Andrea Delfin: Eine venezianische Novelle - 3

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Wirtin ließe mich um Mitternacht schwerlich wieder ein.
Nicht doch, lachte die Zofe. Einen solchen Umweg braucht es nicht.
Ich habe hier ein Brett, womit wir ohne viel Umstände eine Brücke
schlagen können. Man kann sich ja mit den Händen abreichen über dem
Kanal; warum nicht mit den Füßen? Oder seid Ihr schwindlig?
Nein, schöne Freundin. Nur einen Augenblick, und ich bin bereit.
Andrea löschte das Licht, verriegelte die Tür in seinem Zimmer,
horchte, ob alles im Hause schlafe, und ging dann wieder an das
Fenster. Smeraldina schien Übung im Bau dieser Brücken zu haben, denn
das Brett war bereit, und in wenigen Augenblicken lag der feste Steg
über der Tiefe, hüben und drüben flach und sicher auf dem Gesims
ruhend und gerade breit genug, um einen Mann zu tragen. Sie stand
drüben und winkte ihm lustig zu. Rasch erstieg er den Sims, betrat
das Brett, indem er die Tiefe mit festem Auge maß, und mit einem
einzigen ruhigen Schritt hatte er das Fenster drüben erreicht. Sie
fing ihn, als er sich hinabschwang, in ihren Armen auf, und ihre
Lippen streiften seine Wange. Aber er zog es vor, die Miene der
Schüchternheit anzunehmen und sich zu stellen, als fühle er sich durch
die Nähe seiner Freundin in die Schranken der Ehrerbietung
zurückgewiesen, was sie mit einiger Verwunderung aufnahm. Das Brett
ward wieder zurückgezogen, die Karten und der Wein aus dem Schrank
geholt und ein Tisch vor das offene Fenster gerückt, an dem das
seltsame Paar in vertraulichem Gespräch Platz nahm. Dabei trug das
Mädchen beständig den roten Turban, der ihr, während sie die Brücke
schlug, etwas schief auf den Hinterkopf gerutscht war, und hatte
Andreas Geschenk, die Filigrannadel, zierlich vor die Brust gesteckt.
Sie schenkte sich eben das zweite Glas Wein ein und schalt ihren Gast,
daß er so langsam trinke, und überhaupt nicht recht auftauen wollte,
als eine Glocke aus dem Innern des Hauses heftig geläutet wurde.
Seht, sagte das Mädchen, indem es aufstand und zornig die Karten
wegwarf, so geht es mir; keine ruhige Stunde habe ich! Erst schickt
sie mich fort, weil sie sich heute allein auskleiden wolle, und nun
stört sie mich noch so spät. Aber geduldet Euch nur zehn Minuten,
mein Freund; ich bin gleich wieder bei Euch.
Sie schlüpfte hinaus, und er schien sich über seine Einsamkeit zu
trösten. Er trat ans Fenster und betrachtete aufmerksam die Wand
drüben zwischen seinem Fenster und dem Kanal. Sie war nicht höher als
etwa zwanzig Fuß, der Kalk durch die Feuchtigkeit fast überall
verwittert und die nackten Steine rauh genug, um im Notfall daran
emporzuklimmen. Unter dem Fenster der Zofe sprang, wie er schon am
ersten Abend bemerkt hatte, die Wassertreppe vor, und an dem hohen
Pfahl zur Seite lag die schmale Gondel angekettet, so daß nur eben
eine zweite Gondel vorübergleiten konnte. Das alles befriedigte ihn
sichtlich.
Ich hätte es mir nicht besser bestellen können, murmelte er vor sich
hin.
Nachdenklich sah er den Kanal hinab, der in völliger Finsternis
zwischen den steilen, fensterlosen Ufern der Häuser hinfloß. Da sah
er am untersten Ende einen schwachen Lichtschein, der sich näher
bewegte, und hörte nach einiger Zeit Geräusch von Ruderschlägen. Eine
Gondel kam langsam heran und hielt unten an der Wassertreppe.
Vorsichtig bog der Lauscher oben sich zurück, um nicht bemerkt zu
werden, sah aber noch mit einem halben Blick, daß ein Mann sich erhob
und auf die Treppenstufe trat. Der Klopfer unten erklang in drei
gewichtigen Schlägen, und bald darauf hörte er eine Stimme im Hause,
die durch die Türe fragte, wer Einlaß begehre.
