Andrea Delfin: Eine venezianische Novelle - 2

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den breiten Gürtel bequem darin unterbringen konnte. Als er fertig
war, stand ihm der kalte Schweiß auf der Stirn. Er fühlte noch einmal
nach, ob auch nirgend ein Stück Riemen oder ein Schnalle hervorstehe,
und schloß dann das Fenster. Eine Stunde später lag er in Kleidern
auf dem Bett und schlief. Die Mücken summten über seiner Stirn, die
Nachtvögel draußen umschwirrten neugierig das Loch, worin sein Schatz
verborgen war. Die Lippen des Schläfers aber waren zu fest
geschlossen, um selbst im Traum ein Wort von seinen Geheimnissen zu
verraten.
In derselben Nacht saß in Verona ein Mann bei seiner einsamen Lampe
und entfaltete, nachdem er Fensterläden und Tür sorgfältig
verschlossen hatte, einen Brief, der ihm heute in der Dämmerung, als
er in der Nähe des Amphitheaters sich erging, von einem bettelnden
Kapuziner heimlich zugesteckt worden war. Der Brief trug keine
Aufschrift. Aber auf die Frage, woher der Überbringer wisse, daß er
das Schreiben in die richtigen Hände gebe, hatte der Mönch geantwortet:
jedes Kind in Verona kennt den edlen Angelo Querini wie seinen Vater.
Darauf war der Bote gegangen. Der Verbannte aber, dessen Haft durch
die Achtung, die ihm in das Unglück folgte, gelockert worden war,
hatte den Brief trotz der Späher, die ihn beobachteten, unbemerkt in
seine Wohnung gebracht und las jetzt, während der Schritt der Wache
draußen am Hause drohend durch die Stille erklang, folgende Zeilen:
"An Angelo Querini.
"Ich kann nicht hoffen, daß Ihr Euch der flüchtigen Stunde erinnert,
in der ich Euch persönlich begegnet bin. Viele Jahre liegen zwischen
damals und heute. Ich war mit meinen Geschwistern in der ländlichen
Stille unserer Güter in Friaul aufgewachsen; erst als ich beide Eltern
verloren hatte, trennte ich mich von meiner Schwester und dem jüngeren
Bruder. Schon nach wenigen Tagen hatte mich der verführerische
Strudel Venedigs verschlungen.
"Da wurde ich eines Tages im Palast Morosini Euch vorgestellt. Noch
fühle ich den Blick, mit dem Ihr uns junge Leute mustertet, einen nach
dem anderen. Euer Auge sagte: und das ist das Geschlecht, auf dessen
Schultern die Zukunft Venedigs ruhen soll?--Man nannte Euch meinen
Namen. Unvermerkt lenktet Ihr das Gespräch mit mir auf die große
Vergangenheit des Staates, dem meine Ahnen ihre Dienste gewidmet
hatten. Von der Gegenwart und den Diensten, die ich ihm schuldig
blieb, schwiegt Ihr schonend.
"Seit jenem Gespräch las ich Tag und Nacht in einem Buch, das ich
früher nie eines Blickes gewürdigt hatte, in der Geschichte meines
Vaterlandes. Die Frucht dieses Studiums war, daß ich, von Grauen und
Abscheu getrieben, die Stadt für immer verließ, die einst Länder und
Meere beherrscht hatte und nun die Sklavin einer kläglichen Tyrannis
war, nach außen so ohnmächtig, wie unselig und gewalttätig nach innen.
"Ich kehrte zu meinen Geschwistern zurück. Es gelang mir, meinen
Bruder zu warnen, ihm die Fäulnis des Lebens aufzudecken, das von fern
sich so gleißend ansah. Aber ich dachte nicht, daß alles, was ich tat,
um ihn und uns zu retten, uns nur um so gewisser verderben sollte.
"Ihr kennt die Eifersucht, mit der die Machthaber in der Mutterstadt
den Adel der Terraferma von jeher betrachtet haben. Hatte man doch in
Zeiten, wo der Republik zu dienen eine Ehre war, nie aufgehört, ein
Losreißen des Festlandes zu fürchten. Jetzt, wo verschuldete und
unvermeidliche Übel eine Änderung der Weltstellung Venedigs
herbeigeführt hatten, wurde jene Furcht die Quelle der unerhörtesten
Ränke und Freveltaten.
