Märchen - 3

Total number of words is 4629
Total number of unique words is 1436
45.7 of words are in the 2000 most common words
60.4 of words are in the 5000 most common words
66.6 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Da machte sich der Schüler auf die Reise und wanderte rastlos, bis er
eines Morgens in der Dämmerung am heimatlichen Ufer stand und über die
gewölbte Brücke nach seiner Vaterstadt hinübersah. Er schlich verstohlen
in seines Vaters Garten und hörte durchs Fenster des Schlafzimmers
seines Vaters Atem gehen, der noch schlief, und er stahl sich in den
Baumgarten beim Hause seiner Braut und sah vom Wipfel eines Birnbaumes,
den er erstieg, seine Braut in der Kammer stehen und ihre Haare kämmen.
Und indem er dies alles, wie er es mit seinen Augen sah, mit dem Bilde
verglich, das er in seinem Heimweh davon gemalt hatte, ward es ihm
deutlich, daß er doch zum Dichter bestimmt sei, und er sah, daß in den
Träumen der Dichter eine Schönheit und Anmut wohnt, die man in den
Dingen der Wirklichkeit vergeblich sucht. Und er stieg von dem Baume
herab und floh aus dem Garten und über die Brücke aus seiner Vaterstadt
und kehrte in das hohe Tal im Gebirge zurück. Da saß wie einstmals der
alte Meister vor seiner Hütte auf der bescheidenen Matte und schlug mit
seinen Fingern die Laute, und statt der Begrüßung sprach er zwei Verse
von den Beglückungen der Kunst, bei deren Tiefe und Wohllaut dem Jünger
die Augen voll Tränen wurden.
Wieder blieb Han Fook bei dem Meister des vollkommenen Wortes, der ihn
nun, da er die Laute beherrschte, auf der Zither unterrichtete, und die
Monate schwanden hinweg wie Schnee im Westwinde. Noch zweimal geschah
es, daß ihn das Heimweh übermannte. Das eine Mal lief er heimlich in der
Nacht davon, aber noch ehe er die letzte Krümmung des Tales erreicht
hatte, lief der Nachtwind über die Zither, die in der Tür der Hütte
hing, und die Töne flogen ihm nach und riefen ihn zurück, daß er nicht
widerstehen konnte. Das andere Mal aber träumte ihm, er pflanze einen
jungen Baum in seinen Garten, und sein Weib stünde dabei, und seine
Kinder begössen den Baum mit Wein und Milch. Als er erwachte, schien der
Mond in seine Kammer, und er erhob sich verstört und sah nebenan den
Meister im Schlummer liegen und seinen greisen Bart sachte zittern; da
überfiel ihn ein bitterer Haß gegen diesen Menschen, der, wie ihm
schien, sein Leben zerstört und ihn um seine Zukunft betrogen habe. Er
wollte sich über ihn stürzen und ihn ermorden, da schlug der Greis die
Augen auf und begann alsbald mit einer feinen, traurigen Sanftmut zu
lächeln, die den Schüler entwaffnete.
„Erinnere dich, Han Fook,“ sagte der Alte leise, „du bist frei, zu tun,
was dir beliebt. Du magst in deine Heimat gehen und Bäume pflanzen, du
magst mich hassen und erschlagen, es ist wenig daran gelegen.“
„Ach, wie könnte ich dich hassen,“ rief der Dichter in heftiger
Bewegung. „Das ist, als ob ich den Himmel selbst hassen wollte.“
Und er blieb und lernte die Zither spielen, und danach die Flöte, und
später begann er unter des Meisters Anweisung Gedichte zu machen, und er
lernte langsam jene heimliche Kunst, scheinbar nur das Einfache und
Schlichte zu sagen, damit aber in des Zuhörers Seele zu wühlen wie der
Wind in einem Wasserspiegel. Er beschrieb das Kommen der Sonne, wie sie
am Rand des Gebirges zögert, und das lautlose Huschen der Fische, wenn
sie wie Schatten unter dem Wasser hinfliehen, oder das Wiegen einer
jungen Weide im Frühlingswind, und wenn man es hörte, so war es nicht
die Sonne und das Spiel der Fische und das Flüstern der Weide allein,
sondern es schien der Himmel und die Welt jedesmal für einen Augenblick
in vollkommener Musik zusammenzuklingen, und jeder Hörer dachte dabei
mit Lust oder Schmerzen an das, was er liebte oder haßte, der Knabe ans
Spiel, der Jüngling an die Geliebte und der Alte an den Tod.
