Andrea Delfin: Eine venezianische Novelle - 1

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Andrea Delfin
Eine venezianische Novelle
Paul Heyse



In jener Gasse Venedigs, die den freundlichen Namen "Bella Cortesia"
trägt, stand um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ein einfaches,
einstöckiges Bürgerhaus, über dessen niedrigem Portal, von zwei
gewundenen hölzernen Säulen und barockem Gesims eingerahmt, ein
Madonnenbild in der Nische thronte und ein ewiges Lämpchen bescheiden
hinter rotem Glas hervorschimmerte. Trat man in den unteren Flur, so
stand man am Fuße einer breiten, steilen Treppe, die ohne Windung zu
den oberen Zimmern hinaufführte. Auch hier brannte Tag und Nacht eine
Lampe, die an blanken Kettchen von der Decke herabhing, da in das
Innere nur Tageslicht eindrang, wenn einmal die Haustür geöffnet
wurde. Aber trotz dieser ewigen Dämmerung war die Treppe der
Lieblingsaufenthalt von Frau Giovanna Danieli, der Besitzerin des
Hauses, die seit dem Tode ihres Mannes mit ihrer einzigen Tochter
Marietta das ererbte Häuschen bewohnte und einige überflüssige Zimmer
an ruhige Leute vermietete. Sie behauptete, die Tränen, die sie um
ihren lieben Mann geweint, hätten ihre Augen zu sehr geschwächt, um
das Sonnenlicht noch zu vertragen. Die Nachbarn aber sagten ihr nach,
daß sie nur darum von Morgen bis Abend auf dem oberen Treppenabsatz
ihr Wesen treibe, um mit jedem, der aus- und einginge, anzubinden und
ihn nicht vorüberzulassen, eher er ihrer Neugier und Gesprächigkeit
den Zoll entrichtet habe. Um die Zeit, wo wir sie kennen lernen,
konnte dieser Grund sie schwerlich bewegen, den harten Sitz auf der
Treppenstufe einem bequemen Sessel vorzuziehen. Es war im August des
Jahres 1762. Schon seit einem halben Jahr standen die Zimmer, die sie
vermietete, leer, und mit ihren Nachbarn verkehrte sie wenig. Dazu
ging es schon auf die Nacht, und ein Besuch um diese Zeit war ganz
ungewöhnlich. Dennoch saß die kleine Frau beharrlich auf ihrem Posten
und sah nachdenklich in den leeren Flur hinab. Sie hatte ihr Kind zu
Bett geschickt und ein paar Kürbisse neben sich gelegt, um sie noch
vor Schlafengehen auszukernen. Aber allerlei Gedanken und
Betrachtungen waren ihr dazwischen gekommen. Ihre Hände ruhten im
Schoß, ihr Kopf lehnte am Geländer, es war nicht das erste Mal, daß
sie in dieser Stellung eingeschlafen war.
Sie war auch heute nahe daran, als drei langsame, aber nachdrückliche
Schläge an die Haustür sie plötzlich aufschreckten. Misericordia!
sagte die Frau, indem sie aufstand, aber unbewegliche stehen blieb,
was ist das? Hab' ich geträumt? Kann er es wirklich sein?
Sie horchte. Die Schläge mit dem Klopfer wiederholten sich. Nein,
sagte sie, Orso ist es nicht. Das klang anders. Auch die Sbirren
sind es nicht. Laß sehen, was der Himmel schickt.--Damit stieg sie
schwerfällig hinunter und fragte durch die Tür, wer Einlaß begehre.
Eine Stimme antwortete: es stehe ein Fremder draußen, der hier eine
Wohnung suche. Das Haus sei ihm gut empfohlen; er hoffe, lange zu
bleiben und die Wirtin wohl zufrieden zu stellen. Das alles wurde
höflich und in gutem Venezianisch vorgetragen, so daß Frau Giovanna,
trotz der späten Zeit, sich nicht bedachte, die Tür zu öffnen. Der
Anblick ihres Gastes rechtfertigte ihr Vertrauen. Er trug, soviel sie
in der Dämmerung sehen konnte, die anständige schwarze Kleidung des
niederen Bürgerstandes, einen ledernen Mantelsack unter dem Arm, den
Hut bescheiden in der Hand. Nur sein Gesicht befremdete die Frau. Es
war nicht jung, nicht alt, der Bart noch dunkelbraun, die Stirn
faltenlos, die Augen feurig, dagegen der Ausdruck des Mundes und die
Art zu sprechen müde und überlebt, und das kurzgeschorene Haar in
seltsamem Gegensatz zu den noch jugendlichen Zügen völlig ergraut.