"Laßt mich von den Schicksalen schweigen, die ich in der Nachbarschaft
meiner Provinz mit ansah, von den ausgesuchten Mitteln, durch die man
die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Adels von Friaul zu brechen
suchte, von dem Heer der Bravi, welches man gegen Widerspenstige
schickte und durch eine Unzahl von Amnestiedekreten selbst von der
Strafe ihrer eigenen Gewissen entband. Wie man den Zwist in die
Familien zu tragen, Freundschaften zu vergiften, Verrat und Hinterlist
im Schoß der engsten Blutsgenossenschaft zu erkaufen strebte, das
alles ist Euch länger bekannt als mir.
"Und nicht lange sollte mich das Andenken, das ich durch meine
lockeren Sitten in Venedig zurückgelassen hatte, vor dem Verdacht
schützen, daß auch ich eines Tages gefährlich werden könnte. Als ich
für meine Schwester um die Erlaubnis nachsuchte, die Hand eines
vornehmen deutschen Herrn anzunehmen, wurde die Einwilligung der
Regierung rundweg verweigert. Man wähnte mich und meinen Bruder im
Einverständnis mit der kaiserlichen Politik und beschloß, uns büßen zu
lassen.
"Eine Beschwerde der Provinz gegen ihren Gouverneur, die ich samt dem
Bruder mit unterzeichnete, lieferte der Inquisition den Anlaß, das
Netz über uns zu werfen.
"Mein Bruder wurde nach Venedig gerufen, sich zu verantworten. Als er
kam, wurde er unter die Bleidächer geführt, und viele Wochen lang
suchte man bald durch Drohungen, bald durch verlockende Anerbietungen
ihn zu Geständnissen zu bewegen. Jenen einen Schritt brauchte er
nicht zu beschönigen; er war gesetzlich. Anderes hatte er nicht zu
gestehen, da wir nichts gegen den Staat unternommen hatten. So mußte
man ihn endlich entlassen. Aber man dachte nicht daran, ihn zu
begnadigen.
"Ich selbst hatte ihn schriftlich gebeten, nicht sogleich abzureisen,
um nicht neuen Verdacht zu erwecken. Wir wollten ihn lieber einige
Monate länger entbehren. Als er endlich kam, sollten wir ihn nach
wenigen Tagen für immer missen. Er erlag einem langsam wirkenden Gift,
das man ihm in einem der glänzenden Häuser, die er besuchte, unter
die Speisen gemischt hatte.
"Noch war der Stein über seinem Grabe nicht aufgerichtet, als der
Gouverneur der Provinz meiner Schwester seine Hand antrug. Sie wies
sie mit Entrüstung zurück; in ihrem Schmerz entfuhren ihr Worte, die
ihren Nachhall im Saal des Inquisitionstribunals finden sollten.
"Eine neue Anstrengung des Adels von Friaul, die Lage des Landes zu
bessern, wurde beraten. Ich hielt mich von den geheimen Anstalten
fern, da ich von ihrer Fruchtlosigkeit überzeugt war. Aber das böse
Gewissen der Herren der Republik deutete auf mich, als den am
härtesten Getroffenen, der einen Bruder zu rächen hatte. Ein Haufen
gedungener Bravi überfiel nachts unsere einsame Villa in den Bergen.
Ich hatte nur meine Diener zur Verteidigung. Als die Elenden uns
wohlgerüstet und entschlossen fanden, uns nicht leichten Kaufs zu
ergeben, zündeten sie das Haus an vier Ecken an. Ich machte mit
meinen Leuten einen verzweifelten Ausfall, die Schwester, die selbst
eine Pistole trug, in unserer Mitte. Da streckte mich ein Schlag
gegen die Stirn besinnungslos zu Boden.
"Erst am Morgen wachte ich auf. Die Stätte war ein menschenleerer
Trümmerhaufen, meine Schwester in den Flammen umgekommen, meine braven
Diener teils erschlagen, teils in das brennende Haus zurückgetrieben.