Han Fook wußte nicht mehr, wie viele Jahre er bei dem Meister an der
Quelle des großen Flusses verweilt habe; oft schien es ihm, als sei er
erst gestern abend in dieses Tal getreten und vom Saitenspiel des Alten
empfangen worden, oft auch war ihm, als seien hinter ihm alle
Menschenalter und Zeiten hinabgefallen und wesenlos geworden.
Da erwachte er eines Morgens allein in der Hütte, und wo er auch suchte
und rief, der Meister war verschwunden. Über Nacht schien plötzlich der
Herbst gekommen, ein rauher Wind rüttelte an der alten Hütte, und über
den Grat des Gebirges flogen große Scharen von Zugvögeln, obwohl es noch
nicht ihre Zeit war.
Da nahm Han Fook die kleine Laute mit sich und stieg in das Land seiner
Heimat hinab, und wo er zu Menschen kam, begrüßten sie ihn mit dem Gruß,
der den Alten und Vornehmen zukommt, und als er in seine Vaterstadt kam,
da war sein Vater und seine Braut und seine Verwandtschaft gestorben,
und andere Menschen wohnten in ihren Häusern. Am Abend aber wurde das
Lampenfest auf dem Flusse gefeiert, und der Dichter Han Fook stand
jenseits auf dem dunkleren Ufer, an den Stamm eines alten Baumes
gelehnt, und als er auf seiner kleinen Laute zu spielen begann, da
seufzten die Frauen und blickten entzückt und beklommen in die Nacht,
und die jungen Männer riefen nach dem Lautenspieler, den sie nirgends
finden konnten, und riefen laut, daß noch keiner von ihnen jemals solche
Töne einer Laute gehört habe. Han Fook aber lächelte. Er schaute in den
Fluß, wo die Spiegelbilder der tausend Lampen schwammen; und wie er die
Spiegelbilder nicht mehr von den wirklichen zu unterscheiden wußte, so
fand er in seiner Seele keinen Unterschied zwischen diesem Feste und
jenem ersten, da er hier als ein Jüngling gestanden war und die Worte
des fremden Meisters vernommen hatte.


Merkwürdige Nachricht von einem andern Stern

Frau Helene Welti gewidmet
In einer der Südprovinzen unseres schönen Sterns war ein gräßliches
Unglück geschehen. Ein von furchtbaren Gewitterstürmen und
Überschwemmungen begleitetes Erdbeben hatte drei große Dörfer und alle
ihre Gärten, Felder, Wälder und Pflanzungen beschädigt. Eine Menge von
Menschen und Tieren war umgekommen, und, was am meisten traurig war, es
fehlte durchaus an der notwendigen Menge von Blumen, um die Toten
einzuhüllen und ihre Ruhestätten geziemend zu schmücken.
Für alles andere war natürlich sofort gesorgt worden. Boten mit dem
großen Liebesruf hatten alsbald nach der schrecklichen Stunde die
benachbarten Gegenden durcheilt, und von allen Türmen der ganzen Provinz
hörte man die Vorsänger jenen rührenden und herzbewegenden Vers singen,
der seit alters als der Gruß an die Göttin des Mitleids bekannt ist und
dessen Tönen niemand widerstehen konnte. Es kamen aus allen Städten und
Gemeinden her alsbald Züge von Mitleidigen und Hilfsbereiten herbei, und
die Unglücklichen, welche das Dach über dem Haupte verloren hatten,
wurden mit freundlichen Einladungen und Bitten überhäuft, hier und dort
bei Verwandten, bei Freunden, bei Fremden Wohnung zu nehmen. Speise und
Kleider, Wagen und Pferde, Werkzeuge, Steine und Holz und viele andere
Dinge wurden von allen Seiten her zu Hilfe gebracht, und während die
Greise, Weiber und Kinder noch von mildtätigen Händen tröstlich und
gastlich hinweggeführt wurden, während man die Verletzten sorgfältig
wusch und verband und unter den Trümmern nach den Toten suchte, da waren
andere schon daran gegangen, eingestürzte Dächer abzuräumen, wankende
Mauern mit Balken abzustützen und alles Notwendige für den raschen