Gute Frau, sagte er, ich habe Euch schon im Schlafe gestört, und sogar
vielleicht vergebens. Denn, um es gleich zu sagen: wenn Ihr kein
Zimmer habt, das auf einen Kanal hinausgeht, bin ich nicht Euer Mieter.
Ich komme von Brescia, mein Arzt hat mir die feuchte Luft Venedigs
empfohlen für meine schwache Brust; ich soll überm Wasser wohnen.
Nun Gott sei Dank! sagte die Witwe, so kommt doch einmal einer, der
unserem Kanal Ehre antut. Ich hatte einen Spanier vorigen Sommer, der
auszog, weil er sagte, das Wasser habe einen Geruch, als wären Ratten
und Melonen darin gekocht worden! Und Euch ist es empfohlen worden?
Wir sagen wohl hier in Venedig:
Wasser vom Kanal. Kuriert radikal.
Aber es hat einen eigenen Sinn, Herr, einen bösen Sinn, wenn man
bedenkt, wie manches Mal auf Befehl der Oberen eine Gondel mit Dreien
auf die Lagunen hinausfuhr und mit Zweien wiederkam. Davon nichts
mehr, Herr--Gott behüt' uns alle! Aber habt Ihr Euren Paß in Ordnung?
Ich könnt' Euch sonst nicht aufnehmen.
Ich hab' ihn schon drei Mal präsentiert, gute Frau, in Mestre, bei der
Wachtgondel draußen und am Traghetto. Mein Name ist Andrea Delfin,
mein Stand rechtskundiger Schreiber bei den Notaren, als welcher ich
in Brescia fungiert habe. Ich bin ein ruhiger Mensch und habe nie mit
der Polizei gern zu schaffen gehabt.
Um so besser, sagte die Frau, indem sie jetzt ihrem Gaste voran die
Treppe wieder hinaufstieg. Besser bewahrt als beklagt, ein Aug' auf
die Katze, das andere auf die Pfanne, und es ist nützlicher, Furcht zu
haben als Schaden. O, über die Zeiten, in denen wir leben, Herr
Andrea! Man soll nicht drüber nachdenken. Denken verkürzt das Leben,
aber Kummer schließt das Herz auf. Da seht, und sie öffnete ein
großes Zimmer, ist es nicht hübsch hier, nicht wohnlich? Dort das
Bett, mit meinen eigenen Händen hab' ich's genäht, als ich jung war,
aber am Morgen kennt man nicht den Tag. Und da ist das Fenster nach
dem Kanal, der nicht breit ist, wie Ihr seht, aber desto tiefer, und
das andere Fenster dort nach der kleinen Gasse, das Ihr zuhalten müßt,
denn die Fledermäuse werden immer dreister. Seht da überm Kanal, fast
mit der Hand abzureichen, der Palast der Gräfin Amidei, die blond ist
wie das Gold und durch ebensoviel Hände geht. Aber hier steh' ich und
schwatze, und Ihr habt noch weder Licht noch Wasser und werdet hungrig
sein.
Der Fremde hatte gleich beim Eintreten das Zimmer mit raschem Blick
gemustert, war von Fenster zu Fenster gegangen und warf jetzt seinen
Mantelsack auf einen Sessel. Es ist alles in der besten Ordnung,
sagte er. Über den Preis werden wir uns wohl einigen. Bringt mir
nur einen Bissen und, wenn Ihr ihn habt, einen Tropfen Wein. Dann
will ich schlafen.
Es war etwas seltsam Gebieterisches in seiner Gebärde, so milde der
Ton seiner Worte klang. Eilig gehorchte die Frau und ließ ihn auf
kurze Zeit allein. Nun trat er sofort wieder ans Fenster, bog sich
hinaus und sah den sehr engen Kanal hinab, der durch kein Zittern
seiner schwarzen Flut verriet, daß er teilhabe an dem Leben des großen
Meeres, dem Wellenschlag der alten Adria. Der Palast gegenüber stieg
in schwerer Masse vor ihm auf, alle Fenster waren dunkel, da die
Vorderseite nicht dem Kanal zugekehrt war; nur eine schmale Tür
öffnete sich unten, dicht über dem Wasserspiegel, und eine schwarze
Gondel lag angekettet vor der Schwelle.