Im Namen des erlauchten Rates der Zehn, war die Antwort, öffnet!
Der Diener unten gehorchte augenblicklich, und die Wasserpforte schloß
sich hinter dem nächtlichen Besuch.
Kurz darauf kam Smeraldina in ihre Kammer zurück, aufgeregt, in bloßem
Haar und mit erhitzten Wangen. Habt Ihr gehört? flüsterte sie. O
Gott, sie werden unsere Gräfin fortschleppen, sie werden sie
erdrosseln oder ersäufen, und wer steht mir dann für die sechs Monate
Lohn, die sie mir schuldig ist?
Tröste dich, weichherziges Kind, sagte er rasch. Solange du gute
Freunde hast, wirst du nicht verlassen sein. Aber du tätest mir einen
Gefallen, wenn du mich irgendwo verbergen wolltest, wo ich hören
könnte, was der hohe Rat von deiner Herrin will. Ich gestehe, daß ich
neugierig bin, wie ein Fremder es ja wohl sein darf. Überdies aber
könnte ich dir und der Gräfin vielleicht nützlich sein, da ich bei
einem Advokaten arbeite und, wenn es auf eine öffentliche Anklage
hinausläuft, meine geringen Dienste gern zur Verfügung stelle.
Sie besann sich. Ich wüßte es leicht zu machen, sagte sie. Der Ort
ist sicher, und ich selbst habe manchmal dort gesteckt und meinen
Ohren nicht getraut. Wenn es aber doch entdeckt würde?
So nehme ich alles auf mich, mein Liebchen, und niemand erfährt, auf
welchem Wege ich ins Haus gekommen bin. Sieh, fuhr er fort, hier sind
drei Zechinen, für den Fall, daß ich dir hernach nicht mehr danken
kann. Geht aber alles gut, so sollst du sehen, daß ich das wenige,
was ich noch übrig habe, gern mit einer so klugen Freundin teilen
werde.
Sie steckte das Gold ohne Umstände ein, öffnete rasch die Tür und
horchte auf den dunklen Gang hinaus. Zieht die Schuhe aus, flüsterte
sie; gebt mir die Hand und folgt mir dreist, wohin ich gehe. Im Hause
schläft alles, außer dem Pförtner.
Sie löschte ihr Licht und huschte durch den Korridor voran, ihn an der
Hand sich nachziehend. Einige große dunkle Gemächer durchschritten
sie, dann öffnete das Mädchen die Tür nach einem Tanzsaal, der durch
drei hohe Fenster in der Front des Palastes ein trübes Dämmerlicht
erhielt. An einer Seite stieg ein Treppchen hinauf zu der Estrade für
die Musiker. Sacht! warnte das Mädchen; die Treppe knarrt ein wenig.
Ich lasse Euch hier allein. Droben findet Ihr im Getäfel eine Spalte,
durch die Ihr hinlänglich sehen und hören könnt. Denn nebenan ist das
Empfangzimmer der Gräfin. Wenn der Besuch fort ist, hol' ich Euch
wieder ab. Aber nicht eher rührt Ihr Euch vom Fleck, als bis ich
komme.
So ließ sie ihn allein, und ohne Zaudern stieg er die wenigen Stufen
hinauf und tastete sich sacht an der Wand entlang nach dem
Lichtstreifen, der durch die schmale Spalte drang. Der Saal war von
dem Nebengemach nur durch eine Holzwand getrennt, da beide Räume in
glänzenderen Zeiten eine einzige große Festhalle ausgemacht hatten.
Der Schein kam von einem silbernen Armleuchter, der unten auf dem
Tisch vor dem Ruhebett der Gräfin stand und die Bildnisse an der Wand
nur unstet beleuchtete. Andrea mußte sich auf die Kniee kauern, um
hinabzusehen. Aber so unbequem die Stellung war, so hätte wohl
mancher gern mit ihm getauscht, auch wenn ihm weniger am Hören als am
Sehen gelegen gewesen wäre.
