Andrea Delfin: Eine venezianische Novelle - 5

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die Hand im Spiele bei allem Feindseligen, was in Venedig geschieht.
Ist man doch so weit gegangen, uns für die Ermordung Veniers
verantwortlich zu machen, eine Tat, die ich von Grund meines Herzens
ebenso verabscheue, wie ich ihre Anstifter für kurzsichtige Politiker
halte.--Denn sagt selbst, werter Freund, fuhr er mit rückhaltlosem
Eifer fort, vielleicht nicht ohne die Absicht, einen Fürsprecher mehr
in Venedig zu gewinnen, sagt selbst, ob die geringste Aussicht ist,
das Ziel, den Sturz des Tribunals, auf diesem verbrecherischen Wege zu
erreichen? Setzen wir die moralische Seite für einen Moment aus den
Augen: Ist es irgend denkbar, daß ein so weit verzweigter Anschlag
hier, in Venedig, so lange geheim bleibt wie er müßte, wenn der Zweck
der Einschüchterung erreicht werden sollte?
Es ist undenkbar, erwiderte Andrea gelassen. Was drei Venezianer
wissen, weiß der Rat der Zehn. Umso wunderbarer, daß er diesmal so
schlecht bedient wird.
Und nun setzt den Fall, es gelänge den Verschworenen nach Wunsch, Mord
auf Mord, worauf es ja abgesehen scheint, erreichte die Inquisitoren
trotz des Geheimnisses, das sie umgibt, und endlich fände sich niemand,
der sein Leben an eine so gefährliche Würde wagte--was wäre damit
erreicht? Eine Aristokratie von so ungeheuerlicher Organisation, wie
die venezianische, bedarf, um zu bestehen, um sich gegen die drohenden
Wogen des Volkswillens zu sichern, des festen Dammes einer
immerwährenden Diktatur, die in sanfteren oder härteren Formen immer
wieder aufgerichtet werden müßte. Denn wo sind die Elemente, aus
denen eine echte Republik mit freien Institutionen sich bilden könnte?
Ihr habt eine herrschende Kaste und eine beherrschte, Souveräne zu
Hunderten und Pöbel zu Tausenden. Wo sind die Bürger, ohne die ein
freies Stadtwesen ein Unding ist? Eure Nobili haben dafür gesorgt,
daß der geringe Mann nie zum Bürgersinn, zum Gefühl der
Verantwortlichkeit und des wahren bewußten Opfers für große Zwecke
herangereift ist. Sie haben den Plebejern nie erlaubt, sich um
Staatsinteressen zu bekümmern. Aber weil das Regiment von achthundert
Tyrannen zu schwerfällig, zu uneinig und schwatzhaft ist, um eine
mächtige Wirkung nach außen oder innen zu üben, knechteten diese
Herren sich lieber selbst und beugten sich unter das Joch eines
unverantwortlichen Triumvirats, das wenigstens aus ihrer Mitte
hervorgegangen war. Sie zogen es vor, ihre eigenen Mitglieder ohne
Gesetz und Recht diesem dreiköpfigen Götzen zum Opfer fallen zu sehen,
als unter dem Schutz von Gesetzen und Rechten zu leben, die sie mit
dem Volk gleichstellen würden.
Ihr sagt diese Sachen, wie sie sind, warf Andrea ein. Aber müssen sie
so bleiben?
Bleiben--oder sich verschlimmern. Denn seht, Bester, wie furchtbar
sich die Schneide ihrer Waffe gegen sie selbst gekehrt hat. Solange
die Republik eine Aufgabe hatte unter den Völkern Europas, solange war
der Druck dieser stehenden Diktatur im Innern durch die Erfolge nach
außen aufgewogen. Niemals wäre Venedig ohne dieses Zusammenfassen all
seiner Kräfte in der Hand unerbittlicher Tyrannen zu der Blüte
politischer Macht und unermeßlichen Reichtums gediehen, wie wir sie
bis ins vorige Jahrhundert noch im Wachsen finden. Sobald die Zwecke
wegfielen, die so gewaltsame Mittel allein rechtfertigen konnten,
blieb die nackte Tyrannei in all ihrer Unförmlichkeit übrig und begann,
um nicht müßig zu gehen und sich selbst für überlebt zu halten, nach
innen zu wüten. Eine Diktatur im Frieden, mag sie von einem oder
dreien ausgeübt werden, ist immer eine Lebensgefahr für jeden großen
oder kleinen Staat. Hier aber ist die Krankheit zu alt geworden, um
noch Heilung zu finden. Die Keime des wahren Bürgertums, aus denen
jetzt für die Republik ein neues Leben erwachsen müßte, sind verfault,
durch ein jahrhundertelanges Schreckenssystem, durch das Netz der
ausgesuchtesten Spionenkünste ist alles Vertrauen, alle Geradheit,
Sicherheit und Freiheitsliebe erstickt, und das Gebäude, das so
künstlich und dauerhaft aufgeführt scheint, würde zusammenbrechen,
sobald der Kitt der Furcht aus den Fugen verschwände.