"Viele Stunden lag ich so neben dem rauchenden Schutt und starrte in
das leere Nichts, das mir meine Zukunft bedeutete. Erst als ich unten
im Tal Bauern heranziehen sah, raffte ich mich auf. Eins wußte ich:
Solange man mich am Leben glaubte, würde man mich für einen Feind
halten und überall hin verfolgen. Das brennende Grab war geräumig
genug; wenn ich verschwand, würde niemand zweifeln, daß auch ich dort
bei den Meinigen ausruhte. Im Herumirren auf der Felshöhe fand ich
die Brieftasche eines meiner Bedienten, der aus Brescia gebürtig und
viel in der Welt herumgefahren war. Seine Papiere lagen darin; ich
steckte sie zu mir, auf alle Fälle, und floh durch den dichten
Klippenwald. Niemandem begegnete ich, der mich hätte verraten können.
Als ich mich verschmachtet zu einem trüben Waldsee bückte, sah ich,
daß auch mein Äußeres mich nicht verraten konnte. Mein Haar war in
der Nacht ergraut; meine Züge waren um viele Jahre gealtert.
"In Brescia angelangt, konnte ich ohne Schwierigkeiten mich für meinen
Diener ausgeben, da derselbe schon als Knabe die Stadt verlassen hatte
und dort keine Verwandten mehr besaß. Fünf Jahre lang lebte ich wie
ein lichtscheuer Verbrecher und vermied die Menschen. Eine Ohnmacht
hatte sich auf meinen Geist gesenkt, als wäre durch jenen Schlag, der
mich zu Boden warf, das Organ des Willens in mir zertrümmert worden.
"Daß es nicht zerstört, sondern nur gelähmt war, empfand ich bei der
Kunde von Eurem Auftreten gegen das Tribunal. Mit einer fieberhaften
Spannung, die mich verjüngte und mir das Bewußtsein meiner Lebenskraft
zurückgab, verfolgte ich die Nachrichten aus Venedig. Als ich das
Scheitern Eures hochherzigen Wagnisses vernahm, sank ich nur auf einen
Augenblick in die alte dumpfe Resignation zurück. Im nächsten
Augenblick drang es wie ein Feuerstrom durch alle meine Sinne. Der
Entschluß stand fest, das Werk, das Ihr auf dem offenen Wege des
Rechts und des Gesetzes nicht hattet vollbringen können, auf dem Wege
der Gewalt und einer furchtbaren Notwehr, mit dem Arm des unsichtbaren
Richters und Rächers zum Heil meines teuren Vaterlandes hinauszuführen.
"Ich habe diesen Entschluß seither unablässig geprüft und meine
Absicht unsträflich gefunden. Ich bin mir heilig bewußt, daß nicht
Haß gegen die Personen, nicht Rache für erlittenes Leid, nicht einmal
der gerechte Gram um das Weh, das meinen Lieben widerfahren, meinen
Arm gegen die Gewaltherren bewaffnet. Was mich bewegt, für ein ganzes
in Knechtschaft versunkenes Volk als Retter aufzutreten und einzeln
den Spruch zu vollstrecken, der zu anderen Zeiten vom Gesamtwillen
einer freien Nation über ungerechte, dem Arm des Richters
unerreichbare Mächtige verhängt worden ist,--es ist weder Eigensucht,
noch eitle Ruhmbegier; es ist nur eine Schuld, die ich durch eine
tatenlose Jugend auf mich geladen habe, und an deren Bezahlung mich
damals Euer Blick im Palast Morosini mahnte.
"Gott, in dessen Schutz ich meine Sache befehle, möge mir als einzigen
Ersatz für alles, was er mir genommen, die Gnade zuteil werden lassen,
daß ich in einem befreiten Venedig Euch noch einmal die Hand drücken
kann. Ihr werdet die blutbefleckte nicht zurückstoßen, die dann in
keiner Freundeshand mehr ruhen wird; denn wer das Amt des Henkers
verwaltet hat, ist der Einsamkeit geweiht und hat den Blick der
Menschen zu meiden. Gehe ich aber an meinem Werk zu Grunde, so weiß
derjenige, an dessen Achtung mir am meisten gelegen ist, daß es auch
in dem jüngeren Geschlecht nicht ganz an Männern fehlt, die für
Venedig zu sterben wissen.
"Diesen Brief wird Euch ein zuverlässiger Mann zustellen, der das
Kleid eines Sekretärs der Inquisition mit der Mönchskutte vertauscht
hat, um durch Fasten und Gebet die Sünden der Republik zu büßen, denen
er seine Feder leihen mußte. Verbrennt dieses Blatt. Lebt wohl!
