Andrea Delfin: Eine venezianische Novelle - 7

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Zimmer. Kein Mitleiden mit kleinem Menschenweh hatte noch Raum in
seinem Innern. Er sah nur die Mutter vor sich, die mit Ungeduld ihren
Sohn aus der Fremde zurückerwartete und statt dessen seinen Sarg
empfangen sollte.
Kaum aber hatte er sich in seinem Zimmer eingeschlossen, als er
Mariettas Klopfen vernahm und ihre leise Stimme, die ihn um Einlaß bat.
Geh zu Bett, sagte er. Ich habe nichts mehr mit Menschen zu teilen.
Morgen in der Frühe melde dich im Dogenpalast. Es sind dreitausend
Zechinen dort abzuholen. Du kannst sagen, daß einer der Verschworenen
unschädlich sei. Fürchte nicht, daß man mich lebend ergreift. Gute
Nacht!
Sie blieb beharrlich an der Tür. Ich will hinein, sagte sie. Ich
weiß, Ihr tut Euch ein Leids an, wenn Ihr allein bleibt. Ihr denkt,
ich könnte Euch verraten, weil ich Euch habe kommen sehen mit dem
Dolch. O, Ihr seid sicher davor, daß ich Euch Gefahr brächte. Laßt
mich hinein, seht mir ins Gesicht und dann sagt, ob Ihr mir etwas
Arges zutraut. Hab ich's nicht lange geahnt, daß Ihr es wäret, den
sie suchten? Ich sah Euch im Traum mit Blut befleckt. Aber ich hasse
Euch dennoch nicht. Ich wußte, daß Ihr unglücklich seid; mein Leben
könnt' ich hingeben, wenn Ihr es verlangtet.
Sie horchte an der Tür, aber es kam keine Antwort. Statt dessen hörte
sie, wie er an das Fenster trat, das nach dem Kanal ging und sich dort
zu schaffen machte. Eine tödliche Angst überfiel sie, sie rüttelte an
der Tür, sie rief von neuem, sie beschwor ihn in den rührendsten
Worten, nichts Verzweifeltes zu unternehmen--alles umsonst. Da es
endlich drinnen ganz still geworden war, stemmte sie sich in
furchtbarer Qual mit den Schultern heftig gegen die Tür und suchte mit
Aufbietung aller Kräfte das Schloß zu sprengen. Das alte Holzwerk
brach ein, nur der Rahmen hielt stand. Das Loch, das sie gebrochen
hatte, ließ ihre schlanke Gestalt so eben durchschlüpfen.
Das Zimmer war leer: in allen Winkeln suchte sie ihn vergebens. Als
sie an das offene Fenster trat, nun nicht mehr zweifelnd, daß er sich
in den Kanal gestürzt habe, wagte sie kaum über das Gesims in die
Tiefe hinabzuspähen. Aber was sie sah, gab ihr die verlorene Hoffnung
wieder. Ein Strick hing, an einem festen Haken unterhalb des Gesimses
angeknüpft, an der Mauer draußen herab. Er reichte bis auf die
Wasserfläche. Wer sich, unten angelangt, mit den Füßen von der Mauer
abstieß, mußte sich leicht auf die Wassertreppe drüben am Palast der
Gräfin und in die Gondel schwingen können, die dort angekettet zu sein
pflegte. Heute war sie verschwunden, und dem einsamen Mädchen, das
vergebens die dunkle Schlucht des Kanals hinabschaute, um eine Spur
des Entflohenen zu entdecken, blieb wenigstens die tröstliche
Überzeugung, daß, wenn er sich retten wollte, er keinen sichereren Weg
hätte wählen können.
Daß sie dies glauben sollte, war seine Absicht gewesen. Er wollte das
Gemüt des unschuldigen Wesens, dem er schon zu viel Kummer gemacht
hatte, nicht mit der ganzen herben Wahrheit belasten, daß es für ihn
keine Rettung mehr gab, da er sich selber nicht zu entfliehen
vermochte.
Noch sah das arme Mädchen aus dem Fenster, und ihre Tränen stürzten
bitterlich in die schwarze Flut unter ihr, als Andrea schon seine
Gondel in den großen Kanal hinaus lenkte. Die Paläste zu beiden
Seiten ragten dunkel über den Wasserspiegel auf. Er fuhr an dem Hause
Morosini vorbei, er sah den Palast Venier, und ein Schauder sträubte
ihm das Haar. Hier lag wie mit einem Ring umschlossen sein Leben vor
ihm; welch ein Anfang und welch ein Ende!-Als er an der Giudecca
vorüberruderte und nun die breite Stirn des Dogenpalastes im Zwielicht
einer trüben Mondsichel vor sich liegen sah, durchzuckte ihn flüchtig
der Gedanke, daß hier die Stätte sei, wo man Verbrechen richte. Aber
für das seinige waren hier keine Richter zu finden; denn wer darf
richten in eigener Sache? Und begleitete ihn nicht noch immer die
Hoffnung, daß aus seiner Freveltat dennoch Rettung und Befreiung für
seine Mitbürger erblühen könne, daß vielleicht sogar der Mord des
Unschuldigen, den die Stimme des Volkes unfehlbar dem Tribunal
zuschreiben würde, das begonnene Werk vollenden und das Maß der
Gewaltherrschaft würde überfließen machen?