Eure Gründe mögen gut sein, erwiderte Andrea nach einer Pause, aber es
sind Gründe eines Fremden, den es nichts kostet, diese Republik für
ausgelebt und dem Untergang verfallen zu erklären. Einen Venezianer
möchtet ihr schwerlich überzeugen, daß die Krankheit seiner alten
Mutterstadt nicht wenigstens den letzten Versuch einer Heilung wert
sei.
Ihr aber seid kein Venezianer.
Ihr habt recht, ich bin nur aus Brescia, und meine Stadt hat schwer
unter Venedigs Geißel geblutet. Dennoch kann ich mich eines tiefen
Mitgefühls mit diesen verzweifelten Männern, die das fressende
Geschwür der geheimen Schreckensherrschaft mit dem Messer
auszuschneiden versuchen, nicht ganz erwehren. Ob sie ihr Ziel
erreichen, steht in den Sternen geschrieben. Meine Augen sind schwach,
ich verzichte drauf, diese Schrift zu lesen.
Beide Männer schwiegen und sahen eine Weile durch das Fenster auf den
Kanal. Ihre Sessel standen dicht nebeneinander. Die Sonne brannte
herein, ohne daß sie der lästigen Glut auswichen.
Ihr seht, begann endlich lächelnd der Jüngere, daß ich für einen
Diplomaten, und einen, der in Venedig sich die Sporen verdient, noch
viel zu wenig Vorsicht gelernt habe. Wir haben uns nur einmal gesehen,
und heute sage ich Euch ohne Umschweife, was ich von den hiesigen
Dingen halte. Aber freilich traue ich mir hinlängliche
Menschenkenntnis zu, um zu wissen, daß ein Geist wie der Eure sich
nicht in den Sold dieser Signoria begeben kann.
Andrea reichte ihm stumm die Hand. In demselben Augenblick wandte er
das Gesicht und sah wenige Schritte hinter ihnen in unterwürfiger
Haltung seinen Amtsgenossen, Samuele, mitten im Zimmer stehen. Er
hatte die Tür leise geöffnet und war auf den Teppichen des Zimmers
unter vielen Verbeugungen ungehört herangetreten. Euer Gnaden, sagte
er jetzt zu Rosenberg gewandt, indem er sich gegen Andrea fremd
stellte, ich bitte zu verzeihen, daß ich bin eingetreten unangemeldet.
Der Herr Kammerdiener war nicht im Vorzimmer. Ich bringe die
bestellten Juwelen; Sachen, Euer Gnaden, wie sie die schönste Esther
hätte tragen können.
Er holte aus seinen Taschen Schachteln und Kästchen hervor und
breitete seine Waren sorgfältig auf dem Tisch aus, wobei er sichtlich
den jüdischen Händler, den er sonst in seinem Wesen nach Kräften
verleugnete, hervorzukehren suchte. Während der Deutsche die
Schmucksachen musterte, warf Samuele einen Blick des Einverständnisses
nach Andrea hinüber, der ihm den Rücken kehrte und an das Fenster trat.
Er begriff, was der Besuch des Juden zu dieser Stunde bezweckte.
Der Spion sollte den Spion im Auge haben, der alte Fuchs den Neuling
bei seinem Probestück überwachen.
