitzen. Seine Kniee
drohten einzubrechen; der kalte Schweiß bedeckte seine Stirn, die
Zunge klebte ihm am Gaumen.
Als er ins Freie hinaustrat, atmete er tief auf, richtete den Kopf
mutig in die Höhe und nahm seine entschiedene Haltung wieder an. Am
Portal draußen, das sich nach der Piazetta öffnet, sah er einen Haufen
Volkes dicht beisammen stehen, vertieft in die Lesung eines großen
Anschlages, der an eine der Säulen angeheftet war. Er trat ebenfalls
hinzu und las, daß vom Rat der Zehn mit hoher Bewilligung des Dogen
eine Belohnung von tausend Zechinen und die Begnadigung eines
Verbannten oder Verurteilten demjenigen verheißen werde, der über den
Mörder Veniers Auskunft zu geben wisse. Das Volk strömte vor der
Säule ab und zu, und nur einige lauernde Gesichter tauchten beharrlich
immer wieder unter den Arkaden auf und bewachten die Mienen der
Lesenden. Auch Andrea entging ihnen nicht. Aber mit der
Gleichgültigkeit eines völlig unbeteiligten Fremden machte er, nachdem
er das Blatt überflogen, anderen Neugierigen Platz und stieg ruhig am
großen Kanal in eine Gondel, die ihn nach dem Hotel des
österreichischen Gesandten bringen sollte.
Als er nach einer längeren Fahrt vor dem ziemlich abgelegenen Palast
ausstieg, der den doppelköpfigen Adler über dem Eingang trug, bewegte
gerade ein hochgewachsener junger Mann den Klopfer am Tor. Er sah
sich nach der Gondel um, und seine ernsthaften Züge erheiterten sich
plötzlich. Ser Delfin, sagte er und bot Andrea die Hand, begegnen wir
uns hier? Kennt Ihr mich nicht mehr? Habt Ihr den Abend am Gardasee
schon vergessen?
Ihr seid es, Baron Rosenberg! erwiderte Andrea und schüttelte herzlich
die dargebotene Rechte. Seid Ihr für längere Zeit in Venedig, oder
holt Ihr schon Euren Paß hier ab zur Weiterreise?
Der Himmel weiß, sprach der andere, wann mich mein Stern je von hier
wegführt, und ob ich ihn dann willkommen heißen oder verwünschen werde.
Um meinen Paß jedoch brauche ich niemand zu bemühen, da ich ihn mir
selbst visieren kann. Denn Ihr müßt wissen, werter Freund, daß Ihr
mit dem Sekretär Seiner Exzellenz des österreichischen Gesandten
sprecht, was ich wahrlich nicht etwa sage, um eine diplomatische Wand
zwischen mich und meinen werten Reisegefährten von Riva zu schieben,
sondern in Eurem Interesse, Bester, da es nicht jedem Venezianer
erwünscht ist, für einen alten Bekannten von mir zu gelten.
Ich habe nichts zu fürchten, sagte Andrea. Wenn ich Euch nicht lästig
bin, trete ich einen Augenblick bei Euch ein.
Ihr wolltet zu mir, ohne mich zu kennen. Was Euch der
Gesandtschaftssekretär zu Gefallen tun sollte, wird Euch nun der
Freund umso williger tun, falls es in seiner Macht steht.
Andrea errötete. Zum ersten Male empfand er jetzt alles Demütigende
der Maske, die er trug, einem freien Manne gegenüber, der ihm nach
einer flüchtigen Begegnung vor mehreren Jahren so freundschaftlich
wieder entgegenkam. Der Paß des Triestiners, den er in der Tasche
trug, drückte ihn wie ein bleiernes Gewicht. Aber die Übung, seine
inneren Kämpfe zu beherrschen, ließ ihn auch diesmal nicht im Stich.
Ich wollte nur eine Erkundigung einziehen über ein deutsches
Handelshaus, sagte er, denn ich bin hier in Venedig in der sehr
bescheidenen Stellung eines Schreibers, der sich von seinem Herrn
Notar zu mancherlei kleinen Diensten gebrauchen lassen muß. Da ich
aber in Brescia nicht viel Besseres war und Ihr dennoch mich nicht zu
gering hieltet, mir Eure und Eurer Mutter Gesellschaft zu gönnen, so
trete ich auch hier dreist mit Euch ein; Ihr müßt mir vor allem sagen,
wie es der trefflichen Frau ergeht, deren ehrwürdiges Bild, ihre
rührende Liebe zu Euch, ihre große Güte gegen mich, mir noch in
lebendigster Erinnerung stehen.
Der Jüngling wurde ernsthaft und seufzte. Kommt in mein Zimmer, sagte
er. Wir plaudern dort vertraulicher.
Andrea folgte ihm hinauf, und der erste Blick, den er in das
behagliche Gemach tat, fiel auf ein großes Pastellbild, das über dem
Schreibtisch hing. Er erkannte die leuchtenden Augen und das reiche
Haar Leonorens. Aller verführerische Schmelz der Jugend und des
Übermutes lag auf diesen lächelnden Lippen.