Candiano."
Als der Verbannte den Brief zu Ende gelesen hatte, saß er wohl eine
Stunde in tiefem Kummer vor den verhängnisvollen Blättern. Dann hielt
er sie über die Flamme, streute die Asche in den Kamin und ging
ruhelos bis an den frühen Morgen auf und nieder, während der
Unglückliche, dessen Beichte er vernommen, wie einer, dessen Sache
gerecht und dessen Sachwalter der Himmel ist, schon längst den Schlaf
gefunden hatte.-Am anderen Tage ging der späte Ankömmling in der
Straße della Cortesia zeitig aus. Das lustige Singen Mariettas
draußen auf dem Flur hätte ihn vielleicht noch länger schlafen lassen,
aber das laute Schelten der Mutter, daß sie einen Lärm mache, der
einen Toten erwecken könne, und daß sie noch alle Fremden aus dem
Hause treiben würde, ermunterte ihn völlig. Er hielt sich an der
Stiege, wo seine Wirtin bereits auf ihrem alten Posten saß, nur gerade
so lange auf, um sich nach den Wohnungen einiger Notare und Advokaten
zu erkundigen, deren Namen ihm ein Freund in Brescia aufgeschrieben
hatte. Als er Bescheid wußte, konnte weder die zärtliche Sorge der
Witwe um seine Gesundheit, noch die rote Schleife, die Marietta in ihr
Haar gesteckt hatte, ihn zu längerem Verweilen bewegen, und während
sich die gute Frau sonst bemüht hatte, den Verkehr ihrer Mietsleute
mit ihrer Tochter möglichst zu verhindern, war es ihr jetzt fast
unheimlich, daß der Fremde das liebe Geschöpf, ihren Augapfel,
hartnäckig übersah. Sein ergrautes Haar erklärte ihr diese seltsame
Blindheit nicht genügend. Er mußte einen geheimen Kummer haben oder
sich so krank fühlen, daß ihm der Anblick eines frischen Lebens wehe
tat. Dennoch ging er straff und rasch, und seine Brust war breit und
gewölbt, so daß die Krankheit, von der er sprach, tief im Innern ihren
Sitz haben mußte. Auch seine Gesichtsfarbe war nicht verdächtig. Wie
er die Straßen Venedigs durchschritt, zog er den wohlgefälligen Blick
manch eines Frauenauges auf sich, und auch Marietta sah ihm aus einem
der oberen Fenster nicht ohne Anteil nach.
Er aber ging in sich gekehrt seinen Geschäften nach, und obgleich er
sich bei Frau Giovanna umständlich nach dem Weg erkundigt hatte und
endlich über seine Ortsunkenntnis durch das Sprüchlein: "Mit Fragen
kommt man bis Rom" von ihr getröstet worden war, schien er doch jetzt
ohne alle Hilfe sich in dem Netz der Gassen und Kanäle zurechtzufinden.
Mehrere Stunden vergingen ihm mit Besuchen bei Advokaten, die aber
auf seine Empfehlung von einem Kollegen aus Brescia wenig Gewicht
legten und denen er, so bescheiden er auftrat, verdächtig vorkommen
mochte. Denn allerdings war ein gewisser Stolz in der Falte seiner
Stirn, der einem schärferen Beobachter sagte, daß er die Arbeit, die
er suchte, eigentlich unter seiner Würde hielt. Zuletzt kam er zu
einem Notar, der in einem Seitengäßchen der Merceria wohnte und
allerlei Winkelgeschäfte nebenbei zu treiben schien. Hier fand er mit
einem sehr mäßigen Gehalt eine Stelle als Schreiber, vorläufig zum
Versuch, und die hastige Art, wie er zugriff, brachte den Mann zu dem
Verdacht, er habe es etwa mit einem verarmten Nobile zu tun, deren
mancher, nur um das Leben zu fristen, sich zu jeder Arbeit willig
finden ließ, ohne um ihren Preis zu handeln.