Denn wenn die Zofe recht hatte, daß ihre Herrin sich stark zu
schminken pflegte, so tat sie es wahrlich mehr der Mode zu Liebe, als
weil sie es nötig hätte, um für schön zu gelten. Sie saß auf dem
Ruhebett in einem Anzug, der nicht auf so späten Besuch berechnet war,
die überaus reichen, etwas ins Rötliche spielenden Haare kunstlos
aufgebunden, die verweinten Augen wunderbar glänzend, auf den vollen,
blassen Wangen noch die Spur der Tränen. Der Mann, der ihr gegenüber
im Lehnstuhl saß und Andrea den Rücken zukehrte, schien sie aufmerksam
zu betrachten; wenigstens bewegte er den Kopf nur selten und hörte die
heftigen Worte der schönen Frau, ohne eine Gebärde dazwischen zu
werfen, mit an.
In der Tat, sagte die Gräfin, und in ihrer Miene lag dieselbe
schmerzliche Bitterkeit wie im Ton ihrer Stimme, ich muß mich wundern,
daß Ihr noch wagt, Euch hier sehen zu lassen, nachdem Ihr die
feierlichsten Versprechungen so schmählich mit Füßen getreten habt.
Hab' ich Euch darum so manche Dienste geleistet, daß Ihr mir jetzt so
grausam, so feindselig begegnet? Wo habt Ihr ihn gelassen, meinen
armen Freund, den einzigen, an dem mir gelegen war, und den Ihr unter
allen Umständen zu schonen verspracht? Gab es niemand anders als ihn,
wenn es Euch zu leer wurde in Euren Gefängnissen? Und was habt Ihr
Verdächtiges an ihm gefunden, was hat er gegen die hohe Republik
gesündigt, wofür es keine gelindere Strafe gab als Verbannung, keine,
die minder schwer auf mich gefallen wäre? Denn ich habe es Euch nicht
verhehlt, daß ich mein Herz an ihn gehängt habe, und daß der mein
Feind wäre, der ihm nur ein Haar krümmte. Gebt ihn mir wieder, oder
ich breche jede Verbindung mit Euch ab, ein für allemal, und verlasse
Venedig und suche meinen Freund in der Verbannung auf und lasse Euch
empfinden, wie viel Ihr durch diesen Verrat, durch diese
Schändlichkeit eingebüßt habt. O, daß ich mich jemals zu Eurem
Werkzeug hergab!
Ihr vergeßt, Gräfin, sagte der Mann, daß wir Mittel haben, Eure Flucht
zu hindern, und daß, selbst wenn sie glückte, unser Arm weit
hinausreicht und stark genug ist, Euch überall zu verderben, wo Ihr
eine Zuflucht zu finden glaubtet. Der junge Gritti hat seine Strafe
verdient. Er hat trotz der Warnung, die wir ihm zugehen ließen, mit
dem Sekretär des österreichischen Gesandten, einem sehr tief
eingeweihten jungen Manne, den Verkehr eifrig fortgesetzt. Die
Gesetze Venedigs verbieten solchen Verkehr aufs strengste, wie Euch
bekannt genug ist. Auch ist ein Brief des Angelo Querini aufgefangen
worden, in welchem des unbesonnenen Jünglings lobende Erwähnung
geschieht. Es war eine väterliche Maßregel, daß wir ihn verbannten,
ehe er schuldiger wurde. Aber wir wissen zugleich, was wir Euch
schuldig sind, Leonora. Und deshalb bin ich an Euch abgeschickt
worden, Euch diese Aufschlüsse zu geben und einige Winke, wie Ihr,
wenn Ihr verständig seid, das Geschehene wieder gut machen könnt.
Ich bin es müde, sagte sie heftig, mir von Euch Befehle geben zu
lassen. Dieser Tag hat mir gezeigt, daß ich darüber zu Grunde gehe,
früh oder spät, wenn ich auf Euch Vertrauen setze und mir einbilde,
daß all meine Aufopferung in Eurem Interesse mir je gedankt werde, ja,
mich auch nur vor den schnödesten Beleidigungen und Kränkungen
schützen würde. Ich brauche Euch nicht, ich will nichts von Euch, es
ist alles aus zwischen mir und dieser hohen Regierung, die Freund und
Feind gleich rücksichtslos beiseite wirft.