Neubau vorzubereiten. Und obwohl von dem Unglück her noch ein Hauch von
Grauen in den Lüften hing und von allen Toten eine Mahnung zu Trauer und
ehrerbietigem Schweigen ausging, war dennoch in allen Gesichtern und
Stimmen eine freudige Bereitschaft und eine gewisse zarte Festlichkeit
zu verspüren; denn die Gemeinsamkeit eines fleißigen Tuns und die
erquickende Gewißheit, etwas so ungemein Notwendiges, etwas so Schönes
und Dankenswertes zu tun, strömte in allen Herzen über. Anfangs war
alles noch in Scheu und Schweigen geschehen, bald aber wurde da und dort
eine fröhliche Stimme, ein leise zur gemeinsamen Arbeit gesungenes Lied
hörbar, und wie man sich denken kann, waren unter allem, was gesungen
wurde, obenan die beiden alten Spruchverse: „Selig, Hilfe zu bringen dem
frisch von der Not Überfallenen; trinkt nicht sein Herz die Wohltat wie
ein dürrer Garten den ersten Regen und gibt Antwort in Blumen und
Dankbarkeit?“ Und jener andere: „Heiterkeit Gottes strömt aus
gemeinsamem Handeln.“
Aber nun entstand eben jener beklagenswerte Mangel an Blumen. Die Toten
zwar, die man zuerst gefunden hatte, waren mit den Blumen und Zweigen
geschmückt worden, welche man noch aus den zerstörten Gärten gesammelt
hatte. Dann hatte man begonnen, aus den benachbarten Orten alle
erreichbaren Blumen zu holen. Aber dies war eben das besondere Unglück,
daß gerade die drei zerstörten Gemeinden die größten und schönsten
Gärten für die Blumen dieser Jahreszeit besessen hatten. Hierher war man
in jedem Jahre gekommen, um die Narzissen und die Krokus zu sehen, deren
es nirgends sonst solche unabsehbare Mengen gab und so gepflegte,
wunderbar gefärbte Arten; und das alles war nun zerstört und verdorben.
So stand man bald ratlos und wußte nicht, wie man an allen diesen Toten
das Gebot der Sitte erfüllen sollte, welches doch verlangt, daß jeder
gestorbene Mensch und jedes gestorbene Tier festlich mit den Blumen der
Jahreszeit geschmückt und daß seine Bestattung desto reicher und
prangender begangen werde, je plötzlicher und trauriger einer ums Leben
gekommen ist.
Der Älteste der Provinz, der als einer der ersten von den
Hilfebringenden in seinem Wagen erschienen war, fand sich bald so sehr
von Fragen, Bitten und Klagen bestürmt, daß er Mühe hatte, seine Ruhe
und Heiterkeit zu bewahren. Aber er hielt sein Herz in festen Händen,
seine Augen blieben hell und freundlich, seine Stimme klar und höflich,
und seine Lippen unter dem weißen Barte vergaßen nicht einen Augenblick
das stille und gütige Lächeln, das ihm als einem Weisen und Ratgeber
anstand.
„Meine Freunde,“ sagte er, „es ist ein Unglück über uns gekommen, mit
welchem die Götter uns prüfen wollen. Alles, was hier vernichtet ist,
werden wir unsern Brüdern bald wieder aufbauen und zurückgeben können,
und ich danke den Göttern, daß ich im hohen Alter dieses noch erleben
durfte, wie ihr alle gekommen seid und das Eure habet liegen lassen, um
unsern Brüdern zu helfen. Wo aber nehmen wir nun die Blumen her, um alle
diese Toten schön und anständig für das Fest ihrer Verwandlung zu
schmücken? Denn es darf, solange wir da sind und leben, nicht geschehen,
daß ein einziger von diesen müden Pilgern ohne sein richtiges
Blumenopfer begraben werde. Dies ist ja wohl auch eure Meinung.“
„Ja,“ riefen alle, „das ist auch unsere Meinung.“
„Ich weiß es,“ sagte der Älteste mit seiner väterlichen Stimme. „Ich
will nun sagen, was wir tun müssen, ihr Freunde. Wir müssen alle jene
Ermüdeten, welche wir heute nicht begraben können, in den großen
Sommertempel hoch ins Gebirge bringen, wo jetzt noch der Schnee liegt.