Andrea jedoch war augenscheinlich mit dem Erfolg seiner Bemühungen
sehr zufrieden und trat, da es inzwischen Mittag geworden war, in die
nächste Schenke, wo er Leute aus den unteren Klassen an langen
ungedeckten Tischen sitzen sah, die ihre sehr einfache Kost mit einem
Glas trüben Weins würzten. Er nahm seinen Platz in einem Winkel nahe
der Tür und aß die etwas ranzigen Fische ohne Murren, während er
freilich den Wein, nachdem er ihn gekostet hatte, verschmähte. Er war
schon im Begriff, nach der Zeche zu fragen, als er sich von seinem
Nachbar höflich anreden hörte. Der Mann, den er bisher ganz übersehen
hatte, saß schon lange vor seiner halben Flasche Wein, aß nichts,
trank nur dann und wann einen Schluck, wobei er jedesmal den Mund ein
wenig verzog; während er aber scheinbar vor Müdigkeit die Augen halb
geschlossen hielt, wanderten seine scharfen Blicke durch die ganze
düsterliche Halle und hefteten sich mit besonderem Anteil an unseren
Brescianer, der seinerseits nichts Merkwürdiges an ihm wahrgenommen
hatte. Es war ein Mann in den Dreißigen, mit blondem, lockigen Haar,
der in der schwarzen venezianischen Tracht seine jüdische Herkunft
nicht sogleich verriet. In den Ohren trug er schwere goldene Ringe,
an den Schuhen Schnallen mit großen Topasen, während sein Halskragen
zerknittert und unsauber und sein Rock von feinem Wollenstoff seit
Wochen nicht gebürstet war.
Dem Herrn schmeckt der Wein nicht, sagte er halblaut, indem er sich
geschmeidig zu Andrea hinbog. Der Herr scheint überhaupt nur aus
Irrtum hier zu sein, wo man nicht gewohnt ist, Gäste von besserem
Stande zu bewirten.
Um Vergebung, Herr, erwiderte Andrea ruhig, obwohl er sich Gewalt
antat, überhaupt zu antworten, was wißt Ihr von meinem Stande?
Ich seh es an der Art, wie der Herr ißt, daß er eine andere
Gesellschaft gewohnt ist, als er hier findet, sagte der Jude.
Andrea maß ihn mit einem festen Blick, vor dem das lauernde Auge des
anderen sich senkte. Dann schien ein Gedanke in ihm aufzusteigen, der
ihn plötzlich bewog, dem Zudringlichen mit einer Art von
Vertraulichkeit entgegenzukommen.
Ihr seid ein scharfer Menschenkenner, sagte er. Es ist Euch nicht
entgangen, daß ich einst bessere Tage gesehen und einen unverfälschten
Wein getrunken habe. Auch kam ich in gute Gesellschaft, obwohl ich
der Sohn eines kleinen Bürgers bin und nur kümmerlich die Rechte
studiert habe, ohne einen Titel zu erwerben. Das hat sich geändert.
Mein Vater machte Bankrott, ich wurde arm, und ein armer
Gerichtsschreiber und Advokatengehilfe hat auf nichts Besseres
Anspruch zu machen, als was er in dieser Kneipe findet.
Ein studierter Herr hat immer Anspruch auf Verehrung, sagte der andere
mit einem sehr verbindlichen Lächeln. Es würde mich glücklich machen,
wenn ich Euer Gnaden einen Dienst erweisen könnte; denn ich habe stets
nach dem Umgang gelehrter Männer gestrebt und bei meinen vielen
Geschäften nicht selten die Gelegenheit gehabt, mich ihnen zu nähern.
Wenn ich Euer Gnaden vorschlagen dürfte, ein besseres Glas Wein mit
mir zu trinken, als hier zu haben ist...
Ich kann besseren Wein nicht bezahlen, sagte der andere gleichgültig.
Es würde mir eine Ehre sein, gegen den Herrn, der hier fremd scheint,
die venezianische Gastfreundschaft zu üben. Wenn ich sonst mit meinem
Vermögen und meiner Ortskenntnis dem Herrn irgend nützlich sein kann...
Andrea wollte ihm eben ausweichend antworten, als er bemerkte, daß der
Wirt der Schenke, der im Hintergrunde am Kredenztische stand, ihn
lebhaft mit dem kahlen Kopf zu sich heranwinkte. Auch von den anderen
Gästen, die aus Handwerkern, Marktweibern und Tagedieben bestanden,
machte ihn mancher mit verstohlenen Zeichen aufmerksam, daß man ihm
gern etwas mitgeteilt hätte, was man nicht laut zu sagen wagte. Unter
dem Vorwand, erst zu bezahlen, ehe er auf die höfliche Einladung
antwortete, verließ er seinen Platz und ging mit der lauten Frage, was
er schuldig sei, auf den Wirt zu.