Indessen hatte Rosenberg eine Halskette mit einem Rubinschloß
ausgewählt und bezahlte den Preis, den der Jude forderte, ohne zu
handeln. Er warf ihm die Goldstücke hin, nickte ihm, ohne weiter auf
sein Geschwätz zu antworten, seine Entlassung zu und trat wieder ans
Fenster. Ich sehe es an Eurer Miene, sagte er, daß Ihr mich
bemitleidet und für einen Wahnsinnigen haltet. In der Tat, ich
handelte klüger, wenn ich dieses blitzende Geschmeide in den Kanal
würfe, statt es um Leonorens weißen Nacken zu legen. Aber was hilft
mir alle Klugheit gegen diesen Dämon?
Ich bin überzeugt, antwortete Andrea, daß Eure Entzauberung nicht
lange auf sich warten lassen wird. Aber eine andere Warnung bin ich
Euch schuldig. Kennt Ihr den Juden näher, der uns eben verließ?
Ich kenne ihn. Er ist einer von den Spionen, die der Rat der Zehn in
unserem Hause besoldet. Er ißt sein Brot mit Sünden. Denn unser
ganzes Geheimnis ist, daß wir ehrlich sind. Und weil sie dies für
ganz unmöglich halten, gelten wir ihnen für die Gefährlichsten und
Verstecktesten. Nur um Euretwillen ist es mir unlieb, daß der
Schleicher gerade jetzt hier eintrat. Er hat gesehen, daß Ihr mir die
Hand gabt. Ich bürge Euch dafür, daß Ihr, ehe eine Stunde vergeht, im
schwarzen Buch des Tribunals stehen werdet.
Andrea lächelte bitter. Ich fürchte sie nicht, mein Freund, sagte er.
Ich bin ein friedfertiger Mensch und mein Gewissen ist ruhig.-Vier
Tage waren nach jenem Gespräch vergangen. Andrea hatte sein gewohntes
Leben fortgesetzt, sich regelmäßig morgens bei seinem Notar
eingefunden und am Abend das Haus gehütet, obwohl ihm jetzt, da er zu
der hohen Polizei in ein nahes Verhältnis getreten war, an dem guten
Leumund in der Straße della Cortesia nicht mehr viel gelegen sein
konnte.
Am Samstag abends erbat er sich den Hausschlüssel von Frau Giovanna.
Sie lobte ihn, daß er eine Ausnahme von seiner Regel mache. Es sei
heute auch der Mühe wert; die Totenfeier für den erlauchten Herrn
Venier in San Rocco mitanzusehen, würde sie selbst reizen können.
Aber sie scheue das Gedränge, und dann--er wisse wohl, weshalb dieser
Fall ihr ein besonderes Grauen einflöße.
Auch er gehe dem nächtlichen Gewühl lieber aus dem Wege, sagte Andrea.
Es beklemme ihm die Brust. Er wolle eine Gondel nehmen und nach dem
Lido hinausfahren.
So verließ er die Alte und schlug die Richtung ein, die San Rocco
entgegengesetzt war. Es war schon acht Uhr, ein feiner Regen trübte
die Luft, hielt aber die Menschen nicht ab, der Kirche drüben über dem
Kanal zuzuströmen, wo die Exequien für den ermordeten Staatsinquisitor
um diese Stunde abgehalten werden sollten. Dunkle Gestalten, teils in
Masken, teils das Gesicht durch den Hutrand gegen den prickelnden
Regen schützend, eilten an ihm vorbei nach den Plätzen der Überfahrt,
oder nach der Rialtobrücke, und ein dumpfes Glockengetön summte durch
die Luft. In einer Seitengasse stand Andrea still, zog eine Maske aus
seinem Rock und band sie sich vor. Dann ging er an den nächsten Kanal,
sprang in eine Gondel und rief: Nach San Rocco!
Die stattliche alte Kirche war schon von unzähligen Kerzen taghell
erleuchtet und eine ungeheure Volksmenge umwogte den leeren Katafalk,
der dunkel mitten im Schiff aufragte ohne Blumen und Kränze. Nur
ein großes silbernes Kreuz stand zu Häupten, und die schwarze
Decke trug zu beiden Seiten das Wappen des Hauses Venier. Auf
schwarzausgeschlagenen Sitzen, die durch die ganze Tiefe des Chores
amphitheatralisch hinaufstiegen, hatte der Adel Venedigs Platz
genommen, in einer Vollzähligkeit, wie sie selten auch bei wichtigen
Sitzungen des Großen Rates zustande kam. Niemand wagte es, zu fehlen,
denn jedem lag daran, daß an der Aufrichtigkeit seiner Trauer um den
Toten nicht der leiseste Zweifel entstände. Auf einer besonderen
Tribüne saßen die fremden Gesandten. Auch ihre Reihe war vollzählig.