Das alles schien den Wünschen des neuen Ankömmlings durchaus zu
entsprechen, nicht minder auch, daß man ihm durch das andere Fenster,
das nach der Sackgasse ging, nicht ins Zimmer sehen konnte. Denn
drüben lief eine fensterlose Wand ohne andere Unterbrechung als einige
Vorsprünge, Risse und Kellerlöcher hin, und nur den Katzen, Mardern
und Nachtvögeln konnte dieser düstere Winkel angenehm und wohnlich
erscheinen.
Ein Lichtstrahl aus dem Flur drang ins Gemach, die Tür öffnete sich,
und mit der Kerze in der Hand trat die kleine Witwe wieder ein, hinter
ihr die Tochter, die in der Eile noch einmal hatte aufstehen müssen,
um beim Empfang des Gastes zu helfen. Die Gestalt des Mädchens war
fast noch kleiner als die der Mutter, erschien aber doch durch die
höchste Zierlichkeit und kaum gereifte Schlankheit aller Formen größer
und wie auf den Fußspitzen schwebend, während man auch im Gesicht
dieselbe Ähnlichkeit und denselben Unterschied, der auf Rechnung der
Jahre kam, auf den ersten Blick erkannte. Nur der Ausdruck in beiden
Gesichtern schien niemals einander ähnlich werden zu können. Es war
zwischen den dichten Brauen der Frau Giovanna ein Zug von Spannung und
kummervollem Harren, der auch mit den Erfahrungen des Alters auf
Mariettas klarer Stirn nie dauernd eine Stätte finden konnte. Diese
Augen mußten immer lachen, dieser Mund immer ein wenig geöffnet sein,
um jeden Scherz unverzüglich hinauszulassen. Es war unendlich drollig
zu sehen, wie jetzt in diesem Gesichtchen Verschlagenheit,
Überraschung, Neugier und Mutwille miteinander kämpften. Sie bog beim
Eintreten den Kopf, dessen lose Flechten mit einem schmalen Tuch
umwunden waren, seitwärts, um den neuen Hausgenossen zu sehen. Auch
seine ernste Miene und sein graues Haar stimmten ihre Munterkeit nicht
herab. Mutter, flüsterte sie, indem sie einen großen Teller mit
Schinken, Brot und frischen Feigen und eine halbvolle Flasche Wein auf
den Tisch stellte, er hat ein kurioses Gesicht, wie ein neues Haus im
Winter, wenn der Schnee aufs Dach gefallen ist.
Schweig, du schlimme Hexe! sagte die Mutter rasch. Weiße Haare sind
falsche Zeugen. Er ist krank, mußt du wissen, und du solltest Respekt
haben, denn Krankheiten kommen zu Pferde und gehen zu Fuß, und Gott
behüte dich und mich, denn die Kranken essen wenig, aber die Krankheit
frißt alles. Hole nur ein wenig Wasser, soviel wir noch haben.
Morgen müssen wir früh auf und neues kaufen. Sieh, er sitzt da, als
ob er schliefe. Er ist müde von der Reise, und du bist müde vom
Stillsitzen. So ist die Welt verschieden.
Während dieser halblauten Reden hatte der Fremde am Fenster gesessen
und den Kopf in die Hand gestützt. Auch als er jetzt aufsah, schien
er die Gegenwart des zierlichen Mädchens, das ihm eine Verbeugung
machte, kaum zu bemerken.
Kommt und eßt etwas, Herr Andrea, sagte die Witwe. Wer nicht zu Nacht
ißt, hungert im Traum. Seht, die Feigen sind frisch, und der Schinken
zart, und dies ist Zyperwein, wie ihn der Doge nicht besser trinkt.
Sein Kellermeister hat ihn uns selbst verkauft, eine alte
Bekanntschaft noch von meinem Mann her. Ihr seid gereist, Herr. Ist
er Euch nicht einmal begegnet, mein Orso, Orso Danieli?
Gute Frau, sagte der Fremde, indem er einige Tropfen Wein ins Glas goß
und eine der Feigen aufbrach, ich bin nie über Brescia hinausgekommen
und kenne keinen dieses Namens.