Herr, flüsterte der gutmütige Alte, nehmt Euch in acht vor dem. Ihr
habt es mit einem Schlimmen zu tun. Die Inquisitoren bezahlen ihn,
daß er die Heimlichkeiten der Fremden ausspürt, die sich hier blicken
lassen. Seht Ihr nicht, daß der Winkel leer ist, wo er Platz genommen
hat? Sie kennen ihn alle, und nächstens fliegt er einmal zur Tür
hinaus, der Gott Abrahams gesegn' es ihm! Ich aber, obwohl ich ihn
dulden muß, um mir nicht die Finger zu verbrennen, bin es Euch doch
schuldig, Euch reinen Wein einzuschenken. Ich dank' Euch Freund,
sagte Andrea laut. Euer Wein ist ein wenig trübe, aber gesund. Guten
Tag.
Damit kehrte er auf seinen Platz zurück, nahm seinen Hut und sagte zu
seinem dienstfertigen Nachbar: Kommt, Herr, wenn es Euch gefällt. Man
sieht Euch hier nicht gern, fügte er leiser hinzu. Man hält Euch für
einen Spion, wie ich habe merken können. Wir wollen anderswo unsere
Bekanntschaft fortsetzen.
Das schmale Gesicht des Juden erblaßte. Bei Gott, sagte er, man
verkennt mich! Aber ich kann es den Leuten nicht verdenken, wenn sie
auf der Hut sind, denn es wimmelt hier in Venedig von Spürhunden der
Signoria. Meine Geschäfte, fuhr er fort, als sie schon auf der Gasse
waren, meine vielen Verbindungen führen mich in so manche Häuser, daß
es wohl scheinen mag, als bekümmerte ich mich um fremde Geheimnisse.
Gott soll mich leben lassen hundert Jahr, aber was gehen mich fremde
Leute an? Wenn sie mir zahlen, was sie mir schuldig sind, will ich
ein Hund sein, wenn ich ihnen was nachrede.
Ich meine aber doch, Herr--wie ist Euer Name?
Samuele.
Ich meine aber, Herr Samuele, daß Ihr zu übel denkt von denen, die zum
Besten des Staates die Pläne und Anschläge der Bürger ausspähen und
Verschwörungen gegen die Republik an den Tag bringen, ehe sie schaden
können. Der Jude stand still, hielt den andern am Ärmel und sah ihn
an. Warum hab ich Euch nicht gleich erkannt? sagte er. Ich mußte
wissen, daß Ihr nicht zufällig in jene elende Kneipe geraten konntet,
daß ich einen Kollegen in Euch zu begrüßen hatte. Seit wann seid Ihr
im Amt?
Ich? seit übermorgen.
Was meint Ihr, Herr? Wollt Ihr mich foppen?
Wahrlich nicht, erwiderte Andrea. Denn es ist mein voller Ernst, daß
ich nächstens so weit kommen werde, mich in Euern Orden aufnehmen zu
lassen. Es geht mir schlecht, wie ich Euch gesagt habe, und ich bin
nach Venedig gekommen, meine Umstände zu verbessern. Der
Schreiberlohn, um den ich mich heute bei einem Notar verdungen habe,
ist nicht das, was ich hier vom Glück und von meinem bißchen Verstand
erhofft habe. Venedig ist eine schöne Stadt, eine lustige Stadt; aber
in dem Lachen der schönen Weiber ist ein Goldklang, der mich immer an
meine Armut erinnert. Ich denke, das kann nicht immer so währen.
Euer Vertrauen ehrt mich sehr, sagte der Jude mit einem nachdenklichen
Zug. Aber ich muß Euch sagen, daß die Herren nicht gern fremde
Ankömmlinge in ihre Dienste nehmen, ehe sie eine Probezeit bestanden
und sich ein wenig umgesehen haben. Wenn ich Euch bis dahin mit
meiner Börse aushelfen kann--ich nehme niedrige Prozente von meinen
Freunden.