Aus der Höhe herab bliesen die Posaunen die feierliche Introduktion
eines Requiems, und ein vollstimmiger Chor, von der Orgel begleitet,
stimmte den Klagegesang an, der erschütternd durch die Kirche wallte
und draußen auf dem Platz und weit in die benachbarten Straßen hinein
von dem zuströmenden Volk vernommen wurde. Der feine Regen, der noch
immer anhielt, die Dunkelheit der Nacht, aus der schon fern die hellen
Steinrosen der Kirchenfenster wundersam hervorglommen, das verstohlene
Schwirren und Summen der Tausende verbreitete ein banges Grausen rings
um die Kirche, dessen nur wenige sich erwehren mochten. Je näher am
Eingang in den erhabenen Raum, der alles umschloß, was in Venedig groß
und mächtig war, desto andächtiger verstummten alle Lippen. Aus den
schwarzen Masken, die nach alter Gewohnheit bei Trauer--wie bei
Freudenfesten zahlreich unter der Menge erschienen, sahen nicht wenige
bange Blicke in das helle Portal hinein nach dem Katafalk, der an das
Ende der Dinge und die Hinfälligkeit irdischer Macht noch
vernehmlicher mahnte als die Worte des Gesanges.
In einer Seitenstraße, die damals durch dunkle Arkaden nach dem Platz
von San Rocco mündete, gingen zwei Männer hastig im Gespräch
miteinander. Sie sahen es nicht, daß im Dunkel der Häuser ein dritter
ihnen auf dem Fuße folgte, in Mantel und Maske sorgfältig versteckt,
der sich bald näherte, bald zurückblickte und ihnen wieder einen
Vorsprung ließ. Jene anderen trugen die Maske nicht. Der eine war
ein graubärtiger Herr mit vornehmem Anstand, sein Begleiter schien
jünger und geringeren Standes. Er horchte aufmerksam auf jedes Wort
des Alten und warf nur zuweilen eine bescheidene Bemerkung hin.
Jetzt kamen sie an eine Stelle, wo aus einem erleuchteten Hause ein
heller Schein über die Gasse fiel. Unversehens hatte die Maske sie
überholt und spähte, als sie jetzt dicht an ihr vorübergingen, hinter
dem Pfeiler hervor scharf in die beiden Gesichter. Die Züge des
Sekretärs der Staatsinquisitoren tauchten deutlich für einen
Augenblick aus der Finsternis auf. Die Stimme des Alten war ebenfalls
im Gemach des Geheimen Tribunals laut geworden. Sie hatte Andrea
Delfin ins Gesicht gesagt, daß er ein Candiano sei.
Geht nun zurück, schloß der Alte das Gespräch, und besorgt die Sache
ohne Aufschub. Der Großkapitän ist bei San Rocco beschäftigt, wie Ihr
wißt: aber eine kleine Abteilung seiner Leute genügt, um beide zu
verhaften. Ihr werdet ihnen einschärfen, daß es ohne Lärm abgehen muß.
Das erste Verhör habt Ihr sofort anzustellen, denn vor Mitternacht
bin ich schwerlich zurück. Ist etwas Dringendes zu melden, so findet
Ihr mich, nachdem die Feier vorüber ist, bei meinem Schwager.
Sie trennten sich und der Alte schritt durch den einsamen Pfeilergang
dem Platz von San Rocco zu. Eben verstummte die Musik in der Kirche,
und aller Augen richteten sich auf die Kanzel, die ein schneeweißer
Greis, der päpstliche Nuntius, auf zwei jüngere Geistliche gestützt,
mühsam bestieg, um zu dem versammelten Adel und Volk Venedigs zu reden.
Kein Laut regte sich mehr; die schwache Stimme des Greises begann,
weit vernehmlich, das Gebet, daß der Herr in Gnaden herabsehen und aus
dem Schatz seiner ewigen Weisheit und Barmherzigkeit den bekümmerten
Geistern Trost und Erleuchtung spenden möge, das Dunkel erhellen,
welches Schuld und Arglist dem Auge des irdischen Gerichts entziehe,
und die Werke der Finsternis zu Schanden machen wolle.