Er hätte diese Hoffnung selbst zerstört, wenn er sich den Richtern
gestellt, ihre Furcht vor den unsichtbaren Feinden zerstreut, und die
Beschwerden der fremden Mächte von ihnen abgelenkt hätte.
Mit starken Ruderschlägen trieb er die Gondel gegen den Lido hin und
durchschnitt das Hafenbecken, wo die Laternen der Schiffe allein noch
wachten. Am Eingang des Hafens lag die große Feluke, die seit einer
Woche auch dem kleinsten Fahrzeug auszulaufen wehrte, wenn nicht auf
den Anruf die Parole der Inquisition antwortete. Andrea hatte gleich
den übrigen geheimen Dienern des Tribunals heute früh das Wort
empfangen. Ungehindert ließ man ihn ins freie Meer hinaus.
Die See war still. Nicht mit den Wellen hatte Andrea zu kämpfen, als
er längs dem Ufer mehrere Stunden weit hinruderte. Aber in der
ruhigen lauen Nacht empfand er seine Qualen nur heftiger, und schlug
dann und wann wie wahnsinnig das Ruder ins Meer, um nur einen anderen
Ton zu hören, als die letzten Worte seines Freundes: "Meine Mutter,
meine arme Mutter."
Es war schon weit über Mitternacht, als er die Gondel ans Land trieb,
hinaussprang und auf ein einsames Kloster zuging, das auf einer
Landzunge stand und den armen Schiffern wohl bekannt war. Kapuziner
hausten hier, die von den Wohltaten der Chiozzoten und dem Bettel auf
dem Festland lebten und dafür geistlichen Trost spendeten und in
mancher Not dem Volk eine Stütze waren. Andrea zog die Glocke am Tor.
Bald darauf hörte er die Stimme des Pförtners, die fragte, wer
draußen stehe.
Ein Sterbender, antwortete Andrea. Ruft den Bruder Pietro Maria, wenn
er im Kloster ist.
Der Pförtner entfernte sich von der Tür. Indessen setzte sich Andrea
auf die Steinbank, riß ein Blatt aus seiner Brieftasche und schrieb
bei dem Schein einer Laterne, die aus der Pförtnerzelle
hervorschimmerte, folgende Zeilen:
"An Angelo Querini.
"Ich habe den Richter gespielt und bin zum Mörder geworden. Ich habe
mich der Gerechtigkeit angemaßt, die Gott sich vorbehalten, und Gott
hat mich in meinen eigenen Frevelwahn verstrickt und mich gerechtes
Blut vergießen lassen. Das Opfer, das ich zu bringen dachte, ist
verworfen worden. Die Zeit war noch nicht erfüllt, das Priestertum
der Befreiung Venedigs ist anderen Händen vorbehalten. Oder ist
überhaupt keine Rettung mehr?
"Ich gehe vor das Angesicht Gottes, des höchsten Richters, der auf
seiner ewigen Waage meine Schuld und meine Leiden gerecht abwägen wird.
Von Menschen habe ich nichts mehr zu erwarten; von Euch nur ein
großmütiges Mitgefühl für meinen Irrtum und mein Unglück.
"Candiano."
Die Pforte des Klosters öffnete sich, und ein ehrwürdiger Mönch mit
kahlem Haupte trat zu dem Schreibenden heraus. Andrea stand auf.
Pietro Maria, sagte er, ich danke Euch, daß Ihr kommt. Ihr habt dem
Verbannten in Verona meinen Brief gebracht?
Der Greis nickte.
Wenn Euch am letzten Dank eines Unglücklichen etwas gelegen ist, so
bringt auch dieses Blatt sicher in dieselben Hände. Versprecht Ihr
mir's?
Ich verspreche es.
Es ist gut. Gott lohne es Euch! Lebt wohl!
Er nahm die Hand nicht an, die ihm der Mönch zum Abschied reichte.
Ohne Aufenthalt stieg er wieder in die Gondel und fuhr in die offene
See hinaus. Als der Alte, nachdem er die Zeilen überflogen, entsetzt
ihm nachrief und ihn beschwor, noch einmal umzukehren, antwortete er
nicht mehr. In höchster Bewegung sah der alte Diener der Republik den
letzten Sproß eines edlen Geschlechtes auf den öden Wellen
hinaustreiben, die sich jetzt, von einem frühen Morgenwinde erregt,
lebhafter kräuselten. Er überlegte, ob es wohlgetan, ob es überhaupt
möglich sei, den festen Willen des Sterbenden zu kreuzen. Da erhob
sich in der fernen Gondel die dunkle Gestalt, deutlich erkennbar gegen
den grauen Horizont; der Scheidende schien noch einmal einen Blick
über Land und Meer zu werfen, und nach der Stadt zurückzuspähen, deren
Umriß auf den Nebeln der Lagunen wie auf einer Wolkeninsel schwamm.
Dann sprang er in die Tiefe.
Der Mönch, der sein Ende mit ansah, faltete die Hände und betete still
und inbrünstig. Er stieg dann selbst in einen Kahn und fuhr ins Meer
hinaus, wo die leere Gondel auf der Brandung tanzte. Von dem
Unglücklichen, der sie gelenkt, fand er keine Spur.
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