Marietta verließ das Zimmer, und man hörte sie, während sie die Treppe
hinunterflog, ein Liedchen mit heller Stimme vor sich hin singen.
Hört Ihr das Kind? fragte Frau Giovanna. Man hielte sie nicht für
meine Tochter, obwohl auch eine schwarze Henne ein weißes Ei legt.
Immer singen und springen, als wären wir hier nicht in Venedig, wo es
gut ist, daß die Fische stumm sind, weil sie sonst reden würden, was
einem das Haar sträubte. Aber so war ihr Vater auch, Orso Danieli,
der erste Arbeiter auf Murano, wo sie die bunten Gläser machen, wie
nirgend auf der Welt. Ein fröhlich Herz macht rote Wangen, das war
sein Spruch. Und darum sagte er eines Tages zu mir, Giovannina, sagte
er, ich halt' es hier nicht aus, die Luft schnürt mir die Kehle zu,
gestern erst ist wieder einer erdrosselt und mit dem Fuß an den Galgen
gehenkt worden, weil er freie Reden geführt hat gegen die Inquisitoren
und den Rat der Zehn. Man weiß, wo man geboren wird, aber nicht, wo
man stirbt, und mancher denkt auf dem Pferde zu sitzen und sitzt auf
der Erde. Also, Giovannina, sagte er, ich will nach Frankreich, Kunst
bringt Gunst, und der Heller läuft dem Batzen nach. Meine Sache
verstehe ich, und wenn ich's draußen zu was gebracht habe, kommst du
nach mit unserem Kind.--Das war damals acht Jahre alt, Herr Andrea.
Es lachte, als es der Vater zuletzt küßte; da lachte er auch. Ich
aber weinte, da mußte er wohl mitweinen, obwohl er ganz lustig wegfuhr
in der Gondel, ich hört' ihn noch pfeifen, als er schon um die Ecke
war. So ging es ein Jahr. Und was geschah? Die Signoria ließ nach
ihm fragen; es dürfe keiner von Murano sein Gewerk ins Ausland tragen,
damit sie es dort ihm nicht absähen; ich sollt' ihm schreiben, daß er
wiederkäme, bei Todesstrafe. Über den Brief lachte er; aber den
Herren vom Tribunal war's nicht spaßhaft. Eines Morgens, da wir noch
zu Bett waren, wurde ich abgeholt, das Kind mit mir, und
hinaufgeschleppt unter die Bleidächer, und mußte ihm wieder schreiben,
wo ich wäre, ich und unser Kind, und daß ich da bleiben würde, bis er
selber mich abforderte in Venedig. Nicht lange, so hatte ich seine
Antwort, das Lachen sei ihm vergangen, er wandere dem Brief auf den
Fersen nach. Nun, ich hoffte täglich, daß er es wahrmachen werde.
Aber Wochen und Monde vergingen, und mir ward immer weher ums Herz und
kränker im Haupt, denn da droben ist die Hölle, Herr Andrea, nur daß
ich das Kind hatte, das nichts von dem Jammer begriff, außer daß es
schlecht aß und über Tag heiß hatte; aber dennoch sang es, um mich
lustig zu machen, daß mich's vollends angriff, die Tränen zu verhalten.
Erst im dritten Monat wurden wir herausgeholt, es hieß, der
Glasbläser Orso Danieli sei in Mailand am Fieber gestorben, und wir
könnten nach Hause gehen. Ich habe es auch von anderen gehört--aber
wer das glaubt, kennt die Signoria nicht. Gestorben? Stirbt man auch,
wenn man Frau und Kind unter den Bleidächern sitzen hat und sie
herausholen soll?
Und was meint Ihr, daß aus Eurem Mann geworden sei? fragte der Fremde.
Sie sah mit einem Blick ihm ins Gesicht, der ihn daran gemahnte, daß
die arme Frau lange Wochen unter den Bleidächern gelebt hatte. Es ist
nicht richtig, sagte sie. Mancher lebt und kommt doch nicht wieder,
und mancher ist tot und kommt doch wieder. Aber davon wollen wir
schweigen. Ja, wenn ich es Euch sagte, wer steht mir dafür, daß Ihr
nicht hingeht und es vor dem Tribunal ausplaudert? Ihr seht aus wie
ein Galantuomo; aber wer ist noch rechtschaffen heutzutage? Von
tausend einer, von hundert keiner. Nichts für ungut, Herr Andrea,
aber Ihr wißt wohl, wie es in Venedig heißt:
Mit Lug und Listen kommt man aus,
Mit List und Lügen hält man haus.