Das Amen war kaum verhallt, so erhob sich von dem Portal her ein
murmelndes Geräusch und pflanzte sich blitzschnell durch das Schiff
der Kirche fort und lief bis zu den Sitzen der Nobili hinan, so daß im
Nu die ungeheure Versammlung wie ein aufgewühlter See schwankte und
brandete. Alle spähten im ersten Moment ratlos nach der Schwelle hin,
über welche das Entsetzen eingedrungen war. Man sah jetzt durch das
Hauptportal Fackeln in Hast über den dunkeln Platz irren, und während
alles atemlos hinaushorchte, erscholl plötzlich von vielen Stimmen der
Ruf in die Kirche hinein: Mörder! Mörder! Rette sich, wer kann!
Ein beispielloser Aufruhr, eine Verwirrung, wie wenn dem Gewölbe der
Kirche jählings der Einsturz drohe, folgte auf diesen Ruf. Volk und
Patrizier, Geistliche und Laien, die Sänger oben vom Chor, die Wächter
des Katafalks, Männer und Frauen drängten sich blindlings den
Ausgängen zu, und nur der Greis auf der Kanzel droben sah mit
unerschütterlicher Würde auf das angstvolle Gewimmel herab und verließ
seinen Sitz erst, als nur noch das schwarze Gerüst inmitten der leeren
Kirche ihn an das Wort mahnte, das ihm so plötzlich abgeschnitten
worden war.
Draußen aber wälzte sich die entsetzte Menge nach einem Punkt, wo
einige Fackeln mühsam mit Wind und Regen kämpften. Die Sbirren, die
unter der Führung des Großkapitäns beim ersten Aufzucken des
Ereignisses an jene Stelle geeilt waren, hatten einen regungslosen
Körper im Dunkel der Seitengasse gefunden, dem noch immer das Blut aus
der Seite strömte. Als die Fackeln herbeikamen, sah man einen Dolch
mit stählernem Kreuzgriff in der Wunde und las die eingegrabenen Worte:
"Tod allen Staatsinquisitoren!", die durch die entgeisterte Menge
halblaut von Mund zu Munde gingen.
Der erste Stoß eines Erdbebens, obwohl die Mahnung furchtbar ist, daß
man auf vulkanischem Boden stehe, erschüttert die Gemüter noch nicht
in den Tiefen. In den Schrecken mischt sich zu lebhaft Überraschung
und Befremden, ja, wo die Wirkungen nicht allzu fühlbar bleiben, sind
die Menschen, die rasch wieder ins Gleichgewicht zurückstreben, gern
geneigt, um ihrer Ruhe willen lieber an eine Sinnestäuschung zu
glauben. Erst die Wiederholung des Verderblichen, Unabwendbaren und
Erbarmungslosen widerlegt jeden Glauben an einen Irrtum, jede Hoffnung,
daß nur zufällige Umstände das Ereignis herbeigeführt haben möchten.
Die Wiederkehr der Gefahr verewigt die Furcht und deutet auf eine
unabsehliche Reihe von Schrecknissen hinaus, gegen die weder Mut noch
Feigheit den geringsten Schutz gewähren können.
Eine ähnliche Wirkung übte in Venedig die Kunde von dem zweiten
mörderischen Anfall gegen einen Staatsinquisitor aus. Denn daß der
Verwundete nichts Geringeres war, hatten die Eingeweihten nicht zu
verheimlichen vermocht. Niemand konnte sich's verhehlen, daß die
Kühnheit, mit der dieser zweite Schlag geführt worden war, durch das
Gelingen der Tat nur neu angespornt und zum Weiterschreiten auf der
Bahn der Gewalt ermuntert werden mußte. Zwar hatte dieses Mal der
Dolch, durch ein seidenes Unterkleid abgelenkt, das Opfer nicht
sogleich tödlich getroffen. Aber die Wunde gefährdete dennoch das
Leben und verursachte jedenfalls einen Stillstand in der Tätigkeit des
Geheimen Tribunals, das ohne Einstimmigkeit seiner drei Mitglieder
keinen Spruch tun durfte. Seine Herrschaft war also für den
Augenblick gelähmt, und, was wichtiger war, das undurchdrungene
Geheimnis, in das sich die feindliche Macht hüllte, zerstörte den
Glauben an die Allwissenheit und Allmacht des Triumvirats und mußte
zuletzt das Selbstvertrauen und die rücksichtslose Energie seiner
Mitglieder untergraben.