Ich dank' Euch, Herr Samuele, erwiderte Andrea gleichmütig. Eure
Protektion ist mir wertvoller, der ich mich hiermit bestens empfohlen
haben will. Dies aber ist mein Haus; ich nötige Euch nicht hinein,
weil ich Arbeit vollauf habe für meinen neuen Brotherrn. Andrea
Delfin ist mein Name. Wenn es Zeit ist, daß man mich brauchen kann,
denkt an mich: Andrea Delfin, Calle della Cortesia.
Er schüttelte dem seltsamen Freunde die Hand, der draußen noch eine
Weile stehen blieb, sich das Haus und die nächste Umgebung genau ansah
und dabei mit einer Miene des Zweifels und der listigen Überlegung vor
sich hinmurmelte, aus der hervorging, daß er den Brescianer von seiner
Probezeit nicht so rasch freisprechen würde.
Als Andrea die Treppe hinaufstieg, konnte er an Frau Giovanna nicht
vorüber, ohne ihr Rede zu stehen. Sie war nicht damit zufrieden, daß
er nur einen so geringen Platz gefunden hatte. Sie werde nicht ruhen,
bis er ihn aufgegeben und sich einen einträglicheren und ehrenvolleren
gesucht habe. Er schüttelte den Kopf. Es reicht wohl, gute Frau,
sagte er ernsthaft, für die Spanne Zeit, die ich noch vor mir habe.
Was Ihr auch redet! schalt die Frau. Dem Guten entgegen gehen und das
Böse kommen lassen, so ziemt sich's für einen Mann, und nach Honig
schleckt man, nach Wermut spuckt man. Seht die schöne Sonne draußen
und schämt Euch, daß Ihr schon nach Hause kommt, während auf der
Piazetta Musik ist und alles, was hübsch und reich und vornehm ist,
den Markusplatz auf und ab spaziert. Da gehöret Ihr hin, Herr Andrea,
statt ins Zimmer.
Ich bin weder hübsch, noch reich, noch vornehm, Frau Giovanna.
Habt Ihr denn gar keine Freude, die schöne Welt zu sehen? fragte sie
eifrig, und sah sich dabei um, ob Marietta nicht etwa in der Nähe sei.
Ihr seid doch nicht etwa liebeskrank?
Nein, Frau Giovanna.
Oder haltet Ihr's gar für eine Sünde, lustig zu sein? Ihr habt da so
Büchlein auf Eurem Tisch liegen, ich sag' es nur, weil Ihr der erste
Fremde seid, der in mein Haus ein erbauliches Buch mitgebracht hat,
Gott sei's geklagt! Aber die Jugend denkt heutzutage: Frech gelebt
und fromm gestorben, heißt dem Teufel den Spaß verdorben, und um
Weihnachten fasten auch die Spatzen auf dem Dach.
Gute Frau, sagte er lächelnd, ihr sorgt Euch sehr um mich, aber mir
ist nicht zu helfen. Wenn ich still bei meiner Arbeit sitze, ist mir
am wohlsten, und Ihr könntet mir einen Gefallen tun, mir ein
Schreibzeug zu schaffen und einige Bogen Papier.
Bald darauf brachte ihm Marietta das Verlangte auf sein Zimmer, wo er
stumm am Fenster saß und vor sich hin sah. In derselben Stellung fand
sie ihn abends, als sie ihm das Licht brachte, und auf ihre Frage, was
er zu essen begehre, verlangte er nur Brot und Wein. Sie hatte nicht
den Mut, zu fragen, ob ihn die Mücken belästigen und er wieder
geräuchert haben wolle. Mutter, sagte sie, als sie sich neben die
Alte auf die Treppe setzte, ich gehe nicht wieder zu ihm hinein. Er
hat so Augen, wie der Märtyrer in der kleinen Kapelle San Stefano.
Ich kann nicht lachen, wenn er mich ansieht.
Was sie wohl gesagt hätte, wenn sie einige Stunden später ins Zimmer
getreten wäre? Er stand, während die Nacht draußen über den Kanal
wehte, am Fenster, im Gespräch mit der Zofe drüben, eifrig bemüht,
seinen Augen einen weltlichen Ausdruck zu geben.
Schöne Smeraldina, sagte er, ich konnte die Zeit nicht erwarten, dich
wiederzusehen. Ich habe im Vorbeigehen bei einem Goldschmiedladen an
dich gedacht und dir eine Nadel gekauft, von Filigran, die freilich zu
gering für dich ist, aber dennoch echter als die Agraffe an deinem
Turban. Öffne das Fenster, so werf' ich sie hinüber, in der
Hoffnung, bald einmal denselben Weg durch die Luft zu machen und dir
zu Füßen zu fallen.