Es entstand eine Pause. Der Fremde hatte längst den Teller
weggeschoben und der Witwe gespannt zugehört.
Ich verdenke es Euch nicht, sagte er, daß Ihr mir Eure Geheimnisse
nicht anvertrauen wollt. Sie gehen mich auch nichts an, und zu helfen
wüßt' ich Euch ohnedies nicht. Aber wie kommt es, Frau, daß Ihr
dieses Tribunal, unter dem Ihr so viel gelitten, dennoch Euch gefallen
lasset, Ihr und alles Volk in Venedig? Denn ich weiß zwar wenig, wie
es hier aussieht--ich habe mich nie in politische Fragen
vertieft--aber so viel habe ich doch gehört, daß erst im vorigen Jahr
hier ein Tumult war, um das heimliche Tribunal abzuschaffen, daß einer
vom Adel selbst dagegen auftrat und der Große Rat eine Kommission
wählte, die Sache zu bedenken, und alles in Bewegung geriet für und
wider. Ich hörte davon sogar in meiner Schreibstube zu Brescia. Und
als endlich alles beim alten blieb und die Macht des heimlichen
Gerichts fester gegründet stand als je, warum zündete da das Volk
Freudenfeuer an auf den Plätzen und verhöhnte die vom Adel, die gegen
das Tribunal gestimmt hatten und nun seine Rache fürchten mußten?
Warum war niemand, der es hinderte, daß die Inquisitoren ihren kühnen
Feind nach Verona verbannten? Und wer weiß, ob sie ihn dort am Leben
lassen, oder ob die Dolche schon geschliffen sind, die ihn für immer
stumm machen sollen? Ich--wie gesagt--weiß nur wenig hiervon; ich
kenne auch jenen Mann nicht, und es ist mir alles sehr gleichgültig,
was hier geschieht, denn ich bin krank und werde es in dieser bunten
Welt ohnehin nicht mehr lange treiben. Aber es wundert mich doch,
dieses wankelmütige Volk zu sehen, das heute diese drei Männer seine
Tyrannen nennt und morgen frohlockt, wenn die untergehen, welche der
Tyrannei ein Ende machen wollten.
Wie Ihr da redet, Herr! sagte die Witwe und schüttelte den Kopf. Ihr
habt ihn nie gesehen, den Herrn Avogadore Angelo Querini, den sie
verbannt haben, weil er der heimlichen Justiz den Krieg erklärte? Nun
wohl, Herr, aber ich habe ihn gesehen und die anderen armen Leute, und
sie sagen alle, er sei ein rechtschaffener Herr und ein großer
Gelehrter, der Tag und Nacht die alten Geschichten von Venedig
studiert hat und die Gesetze kennt, wie der Fuchs den Taubenschlag.
Aber wer ihn über die Straße gehen oder im Broglio mit seinen Freunden
stehen sah, so an die Säule gelehnt und die Augen halb zugedrückt, der
wußte, daß er ein Nobile war von der Feder am Hut bis zu den
Schuhschnallen, und was er gegen das Tribunal redete und handelte, war
nicht fürs Volk, sondern für die großen Herren. Den Schafen aber ist
es gleich, Herr Delfin, ob sie geschlachtet oder vom Wolf gefressen
werden, und Rauft sich der Habicht mit dem Weih, Ist das Feld für die
Hühner frei.
Seht, Lieber, darum war die Schadenfreude groß, als das Tribunal in
allen Rechten bestätigt wurde und nach wie vor niemandem Rechenschaft
schulden sollte als am Jüngsten Tage dem Herrgott und alle Tage dem
Gewissen. Im Kanal Orfano, von Hunderten, die dort ihr letztes Ave
gebetet haben, liegen zehn von den kleinen Leuten neben neunzig von
den großen Herren. Aber setzt den Fall, es würden adlige Verbrecher
und bürgerliche vom Großen Rat öffentlich gerichtet und
hingerichtet--Misericordia! wir hätten achthundert Henker anstatt drei,
und der große Dieb hängte den kleinen auf.