Denn welche Maßregeln der Vorsicht blieben noch übrig, und welche
Mittel geheimer Nachforschung waren noch unerschöpft? Hatte man nicht
über die Neuwahl des dritten Inquisitors im Rate der Zehn sich
gegenseitig das tiefste Stillschweigen mit schwerem Eide angelobt?
Und dennoch war wenige Tage nachher der Schlag so sicher, so wie vom
Himmel herab gerade auf den Neugewählten gefallen. Mit argwöhnischen
Blicken sah jeder den anderen an. Der Gedanke drängte sich auf, daß
im Schoß der Machthaber selbst der Verrat niste, daß die Tyrannen
selbstmörderisch Hand an ihre Herrschaft gelegt hätten. Man
verhaftete den Sekretär der Inquisition, der mit dem Verwundeten die
letzten Worte kurz vor dem Überfall gesprochen hatte. Er wurde
peinlich befragt und mit grausamem Tode bedroht. Auch das war
freilich erfolglos.
Und was hatte die Vermehrung der geheimen Polizei, die massenhafte
Anwerbung neuer Spione unter den Dienern der Nobili und der fremden
Gesandten, in den Gasthöfen, im Arsenal, selbst in den Kasernen und
Klöstern für einen Gewinn gebracht? Halb Venedig war dafür besoldet,
daß es die andere Hälfte überwachte. Eine ansehnliche Summe sollte
die geringste Nachricht, die auf die Spur der Verschwörung half,
belohnen. Man verdreifachte sie jetzt. Aber man versprach sich, da
man die Verschwörung bei dem Adel suchte, wenig von einer Maßregel,
die nur auf das ärmere Volk berechnet war. Man tat überhaupt eine
Menge Dinge, nur um den Schein zu retten, als sei man nicht müßig,
obwohl was man tat müßig war. Es erschienen strenge Verordnungen über
das Schließen der Gasthäuser und Schenken mit dem Eintritt der
Dunkelheit, das Tragen von Masken und Waffen jeder Art wurde bei
schwerer Strafe verpönt, die ganze Nacht hallte der Schritt der Runden
durch die Gassen und hörte man die Gondeln anrufen, die auf den
Kanälen an den Wachtposten vorüberfuhren. Niemand erhielt einen Paß,
der Venedig verlassen wollte, und am Eingang des Hafens lag ein großes
Wachtschiff, das jedes Fahrzeug anhielt und selbst von den Beamten der
Republik die Parole verlangte, ehe sie passieren durften.
Weit über die Terraferma hin verbreitete sich das Gerücht von diesen
unheimlichen Zuständen, wie gewöhnlich mit der Entfernung wachsend.
Wer eine Reise nach der Mutterstadt vor hatte, schob sie auf. Wer
sich in eine Handelsverbindung mit einem Venezianer Hause hatte
einlassen wollen, zog es vor, den Ausgang dieser Wirren abzuwarten,
die den Bau der Republik in ihren Grundfesten umzuwühlen drohte. Der
Rückschlag zeigte sich bald in der Verödung der Stadt, wo alles zu
stocken schien. Die Nobili verließen nur im dringenden Notfall ihre
Paläste, in denen sie sich, um nicht unwissend an einen der
Verschworenen zu streifen, gegen jeden Besuch absperrten. Niemand
wußte genau, was draußen vorging, und die abenteuerlichsten Gerüchte
von Verhaftungen, Folter und verhängten Strafen drangen zu den
verschlossenen Türen ins Innere der bangen Familien. Auch das
geringere Volk, obwohl es klar fühlte, daß es nicht in erster Linie
unter diesen Zuständen litt, und es schadenfroh mit ansah, wie die
Vornehmen in panischem Schrecken sich untereinander scheel anblickten,
konnte sich doch auf die Länge einer beklommenen Stimmung nicht
erwehren. Es war immerhin lästig, Karten und Wein mit dem Einbruch
der Nacht im Stich zu lassen, von einer jeden Wache, der es einfiel,
nach verborgenen Waffen durchsucht zu werden, und bei dem besten
Gewissen von der Welt keinen Augenblick vor der Tücke falscher
Denunzianten sicher zu sein.