Nur schade, warf er ein, daß man Euch noch braucht, von Euch noch
etwas will, und daß es daher fürs erste zwischen uns noch nicht aus
sein kann. Ihr begreift, Leonora, daß es seine Bedenken hätte, Euch,
die Mitwisserin so vieler Geheimnisse der Republik, in fremde Länder
reisen zu lassen, wo Ihr bald einmal von der allgemeinen Sucht der
Zeit befallen werden könntet, Eure Memoiren zu schreiben. Venedig und
Ihr seid unzertrennlich, und Ihr habt genug Proben einer hohen, über
Weiberlaune erhabenen Klugheit gegeben, als daß es noch vieler
Umschweife bedürfte, Euch wieder zu versöhnen.
Ich will nichts von Versöhnung hören! rief sie leidenschaftlich, und
Tränen traten ihr wieder ins Auge. Was nützte es auch, es zu wollen?
Ich tauge zu nichts, ich bin unfähig, nur den einfältigsten Gedanken
zu fassen, wenn ich meinen armen Gritti nicht habe.
Ihr sollt ihn haben, Leonora. Aber noch nicht gleich, da seine
plötzliche Rückkehr unseren Plan kreuzen würde.
Und wie lange soll ich mich gedulden? fragte sie, ihn flehentlich
ansehend.
Es hängt von Euch ab, erwiderte er. Wie lange braucht Ihr, um einen
jungen Mann zu Euren Füßen zu sehen, der bisher im Ruf eines
Tugendhelden stand?
Ein Zug von Neugier und Interesse trat auf ihrem Gesicht hervor, das
noch eben ganz Schmerz und Verzweiflung gewesen war. Von wem redet
Ihr? fragte sie.
Von jenem Deutschen, der mit Gritti befreundet war, dem Sekretär des
Wiener Ministers. Ihr kennt ihn?
Ich habe ihn bei der letzten Regatta gesehen. Gritti zeigte mir ihn.
Er ist die Eins vor der Null seines Gebieters. Wir haben Ursache, zu
glauben, daß er sich im stillen einen starken Anhang unter unseren
Gegnern zu werben und die Verstimmung, die Querinis Handel
zurückgelassen hat, zu Gunsten seines Souveräns auszubeuten sucht. Er
ist ungewöhnlich verschlagen. Von den vier Beobachtern, die wir unter
den eigenen Leuten des Gesandten in unseren Sold genommen haben, hat
noch keiner die geringsten Beweise in unsere Hand geliefert. Die
Inquisitoren setzen ihr ganzes Vertrauen in Euch. Leonora, daß Ihr
den Schlüssel zu diesem wohlverriegelten Geist finden werdet, wie es
Euch schon manchmal geglückt ist. Dies war nicht zu hoffen, solange
Gritti dazwischen stand. Seine Verbannung ebnet den Weg und gibt
zugleich den Anlaß einer Annäherung an den unzugänglichen Menschen,
dem die Freundin seines Freundes jetzt, da ihr den Verlorenen
gemeinsam betrauert, größere Teilnahme einflößen muß als früher. Das
übrige überlasse ich der Macht Eurer Reize, die niemals
unwiderstehlicher waren, als wo sie auf Widerstand stießen.
Sie überlegte eine Weile. Ihre Stirn hellte sich auf, ihre Augen
gewannen einen kühnen, stolzen Ausdruck, ihr schöner voller Mund
öffnete sich halb und ein nachdenkliches Lächeln irrte über die Lippen.
Ihr versprecht, sagte sie endlich, daß Gritti sofort zurückgerufen
wird, sobald ich den anderen Euch überliefert habe?
Wir versprechen es.
So soll es nicht lange dauern, bis ich Euch an die Erfüllung Eures
Wortes mahne. Sie stand auf und warf das Tuch fort, das sie über Tag
naß geweint hatte. Andrea konnte aus seinem Versteck ihren Gang das
Zimmer auf und ab nur eine Strecke weit verfolgen, da die Spalte zu
schmal war, um den ganzen Raum zu übersehen. Er bewunderte die
königliche Haltung der Gestalt, während sie, wie in Gedanken an neue
Siege, langsam über den Teppich des Gemaches hinwandelte, das Auge
groß aufgeschlagen, das Haar zurückschüttelnd von den weißen Schläfen.
Es durchzuckte ihn seltsam, als ihr Blick, der gegenstandslos in der
Höhe herumschweifte, an ihm vorüberglitt. Unwillkürlich fuhr er
zusammen, als wäre es möglich gewesen, daß sie ihn entdeckte.