Er schien etwas erwidern zu wollen, aber mit einem kurzen Auflachen,
das die Wirtin für Zustimmung nahm, hatte es sein Bewenden. Indem
trat Marietta wieder herein, ein Gefäß mit Wasser tragend und ein
Räucherpfännchen, auf dem ein scharfriechendes Kraut glimmte und ihr
seinen Dampf ins Gesicht trieb, daß sie mit Husten, Schelten und
Augenreiben die drolligsten Gebärden machte. Sie trug das Räucherwerk
mit kleinen Schritten dicht an den vier Wänden herum, die mit einer
Unzahl Fliegen und Mücken bedeckt waren.
Marschiert da weg, ihr Gesindel, sagte sie, ihr Blutsauger, schlimmer
als Advokaten und Doktoren! Hättet ihr auch Lust, Feigen zu Nacht zu
essen und Zyper zu naschen? Da könntet ihr wohl lachen und hernach
zum Dank dem Herrn da, wenn er schläft, das Gesicht zerstechen, ihr
Meuchelmörder! Wartet, ich will euch was eingeben, das euch ohne
Abendessen in Schlaf bringen soll.
Mußt du immer schwatzen, du gottlose Kreatur? sagte die Mutter, die
allen Bewegungen ihres Lieblings mit strahlenden Blicken folgte.
Weißt du nicht, daß ein Faß, das klingt, leer ist, und wer viel
spricht, wenig sagt?--Mutter, sagte das Mädchen lachend, ich muß den
Mücken ein Schlaflied singen, und seht, wie es hilft! da fallen sie
schon von der Wand. Gute Nacht, ihr Tagediebe, ihr schlechten
Gesellen, die ihr keine Miete bezahlt und doch in alle Töpfe guckt.
Wir sprechen uns morgen wieder, wenn ihr heute nicht genug bekommen
habt.
Sie schwenkte das erlöschende Kraut noch einmal wie beschwörend überm
Haupte und schüttete die Asche in den Kanal, dann verbeugte sie sich
rasch gegen den Fremden und lief wie der Wind hinaus.
Ist es nicht eine Hexe, ein häßliches, unerzogenes Geschöpf? sagte
Frau Giovanna, indem sie aufstand und sich ebenfalls zum Gehen
anschickte. Und doch gefällt jeder Äffin ihr Äffchen. Und übrigens,
so klein sie ist und nichtsnutzig, so anstellig ist sie auch, und es
heißt auch von ihr:
Bis die Große sich nur bückt,
Hat die Kleine schon das Kraut gepflückt.

Wenn ich das Kind nicht hätte, Herr Andrea! Aber Ihr wollt schlafen,
und ich stehe noch hier und brodle wie die Suppe überm Feuer. Schlaft
wohl und willkommen in Venedig!
Er erwiderte ihren Gruß trocken und schien es nicht zu bemerken, daß
sie offenbar noch ein lobendes Wort über ihre Tochter von ihm
erwartete. Als er endlich allein war, saß er noch eine Weile am Tisch,
und sein Gesicht wurde immer düsterer und schmerzlicher. Das Licht
brannte mit langem Docht, die Fliegen, die Mariettas Hexenkünsten
entgangen waren, belagerten in schwarzen Klumpen die überreifen Feigen,
draußen in dem Sackgäßchen flogen die Fledermäuse ans Fenster und
stießen gegen das Gitter--der einsame Fremde schien für alles um ihn
her erstorben, und nur die Augen lebten an ihm.
Erst als es elf schlug vom Turm einer nahen Kirche, richtete er sich
mechanisch auf und sah um sich. An der Decke seines niedrigen Zimmers
zog in grauen Streifen der scharfe Dunst des Räucherkrautes hin und
der Dampf der Kerze gesellte sich zu der Wolke droben. Andrea öffnete
das Fenster nach dem Kanal, um die Luft zu reinigen. Da sah er
gegenüber Licht in einem durch einen weißen Vorhang nur halb
geschlossenen Fenster und konnte durch die Lücke deutlich ein Mädchen
beobachten, welches am Tisch vor einer Schüssel saß und die Reste
einer großen Pastete hastig verzehrte, mit den Fingern die Bissen zum
Munde führend und dazu dann und wann aus einem Kristallfläschchen
trinkend. Das Gesicht hatte einen leichtsinnigen, aber eben nicht
herausfordernden Ausdruck, nicht mehr in erster Jugend. In der
nachlässigen Kleidung und dem halbaufgelösten Haar lag etwas
Studiertes und Bewußtes, was doch nicht ungefällig war. Sie mußte
längst bemerkt haben, daß das Zimmer gegenüber einen neuen Bewohner
aufgenommen hatte; aber obwohl sie denselben jetzt am Fenster sah,
fuhr sie ruhig im Schmausen fort, und nur wenn sie trank, schwenkte
sie das Fläschchen erst vor sich her, als wolle sie einen Mittrinker
begrüßen. Darauf stellte sie die leere Schüssel beiseite, rückte den
Tisch mit der Lampe so gegen die Wand, daß alles Licht auf einen
breiten Spiegel im Hintergrunde fiel, und begann nun einen Haufen
Maskenanzüge, der auf einem Armsessel bunt übereinander lag, der Reihe
nach vor dem Spiegel anzuprobieren, so daß der Fremde gegenüber, dem
sie den Rücken dabei zudrehte, desto deutlicher ihr Abbild sehen mußte.