Unter den wenigen, auf deren Leben und Treiben die Schwüle, die über
den Gemütern lag, scheinbar keinen Einfluß übte, befand sich auch
Andrea Delfin. Er war am Morgen nach der Tat gleich dem anderen Troß
der geheimen Späher von dem Nachfolger jenes unglücklichen Sekretärs,
der ihn in Sold genommen hatte, über seine Beobachtungen um die Stunde
der Tat befragt worden und hatte das Märchen von einer Fahrt nach dem
Lido aufgetischt, bei der er die Absicht gehabt hätte, die Stimmung
unter den Fischern auszukundschaften. Was er aus dem Hotel des
österreichischen Gesandten und dem Palast der Gräfin mitzuteilen
wußte--unverfängliche Tatsachen, die dem Tribunal längst bekannt
waren--, zeugte wenigstens für seinen Eifer, sich in seine Aufgabe
hineinzuarbeiten. Sein Freund Samuele hatte nicht versäumt, die
auffallende Vertraulichkeit zu denunzieren, in welcher er den
Brescianer mit dem Gesandtschaftssekretär betroffen hatte. Ruhig
verantwortete sich Andrea, und die alte Bekanntschaft von Riva her
konnte den Absichten des Tribunals nur förderlich sein.
So verging denn fast kein Tag, an dem er nicht, wenn er mit seiner
Arbeit für den Notar fertig war, seinen deutschen Freund aufsuchte,
dem das Gespräch des ernsten, von geheimem Kummer verdüsterten Mannes
in seiner Abgeschiedenheit von anderem Verkehr nach und nach zum
Bedürfnis wurde. Er hatte ein unbegrenztes Vertrauen zu Andrea gefaßt,
und wenn er politische Themata ihm gegenüber vermied, geschah es mehr,
weil er bei der Verschiedenheit ihrer Nationalität eine Verständigung
zwischen ihnen nicht hoffen durfte, als aus Besorgnis, daß Andrea
seine Offenheit mißbrauchen möchte. Er erzählte ihm sogar mit
lachendem Munde, daß er vor ihm gewarnt worden sei als vor einem Spion
des Tribunals. Die Sorglosigkeit, mit der er täglich die verfemte
Schwelle des fremden Gesandten betrete, falle natürlich auf.
Ich bin kein Nobile, erwiderte Andrea mit gelassener Miene. Daß ich
keine diplomatischen Verbindungen hier suche, leuchtet den Zehnmännern
ein; sie haben mich bis jetzt nicht einmal einer Warnung gewürdigt.
Euch aber habe ich liebgewonnen und würde mit Schmerzen darauf
verzichten, Euch dann und wann meine unerfreuliche Gesellschaft
aufzudrängen, denn ich bin ein völlig einsamer Mensch. Selbst meine
brave Wirtin, die mir sonst wohl ein Stündchen mit ihren Sprichwörtern
die Zeit vertrieb, betritt mein Zimmer nicht mehr. Sie ist krank,
krank an Venedig und den bleichen Schatten, die darin umgehen.
So verhielt es sich in der Tat. Nach dem zweiten Attentat auf die
Staatsinquisition war Frau Giovanna einen Tag lang tiefsinnig
herumgegangen, und es hatte sich mit der sinkenden Nacht eine immer
wachsende Aufregung bei ihr eingestellt. Sie war nun fest überzeugt,
daß der Geist ihres Orso der Täter sei; denn nur ein unkörperlicher
Schatten konnte zum zweiten Male den tausend lauernden Augen, die
Venedigs Ruhe bewachten, entgehen. Sie legte ihre besten Kleider an
und beschloß, da sie nichts Geringeres als einen Besuch ihres
Abgeschiedenen erwartete, die ganze Nacht oben an der Treppe zu seinem
Empfang bereit zu sein. In rührender Verwirrung der Begriffe hatte
sie eine Lieblingspfeife ihres Mannes auf einem gedeckten Tisch mit
drei Sesseln angerichtet, und war nicht dazu zu bewegen, selbst einen
Bissen zu genießen. In diesem Zustande verwachte sie den größten Teil
der Nacht. Erst nachdem das Lämpchen auf dem Flur erloschen war,
gelang es Marietta, die Andrea zu Hilfe rief, die arme Frau wieder ins
Zimmer und zu Bett zu bringen. Ein Fieber brach aus, nicht gefährlich,
aber lebhaft genug, um täglich mehrere Stunden lang ihr das
Bewußtsein zu rauben. Andrea sah dem allen in tiefem Mitleiden zu,
und die beweglichen Worte, die der Kranken in ihren Phantasien
entfielen, peinigten ihn sehr. Er mußte sich sagen, daß er die
Verstörung dieser guten Seele auf dem Gewissen habe, und die traurigen
Blicke Mariettas drückten ihn schwerer als alle blutigen Geheimnisse,
die er mit sich herumtrug.