Ich seid sehr artig, lächelte das Mädchen und fing das Geschenk, das
er in ein Papier gewickelt hatte, mit beiden Händen auf. Ei, was Ihr
für einen guten Geschmack habt! und Ihr sagtet doch Ihr wäret arm?
Wißt Ihr, daß es mir heute besonders not tut, eine Freude zu haben?
Wir haben viel ausgestanden über Tag, die Gräfin ist schlechter Laune.
Ihr Liebster, der junge Gritti, des Senators Sohn, hat sich
vierundzwanzig Stunden nicht blicken lassen. Sie hat nach seinem
Hause geschickt; und da wurde er vermißt, und man glaubt, das Tribunal
habe ihn heimlich aufheben und gefangen nehmen lassen. Meine Gräfin
ist außer sich, sie empfängt niemanden, sie liegt auf ihrem Sofa und
weint wie eine Unsinnige und hat mich geschlagen, als ich sie trösten
wollte.
Ihr habt keine Ahnung, wessen man den Jüngling angeklagt?
Nicht die geringste, Herr. Ich wollt' auch Gelübde tun, ewig Jungfer
zu bleiben, wenn er das mindeste gegen den Staat im Kopf hatte.
Lieber Himmel, er war eben dreiundzwanzig Jahre, und nichts lag ihm am
Herzen, als meine Gräfin und allenfalls das Spiel. Aber diese Herren
von der Inquisition wissen Euch aus einem Spinneweb ein Seil zu drehen,
stark genug, um die stärkste Kehle zuzuschnüren, und wer weiß, ob es
diesmal nicht allein gegen seinen Vater, den Senator, gemünzt ist!
Sprecht vorsichtiger von den obersten Behörden dieser Stadt, sagte
Andrea leise. Die Weisheit der Väter hat sie eingesetzt, und die
Torheit der Enkel soll sie nicht antasten.
Das Mädchen sah ihn an, ob es sein Ernst sei; es war nicht leicht, das
Rätsel dieser Mienen zu lösen. Geht, sagte sie, Ihr werdet ernsthaft,
und das mag ich nicht leiden. Ihr seid noch nicht lange hier, darum
habt Ihr Respekt vor den alten Blutrichtern und Henkern, die sich von
fern oder etwa gemalt sehr ehrwürdig ausnehmen mögen. Ich aber habe
sie schon manchmal in der Nähe gesehen, am Farotisch, wenn meine
Gräfin Bank hielt, und ich kann Euch sagen, sie sind auch Menschen,
wie Adam war.
Mag sein, Kind, antwortete er, aber sie haben die Gewalt, und ein
armer Bürger wie ich tut nicht klug, so verfängliche Reden hier am
offenen Fenster zu wechseln. Wenn es zu bösen Häusern kommt, daß wir
beide die inkarnierte Gerechtigkeit Venedigs für nichts Besseres als
eine Handvoll sterblicher Menschen halten, so beschützt dich, meine
teure Smeraldina, der Zauber deiner Schönheit; ich aber wandere den
bekannten nassen Weg oder tausche wenigstens mein Quartier in der
Calle della Cortesia mit einer viel bescheideneren Kammer in den
Brunnen* oder unter den Bleidächern.
{ed. * Die Gefängnisse unter dem Meeresgrunde}
Ihr könnt hier reden, was Euch beliebt, sagte die Zofe; es gehen wenig
Fenster auf den Kanal hinaus, und da hat um diese Zeit niemand was zu
schaffen. Auf Eurer Seite drüben ist nun vollends die leere Mauer;
denn wer's besser haben kann, sucht sich unsere trübe Kloake da unten
nicht gerade zum Spiegel aus. Aber wißt Ihr was? Ihr solltet auf ein
Stündchen herüberkommen; man hätte es doch immer bequemer, miteinander
zu plaudern, und ein Glas Wein, guter Moscat von Samos und eine Partie
Tarock würden mir die Nerven sehr beruhigen nach den Ohrfeigen der
Gräfin.
Ich käme gern, sagte er, aber es würde Aufsehen machen, und meine
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