Sie schien sich nicht wenig in ihren Verkleidungen zu gefallen.
Wenigstens nickte sie ihrem Bilde aufs freundlichste zu, lachte sich
an, daß Zähne und Lippen schimmerten, runzelte die Brauen, um eine
tragische oder schmachtende Miene zu machen, und sah dabei heimlich
seitwärts nach dem Beobachter drüben, den sie ebenfalls durch den
Spiegel im Auge behielt. Als die dunkle Gestalt unbeweglich blieb und
die erhofften Zeichen des Beifalls auf sich warten ließen, wurde sie
ungehalten und bereitete einen Hauptschlag vor. Sie band sich einen
großen roten Turban um die Schläfen, aus dem an blitzender Agraffe
eine Reiherfeder hervorsah. Das Rot stand allerdings nicht übel zu
ihrer gelben Gesichtsfarbe, und sie machte sich selbst eine tiefe
Verbeugung der Anerkennung. Als es aber drüben auch jetzt noch still
blieb, riß ihr die Geduld, und sie trat, den Turban noch auf dem Kopf,
hastig an das Fenster, dessen Vorhang sie ganz zurückschob.
Guten Tag, Monsù, sagte sie freundlich. Ihr seid mein Nachbar
geworden, wie ich sehe. Hoffentlich spielt Ihr nicht die Flöte wie
Euer Vorgänger, der mich die halbe Nacht nicht schlafen ließ.
Schöne Nachbarin, sagte der Fremde, ich werde Euch mit keiner Art von
Musik lästig fallen. Ich bin ein kranker Mensch, dem es lieb ist,
wenn man ihm selbst seinen Schlaf nicht stört.
So!--erwiderte das Mädchen mit gedehntem Ton. Krank seid Ihr? Aber
seid Ihr auch reich?
Nein! Warum fragt Ihr?
Weil es ja schrecklich ist, krank und arm zugleich zu sein. Wer seid
Ihr denn eigentlich?
Andrea Delfin ist mein Name. Ich bin Gerichtsschreiber gewesen in
Brescia und suche hier einen stilleren Dienst bei einem Notar.
Die Antwort schien ihre Erwartungen von der neuen Bekanntschaft
vollends herabzustimmen. Sie spielte nachdenklich mit einer goldenen
Kette, die sie um den Hals trug.
Und wer seid Ihr, schöne Nachbarin? fragte Andrea mit einem zärtlichen
Ton, der dem eisernen Ausdruck seines Gesichtes völlig widersprach.
Euer holdes Bild so nahe zu haben, wird mir ein Trost sein in meinen
Leiden.
Sie fühlte sich offenbar befriedigt, daß er in den Ton einlenkte, den
sie zu erwarten berechtigt war.
Für Euch, sagte sie, bin ich die Prinzessin Smeraldina, die Euch
erlaubt, von fern nach ihrer Gunst zu schmachten. Wenn Ihr mich
diesen Turban aufsetzen seht, so sei es Euch ein Zeichen, daß ich
geneigt bin, mit Euch zu plaudern. Denn ich langweile mich mehr, als
bei meiner Jugend und meinen Reizen zu ertragen ist. Ihr müßt wissen,
fuhr sie fort, indem sie plötzlich aus der Rolle fiel, daß meine
Herrschaft, die Gräfin, durchaus nicht erlaubt, daß ich auch nur die
kleinste Liebschaft habe, obwohl sie selbst ihre Liebhaber öfter
wechselt als ihre Hemden. Sie sagt, daß sie ihre Vertraute und
Kammerjungfer stets aus dem Dienst gejagt habe, sobald sie zweien
Herren habe dienen wollen, ihr und dem kleinen Gott mit den Flügeln.