Der Mann im Lehnstuhl unten stand auf, schien aber seinerseits blind
für ihren Zauber, denn im ruhigsten Geschäftston fuhr er fort: Der
Nuntius ist in der letzten Zeit seltener in Euer Haus gekommen. Ihr
waret zu offen mit Euren weltlichen Neigungen, besonders das Spiel hat
sich hier zu breit gemacht. Es wäre uns lieb, wenn Ihr wieder einige
geistliche Bedürfnisse empfändet und den regen Verkehr mit der Eminenz
von neuem anknüpftet. Die Beziehungen der Papalisten zu Frankreich
werden seit einiger Zeit beunruhigend.
Ihr könnt auf mich rechnen, erwiderte sie.
Noch eins, Leonora. Die Summe, die wir Euch noch schulden für das
Abendessen des Candiano...
Sie stand wie von einer Schlange gebissen still und verfärbte sich
plötzlich. Bei allen Heiligen, sagte sie, schweigt davon, erwähnt es
nie wieder, und den Rest des Geldes gebt an die Kirche, daß Sie Messen
lese für seine Seele und--für meine. Wenn der Name genannt wird, ist
mir's jedesmal wie eine Posaune des jüngsten Gerichtes.
Ihr seid ein Kind, sagte der andere. Die Verantwortlichkeit für jenes
Nachtmahl gehört uns, nicht Euch. Er war ein Verbrecher, und nur
seine Verbindungen und sein Ansehen machten es uns zur Pflicht, die
Strafe geheim zu vollziehen. Er ist ruhig in seinem Bett gestorben,
und niemand hat je sagen können, daß er aus Eurem Hause den Tod
davongetragen habe. Oder ist Euch dergleichen zu Ohren gekommen?
Sie zitterte und sah zu Boden. Nein, sagte sie. Aber in der Nacht
wache ich auf von einer Stimme, die es mir zuraunt. O! Nur das hätte
ich nicht tun sollen, nur das nicht!
Es ist eine Anwandlung, Leonora; Ihr werdet sie besiegen. Das
Geld--wie ich Euch noch sagen wollte--liegt bei Marchesi für Euch
bereit. Gute Nacht, Gräfin. Ich sehe, daß ich Euch lange aufgehalten
habe. Schlaft wohl und laßt morgen die Sonne Eurer Schönheit
unbewölkt aufgehen über Gerechten und Ungerechten. Gute Nacht,
Leonora!
Er verbeugte sich leicht vor ihr und ging auf die Tür zu. Nur
flüchtig konnte Andrea im letzten Moment seine Züge sehen. Sie waren
kalt, aber nicht hart, ein Gesicht ohne Seele und Leidenschaften, nur
der Ausdruck eines mächtigen Willens herrschte auf Stirn und Brauen.
Er band eine Maske vor und warf den schwarzen Mantel, den er am
Eingange abgelegt hatte, um die Schulter. Dann verließ er, ohne ihren
Abschied abzuwarten, das Gemach.
In demselben Augenblick hörte Andrea die Stimme des Mädchens unten im
Saal, die ihn leise herunterrief. Er gehorchte, nachdem er einen
letzten Blick auf das schöne Weib geworfen, das immer noch regungslos
mitten im Zimmer stand und dem Fortgegangenen tiefsinnig nachsah. Wie
ein vom Schlage Getroffener stieg er schwankend von der Estrade herab
und folgte, ohne ein Wort zu sprechen, dem voranhuschenden Mädchen.
In ihrer Kammer brannte wieder Licht, der Wein stand noch auf dem
Tischchen am Fenster und nichts schien die Fortsetzung des
unterbrochenen Spiels zu hindern. Aber auf dem Gesicht des Mannes lag
ein unheimlicher Schatten, der selbst den Leichtsinn Smeraldinas
verschüchterte und sie von dieser Nacht nichts mehr hoffen ließ.
Ihr seht aus, sagte sie, als hättet Ihr Gespenster gesehen. Kommt,
trinkt ein Glas Wein und erzählt mir, was es gab. Es lief ja ruhiger
ab als wir fürchteten.
O gewiß, sagte er mit erzwungener Kälte. Man will deiner Herrin sehr
wohl, und es ist sogar Aussicht, daß du deinen rückständigen Lohn
nächstens ausbezahlt erhältst. Im übrigen sprachen sie so leise, daß
ich wenig verstand, und jetzt bin ich vor allen Dingen todmüde von dem
unbequemen Knieen auf den harten Brettern. Nächstens tue ich deinem
Wein eine bessere Ehre an, gutes Kind. Aber heute muß ich schlafen.