Mit dieser Last beladen, schlenderte Andrea eines Nachmittags am
Dogenpalast vorbei und stand lange an dem schmalen Kanal, der unter
dem hohen Bogen der Seufzerbrücke dahinfließt. Wenn seine Entschlüsse
in ihm wankend wurden und er an der Unsträflichkeit des Richteramtes,
das er übernommen hatte, zu zweifeln begann, flüchtete er an diese
Stelle und bestärkte sich durch einen Blick auf die uralten Mauern,
hinter denen Tausende von Opfern einer unverantwortlichen Macht
geseufzt und geknirscht hatten, in dem Glauben an das Recht und die
Not seiner Sendung.
Die Sonne schien mit stechenden Strahlen durch die Septemberdünste,
die vom Wasser aufstiegen. Dieser Kai, der sonst von Leben wimmelte,
war unheimlich still. Die finsteren Blicke der Soldaten, die unter
den Arkaden des Palastes auf und ab klirrten, mochte die laute
Munterkeit der Vorübergehenden einschüchtern. Andrea konnte deutlich
hören, daß aus einer Gondel, die eben an die Piazetta anfuhr, sein
Name gerufen wurde. Er erkannte seinen Freund, den Sekretär des
Wiener Gesandten.
Habt Ihr Zeit, rief der Jüngling ihm zu, so steigt ein wenig ein und
fahrt eine Strecke mit mir. Ich bin eilig und möchte Euch doch gern
noch einmal sprechen.
Andrea stieg in die Gondel, und der andere reichte ihm mit besonderer
Herzlichkeit die Hand. Ich freue mich sehr, mein teurer Andrea, daß
ich Euch zufällig hier antreffen sollte. Ich wäre ungern ohne
Abschied von Euch gegangen, und doch wagte ich nicht, Euch zu besuchen
oder nach Euch zu schicken, da es ohne Zweifel aufgefallen wäre.
Ihr reist? fragte Andrea fast bestürzt.
Ich muß wohl. Da lest diesen Brief meiner guten Mutter, und sagt, ob
ich darauf hin noch länger zögern kann.
Er zog den Brief aus der Tasche und gab ihn dem Freunde. Die alte
Dame beschwor den Sohn, wenn ihm daran liege, daß sie je wieder ein
Stunde Schlaf fände, ohne Aufenthalt zu ihr zu reisen. Die Gerüchte
aus Venedig, die Stellung, die er dort einnehme und welche ihn mehr
als andere gefährde, der Umstand, daß kaum der dritte seiner Briefe an
sie gelange, sie wisse nicht, durch wessen Schuld--das alles nage an
ihrer Ruhe, und ihr Arzt wolle für nichts stehen, wenn sie nicht durch
einen Besuch ihres Sohnes erst wieder getröstet und beruhigt worden
sei. Es ging ein Ton grenzenloser mütterlicher Hingebung und tiefen
Kummers durch diese Zeilen, daß Andrea sie nicht ohne Bewegung lesen
konnte.
Und dennoch, sagte er, als er das Blatt zurückgab, dennoch wünschte
ich fast, Ihr reistet nicht gerade jetzt, obwohl ich weiß, daß Eure
Mutter die Stunden zählt. Nicht darum, weil ich, wenn Ihr fort seid,
völlig verlassen sein und wie ein wandelnder Toter hier zurückbleiben
werde, sondern weil es nicht geraten ist, jetzt aus Venedig zu gehen,
da der Verdacht Euch auf den Fersen folgen wird, Ihr ginget aus
Vorsicht. Hat man gar keine Schwierigkeiten gemacht, Euch zu
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