Unter diesem Vorurteil muß ich nun seufzen, und fänd' ich nicht sonst
hier meine Rechnung, und wohnte nicht zuweilen drüben in Eurem Zimmer
ein artiger Fremder, der sich ein wenig in mich verliebt...
Wer ist jetzt gerade der Liebhaber deiner Herrin? unterbrach sie
Andrea trocken. Empfängt sie den hohen Adel Venedigs? Gehen die
fremden Gesandten bei ihr aus und ein?
Sie kommen meist in der Maske, erwiderte Smeraldina. Aber das weiß
ich wohl, daß der junge Gritti ihr der Liebste ist, mehr als jemals
ein anderer, solange ich in ihrem Dienste bin; ja mehr als der
österreichische Gesandte, der ihr so den Hof macht, daß es zum Lachen
ist. Kennt Ihr meine Gräfin auch? Sie ist schön.
Ich bin fremd hier, Kind. Ich kenne sie nicht.
Wißt, sagte das Mädchen mit einem schlauen Gesicht, sie schminkt sich
stark, obwohl sie noch nicht dreißig ist. Wenn Ihr sie einmal sehen
wollt, nichts leichter. Man legt ein Brett von Eurem Fenster in
meines. Ihr steigt herüber, und ich führe Euch an einen Ort, wo Ihr
sie ganz verstohlen betrachten könnt. Was tut man nicht einem Nachbar
zuliebe!--Aber jetzt gute Nacht. Ich werde gerufen.
Gute Nacht, Smeraldina!
Sie schloß das Fenster. Arm--und krank, sagte sie für sich, indem sie
den Vorhang dicht zusammenzog. Je nun, für die Langeweile immer noch
gut genug.
Auch er hatte das Fenster geschlossen und durchmaß nun sein Zimmer mit
langsamen Schritten. Es ist gut, sagte er, es kommt mir gelegen. Im
schlimmsten Falle kann ich auch davon Vorteil ziehen.
Seine Miene zeigte, daß er an alles eher dachte als an Liebesabenteuer.
Nun packte er seinen Mantelsack aus, der nur wenig Wäsche und ein paar
Gebetbücher enthielt, und legte alles in einen Schrank an der Wand.
Eines der Bücher fiel zu Boden, und die Steinplatte gab einen hohlen
Ton. Sofort löschte er das Licht, verriegelte die Tür und fing an, in
der Dämmerung, die durch den fernen Schein von Smeraldinas Lämpchen
entstand, den Boden genauer zu untersuchen. Nach einiger Arbeit
gelang es ihm, die Steinplatte, die sauber, aber ohne Mörtel eingefügt
war, herauszuheben, und er entdeckte darunter ein ziemlich geräumiges
Loch, handhoch und einen Schuh breit im Geviert. Rasch warf er sein
Oberkleid ab und band sich einen schweren Gürtel mit mehreren Taschen
ab, den er um den Leib trug. Er hatte ihn schon in das Loch gelegt,
als er plötzlich innehielt. Nein, sagte er, es könnte eine Falle sein.
Es ist nicht das erste Mal, daß die Polizei in Mietwohnungen
dergleichen Verstecke hat, um hernach bei Haussuchungen zu wissen, wo
sie anzuklopfen hat. Dies ist zu lockend eingerichtet, um ihm trauen
zu können.
Er senkte die Steinplatte wieder ein und suchte nach einem sicheren
Behälter für seine Geheimnisse. Das Fenster nach der Sackgasse war
mit einem Gitter versehen, dessen Stäbe einen Arm durchgreifen ließen.
Er öffnete es, faßte hindurch und tastete an der Außenwand herum. Er
fand dicht unter dem Sims ein kleines Loch in der Mauer, das schon
einmal Fledermäuse bewohnt zu haben schienen. Von unten aus konnte es
nicht bemerkt werden, und oben sprang das Gesims darüber vor.
Geräuschlos erweiterte er mit seinem Dolch die Öffnung, indem er
Mörtel und Steine herausbrach, und war bald so weit gediehen, daß er
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