Ihr habt mir noch nicht einmal gesagt, ob Ihr sie so schön findet wie
die anderen Leute, sagte das Mädchen und versuchte zu schmollen über
ihren undankbaren, einsilbigen Freund.
Schön wie ein Engel oder eine Teufelin, murmelte er zwischen den
Zähnen. Ich danke dir, Madamigella, daß du mir dazu verholfen hast,
sie zu sehen. Ein anderes Mal bleibe ich fein bei dir, da ich heute
meine Neugier hinlänglich gebüßt habe. Gute Nacht!
Er schwang sich auf den Sims und betrat das Brett, das sie mißmutig
wieder über den Abgrund geschoben hatte. Als er droben stand, sah er
den Kanal hinunter, in dessen Tiefe eben das Licht der Gondel
verschwand. Gute Nacht! rief er noch einmal zurück und stieg dann
vorsichtig in sein Zimmer hinunter, während Smeraldina die Brücke
abbrach und sich vergebens bemühte, das seltsame Betragen des Fremden,
seine Armut, seine Freigebigkeit, sein graues Haar und seine
Abenteuersucht miteinander zu reimen.
Eine Woche verging, ohne daß die Eroberung, die Smeraldina an ihrem
Nachbar gemacht zu haben glaubte, sich sonderlich befestigte. Nur
einmal ließ sie ihn, nachdem sie den Pförtner auf ihre Seite gebracht
hatte, bei Nacht in der Maske zur Tür herein, führte ihn nach dem
Wasserpförtchen und bestieg mit ihm die Gondel, die er selbst mit
langsamen Ruderstößen durch das dunkle Labyrinth hindurchtrieb, um
endlich auf dem großen Kanal eine Stunde lang im Freien hinzugleiten.
Er war trotz der guten Gelegenheit auch diesmal nicht eben zärtlicher
Laune, während sie beständig schwatzte und durch Erzählungen aus der
großen Welt, in der die Gräfin ihre Rolle spielte, ihn zu belustigen
suchte. Er erfuhr, daß seit wenigen Tagen der österreichische
Gesandtschaftssekretär lange Besuche bei ihrer Herrin zu machen pflege,
wo beide ohne Zweifel sich berieten, wie es anzufangen sei, daß die
Verbannung des jungen Gritti zurückgenommen würde. Die Gräfin sei
besserer Laune als je und habe sie reich beschenkt. Andrea schien
dies alles nur mit halbem Ohr zu vernehmen und sich einzig der Lenkung
der Gondel zu widmen. Es war also dem Mädchen selbst nicht unlieb,
als ihr schweigsamer Gefährte umwendete und auf dem kürzesten Wege
nach Hause fuhr. Geräuschlos trieb er das schmale Fahrzeug nahe an
den Pfahl heran, legte, nachdem sie ausgestiegen waren, die Kette
herum und bat sich den Schlüssel aus, um sie festzuschließen. Sie gab
ihn und war schon in der Tür, als er ihr nachrief, daß ihm in der Hast
der kleine Schlüssel aus der Hand geglitten und in den Kanal gefallen
sei. Es war ihr selbst verdrießlich; aber mit ihrer gewöhnlichen
Leichtherzigkeit tröstete sie ihren Freund, daß wohl noch ein zweiter
Schlüssel sich im Hause finden werde, und er konnte diesmal nicht
umhin, mit einem flüchtigen Kuß auf ihre Wange Abschied zu nehmen, als
sie ihn um Mitternacht durch die Hauptpforte des Palastes entließ.
Seiner Wirtin, der Frau Giovanna, sagte er am anderen Morgen, daß es
viel Arbeit bei seinem Brotherrn gegeben habe, so daß man die Nacht
hätte zu Hilfe nehmen müssen. Dies war das einzige Mal, daß er den
Hausschlüssel brauchte. Gewöhnlich kam er schon gegen die Dämmerung
heim, genoß nur Brot und Wein und löschte früh das Licht, so daß die
gute Frau ihn in der Nachbarschaft als ein Muster des Fleißes und
unsträflichen Wandels pries. Nur das eine beklagte sie, daß er sich
nicht schone und bei seinen Jahren gar kein erlaubtes Vergnügen
genieße, wodurch er sich aufheitern und sein Leben verlängern würde.