Der Jüngling rückte zwei Sessel an das Fenster, durch welches man den
ziemlich breiten Kanal, die malerische Brücke und zwischen den Häusern
drüben die Chorseite einer alten Kirche übersah. Kommt, sagte er,
macht es Euch bequem. Soll ich Wein kommen lassen oder Sorbette?
Aber ihr hört nicht. Ihr seid in dieses unglückselige Bild vertieft.
Wißt Ihr, wen es vorstellt? Kennt Ihr das Urbild, von dem es nur ein
blasser Schatten ist? Doch wer in Venedig kennte es nicht? Sagt mir
nichts von diesem Weibe. Ich weiß alles, was man von ihr sagt, und
glaube alles, und dennoch versichere ich Euch in allem Ernst, daß Ihr
selbst, wenn Ihr vor ihr ständet, an nichts von alle dem denken,
sondern Gott danken würdet, wenn Ihr Eure fünf Sinne so leidlich
beisammen behieltet.
Ist dieses Gemälde Euer Eigentum? fragte Andrea nach einer Pause.
Nein; es hat einem Glücklicheren gehört, einem schönen jungen
Venezianer, der, wie sie mir selbst gestand, ihr Abgott gewesen. Der
Unvorsichtige ließ sich einfallen, mir seine Freundschaft anzutragen.
Er büßt dieses Verbrechen in der Verbannung, und meine Strafe ist nun,
daß er mir dieses Bild vermacht hat, und daß ich die Augen des
Originals um ihn habe weinen sehen.
Er stand, während er dies sagte, vor dem Bilde und betrachtete es mit
einem schwärmerisch-traurigen Blick. Andrea beobachtete ihn mit der
tiefsten Teilnahme. Er war nicht schön von Gesicht, nur anziehend
durch die Mischung von jugendlicher Sanftheit der Formen und
männlichem Ernst und Feuer seines Mienenspiels. Auch in den
Bewegungen der hohen Gestalt offenbarte sich Adel und Energie.
Unwillkürlich entfuhr Andrea der Ausruf: Daß Ihr, auch Ihr dieses Weib
lieben könnt, das Euer so wenig wert ist!
Lieben? erwiderte der Deutsche mit einem seltsam düsteren Ton. Wer
sagt Euch, daß ich sie liebe, wie ich einst in Deutschland geliebt
habe und wie es allein den Namen verdient? Sagt, daß ich von ihr
besessen bin, daß ich mit Knirschen und Stöhnen ihre Fesseln trage,
und nehmt mein Geständnis hin, daß ich mich dieser Schwäche schäme und
doch in ihr schwelge. Ich habe es nie vorher gewußt, wie alle
irdische Wonne nichtig ist gegen das Gefühl, sich den Nacken von einem
selbstgewählten Joch wund drücken zu lassen und den gesamten
Mannesstolz um ein Lächeln solcher Augen in den Staub zu werfen.
Sein Gesicht hatte sich gerötet; er bemerkte jetzt erst, daß Andrea
längst von dem Bilde wegsah und ihm tief bekümmert zuhörte.
Ich langweile Euch, sagte Rosenberg. Sprechen wir von etwas anderem.
Wie ist es Euch indes ergangen? Warum habt Ihr Brescia verlassen?
Ihr habt mir von Eurer Mutter noch nichts erzählt, lenkte Andrea ein.
Welch eine Frau! Der Fremdeste fühlt das Verlangen, sie wie eine
Mutter zu verehren.
Redet weiter, sagte der andere. Vielleicht befreien mich Eure Worte
von dem bösen Zauber, dem ich hier verfallen bin. Nicht, daß Ihr mir
etwas Neues sagtet. Aber es von Euch zu hören, welch eine Mutter sie
ist, und welch ein undankbares Kind sie an mir großgezogen hat, bringt
mich vielleicht zu meiner Pflicht zurück. Werdet Ihr es glauben, daß
ich schon den dritten Brief von ihr habe, in welchem sie mich
beschwört, Venedig zu verlassen und zu ihr nach Wien zu kommen? Sie
träumt, daß mir hier Unheil bevorstehe. Das größte, dem ich verfallen
bin, ahnt sie nicht; und doch hält mich sonst nichts hier fest, als
ein Weib, das ich um alles in der Welt nicht in ihre reine Nähe zu
bringen wagte.--Aber nein, fuhr er fort, damit ich mir nicht selbst zu
viel tue: Es wäre in der Tat schwer zu machen, daß ich in diesem
Augenblick mir Urlaub auswirkte. Mein Chef, der Graf, hat sich
eingeredet, daß ich ihm unentbehrlich sei, und gerade jetzt gibt es
mancherlei zu tun, was ihm selber lästig wäre. Es ist Euch nicht
unbekannt, daß wir hier unliebe Gäste sind. Man will die Augen nicht
öffnen nach der Seite hin, von der eine wirkliche Gefahr drohen könnte,
und hätschelt das Vorurteil, als hätte die Macht, die wir vertreten,
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