Marietta war bei solchen Reden still und sah in ihren Schoß. Sie sang
nicht mehr, sobald der Fremde in seinem Zimmer war, und schien
überhaupt, seitdem er gekommen, sich mehr Gedanken gemacht zu haben
als sonst in einem Jahre.
Am Morgen des zweiten Sonntags, den Andrea im Hause der Witwe erlebte,
trat die Frau hastig mit verstörtem Gesicht und in vollem Staat, wie
sie aus der Messe zurückkehrte, in sein Zimmer. Er saß am Tisch, noch
nicht völlig angekleidet, und las in einem seiner Gebetbücher. Sein
Gesicht war bleicher als sonst, aber sein Blick ruhig, und es schien,
als ob er ungern in seiner Andacht gestört würde.
Sitzt Ihr noch still im Zimmer, Herr Andrea, rief sie ihm entgegen,
und ganz Venedig ist auf den Beinen? Eilt und kleidet Euch an und
geht selbst auf die Straße hinaus, wo Ihr so viel entsetzte
Menschengesichter sehen könnt wie Körner in der Mühle. Heiliger Jesus!
daß ich das noch erleben muß, und dachte, es könne nichts mehr in
Venedig geschehen, worüber ich staunte!
Wovon redet Ihr, gute Frau? fragte er mit gleichgültigem Ton und legte
das Buch aus der Hand.
Sie warf sich auf einen Stuhl und schien sehr erschöpft. Bis an die
Piazetta bin ich fortgeschoben worden, fing sie wieder an, und sah die
Herren vom Großen Rat zu Haufen die Riesentreppe im Hofe des
Dogenpalastes hinaufsteigen und die Trauerfahne wehen aus dem Fenster
der Prokurazien. Werdet Ihr es glauben? Heute nacht zwischen Elf und
Mitternacht hat man den Vornehmsten von den drei Staatsinquisitoren,
den edeln Herrn Lorenzo Venier, auf der Schwelle seines Hauses
ermordet.
War es schon ein alter Mann? fragte Andrea ruhig.
Misericordia! Wie Ihr auch sprecht! Als wäre er nur in seinem Bett
gestorben. Aber Ihr seid freilich kein Venezianer und könnt es nicht
verstehen, was es heißt: ein Inquisitor ermordet, einer vom Tribunal.
Es ist mehr als wenn es ein Doge wäre, von denen mancher nicht mit
rechten Dingen um sich kam, denn das Tribunal hat die Macht und der
Doge das Kleid. Was aber das entsetzlichste ist: auf dem Dolch, den
sie in der Wunde gefunden haben, steht eingegraben: "Tod allen
Inquisitoren"; allen! versteht ihr wohl, Herr Andrea? Das ist nicht
wie wenn ein Wicht von einem Bravo gedungen wird, einen einzelnen aus
der Luft zu schaffen, weil er einem anderen im Wege steht bei
Liebschaft, Ämtern oder sonst. Das ist ein politischer Mord, sagte
mein Nachbar, der Spezial, und dahinter steckt eine Verschwörung und
Helfershelfer und der Angelo Querini mit seinem Anhang. Er rieb sich
die Hände, als er das sagte, aber mir zitterte das Herz im Leibe, denn
ich will nicht sagen, was ich denke, aber ich weiß, mit der bösen Tat
ist's wie mit den Kirschen, schüttelt man eine herunter, so fallen
zwanzig nach, und dieses Blut wird viel Blut kosten.
Hat man denn keine Spur des Mörders, Frau Giovanna? Wozu nützen dem
Tribunal die Hunderte von Spionen, die es bezahlt?
Nicht den Schatten einer Spur, antwortete die Witwe. Es war eine
dunkle Nacht, die Bora wehte, und auf dem großen Kanal, an dem sein
Palast steht, war es leer von Gondeln. Da kam er allein durch eine
Seitengasse nach Hause, und da traf ihn die unsichtbare Hand, und er
lebte nur so lange, bis er mit seinem letzten Stöhnen den Pförtner
herausgeschreckt hatte. Da war die Gasse totenstill und niemand zu
erblicken. Ich aber weiß, was ich weiß, Herr Andrea. Soll ich es
Euch sagen? Ihr seid rechtschaffen und brav und werdet es nirgend
weiter umhersagen und mich nicht in neues Elend bringen: Ich kenne die
Hand, die dieses Blut vergoß.
Er sah sie fest an. Redet, sagte er, wenn es Euch erleichtert. Ich
verrate Euch nicht.
Habt ihr keine Ahnung? sagte sie, indem sie aufstand und dicht neben
ihn hintrat: Hab' ich Euch nicht gesagt, daß mancher lebt und nicht
wiederkommt, und mancher tot ist und doch wiederkommt? Wißt ihr's
nun? Er hat es ihnen nicht vergessen, daß sie sein Weib und Kind
unter die Bleidächer geschleppt und gemartert haben. Aber, um Gottes
willen, kein Wort davon über Eure Lippen! Wenn es sein Geist getan
hätte, die Lebendigen müßten es büßen.
Und was habt Ihr für Anlaß zu Eurem Glauben?
Sie sah sich im Zimmer unheimlich um. Wißt, flüsterte sie, es war
nicht geheuer im Haus diese Nacht. An den Wänden hört' ich es hinauf-
und hinabhuschen, wie Gespensterschritte, ich lag im Bett und horchte,
und es rauschte da unten heimlich über den Kanal und klirrte an Eurem
Fenster, und durch das Gäßchen nebenan schwirrte es von
aufgescheuchtem Getier bis lange nach Mitternacht. Erst mit dem
Glockenschlage eins ward Ruhe; ich weiß wohl, wer sie gestört hat. Er
kam, nachdem er es getan, um uns zu grüßen, da wir ja keinen Abschied
genommen haben.
Das Haupt war ihm auf die Brust gesunken. Jetzt stand er auf und
sagte, daß er selbst ausgehen wolle, um sich zu erkundigen. Er habe,
wie sie ja wisse, sich früh niedergelegt und besonders fest geschlafen,
so daß er von allem Spuk nicht gestört worden sei. Übrigens möge
sie es für sich behalten, denn allerdings sei es gefährlich, von einem
solchen Verbrechen auch nur eine gespenstische Mitwissenschaft
erhalten zu haben.--Darauf zog er sich eilig an und ging in die Stadt
hinaus.
Es war ein Wogen und Treiben auf den Gassen, wie man es selbst bei
hohen Festen der Republik nicht gewohnt war. Lautlos bewegten sich
aus der inneren Stadt hastige Züge von Neugierigen durch die engen
Straßen fort nach dem Markusplatze zu, und wer sich nicht anschloß,
stand wenigstens draußen an der Tür seines Hauses und wechselte mit
vorbeieilenden Bekannten beredte Zeichen und Blicke. Man sah es
diesen Menschen an, daß etwas Unerhörtes und Furchtbares sie zugleich
aufgeregt und betäubt hatte, daß sie alle planlos dem allgemeinen Zuge
folgten, begierig, das Ereignis vor allem mit Augen zu sehen und mit
Händen zu greifen. Niemand redete laut, niemand lachte, pfiff oder
seufzte auch nur vernehmlich; es war, als fühlten diese ehrsamen
Bürger die Pfähle wanken, auf denen die Lagunenstadt gegründet ward.
In scheinbar nachlässiger Haltung schritt Andrea unter dem Volk hin,
den Hut tief über die Augen gedrückt, die Hände auf den Rücken gelegt.
Nun trat er auf den Markusplatz hinaus, wo in unzähligen Gruppen alle
Stände durcheinander gemischt unter dem reinen Sommerhimmel sich
geschart hatten, während unter den Hallen der Prokurazien der Strom
weiterfloß, der Piazetta zu, bis draußen an das breite Becken des
Kanals, das von den beiden Säulen beherrscht wird. Der alte
Dogenpalast stieg majestätisch über dem Gewühl empor. Man sah hinter
den Bogenfenstern und in den Arkaden Waffen blinken, und ein Trupp
Soldaten hatte am Eingang Posto gefaßt, Spalier bildend und jedem die
Wehr vorhaltend, der, ohne zum Großen Rat zu gehören, in das Innere
Einlaß suchte. Denn oben in der weiten Halle, deren Wände mit den
Großtaten der Republik ausgemalt sind, saß die Blüte des Adels in
geheimer Beratung beisammen, und die Menge, die unten scheu vor den
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