Dort sind sie sicher und werden sich nicht verändern, bis ihre Blumen
herbeigeschafft sind. Aber da ist nur einer, der uns zu so vielen Blumen
in dieser Jahreszeit helfen könnte. Das kann nur der König. Darum müssen
wir einen von uns zum König senden, daß er ihn um Hilfe bitte.“
Und wieder nickten alle und riefen: „Ja, ja, zum König!“
„So ist es,“ fuhr der Älteste fort, und unter dem weißen Bart sah
jedermann mit Freude sein schönes Lächeln glänzen. „Wen aber sollen wir
zum König schicken? Er muß jung und rüstig sein, denn der Weg ist weit,
und wir müssen ihm unser bestes Pferd mitgeben. Er muß aber auch hübsch
und guten Herzens sein und viel Glanz in den Augen haben, damit ihm das
Herz des Königs nicht widerstehen kann. Worte braucht er nicht viele zu
sagen, aber seine Augen müssen reden können. Am besten wäre es wohl, ein
Kind zu senden, das hübscheste Kind aus der Gemeinde, aber wie könnte
das eine solche Reise tun? Ihr müsset mir helfen, meine Freunde, und
wenn einer da ist, der die Botschaft auf sich nehmen will, oder wenn
jemand einen kennt und weiß, so bitte ich ihn, es zu sagen.“
Der Älteste schwieg und blickte mit seinen hellen Augen umher, es trat
aber niemand vor und keine Stimme meldete sich.
Als er seine Frage nochmals und zum drittenmal wiederholte, da kam ihm
aus der Menge ein Jüngling entgegen, sechzehn Jahre alt und beinahe noch
ein Knabe. Er schlug die Augen zu Boden und wurde rot, als er den
Ältesten begrüßte.
Der Älteste sah ihn an und sah im Augenblick, daß dieser der rechte Bote
sei. Aber er lächelte und sagte: „Das ist schön, daß du unser Bote sein
willst. Aber wie kommt es denn, daß unter all diesen vielen gerade du es
bist, der sich anbietet?“
Da hob der Jüngling seine Augen zu dem alten Manne auf und sagte: „Wenn
kein andrer da ist, der gehen will, so lasset mich gehen.“
Einer aus der Menge aber rief: „Schicket ihn, Ältester, wir kennen ihn.
Er stammt aus diesem Dorfe hier, und das Erdbeben hat seinen
Blumengarten verwüstet, es war der schönste Blumengarten in unserm Ort.“
Freundlich blickte der Alte dem Knaben in die Augen und fragte: „Tut es
dir so leid um deine Blumen?“
Der Jüngling gab ganz leise Antwort: „Es tut mir leid, aber nicht darum
habe ich mich gemeldet. Ich habe einen lieben Freund gehabt, und auch
ein junges schönes Lieblingspferd, die sind beide im Erdbeben
umgekommen, und sie liegen in unsrer Halle, und es müssen Blumen dasein,
damit sie begraben werden können.“
Der Älteste segnete ihn mit aufgelegten Händen, und alsbald wurde das
beste Pferd für ihn ausgesucht, und er sprang augenblicklich auf den
Rücken des Pferdes, klopfte ihm den Hals und nickte Abschied, dann
sprengte er aus dem Dorfe und quer über die nassen und verwüsteten
Felder hin von dannen.
Den ganzen Tag war der Jüngling geritten. Um schneller zu der fernen
Hauptstadt und zum König zu kommen, schlug er den Weg über das Gebirge
ein, und am Abend, als es zu dunkeln anfing, führte er sein Roß am Zügel
einen steilen Weg durch Wald und Felsen hinan.
Ein großer dunkler Vogel, wie er noch keinen gesehen hatte, flog ihm
voraus, und er folgte ihm, bis der Vogel sich auf dem Dache eines
kleinen offenen Tempels niederließ. Der Jüngling ließ sein Roß im
Waldgras stehen und trat zwischen den hölzernen Säulen in das einfache
Heiligtum. Als Opferstein fand er nur einen Felsblock aufgestellt, einen
Block aus schwarzem Gestein, wie man es in der Gegend nicht fand, und
darauf das seltene Sinnbild einer Gottheit, die der Bote nicht kannte:
ein Herz, an welchem ein wilder Vogel fraß.
Er bezeigte der Gottheit seine Ehrfurcht und brachte als Opfergabe eine
blaue Glockenblume dar, die er am Fuß des Berges gepflückt und in sein
Kleid gesteckt hatte. Alsdann legte er sich in einer Ecke nieder, denn
er war sehr müde und dachte zu schlafen.
Aber er konnte den Schlaf nicht finden, der sonst jeden Abend ungerufen
an seinem Lager stand. Die Glockenblume auf dem Felsen, oder der
schwarze Stein selbst, oder was es sonst war, strömte einen sonderbar
tiefen und schmerzlichen Duft aus, das unheimliche Sinnbild des Gottes
schimmerte geisterhaft in der finstern Halle, und auf dem Dache saß der
fremde Vogel und schlug von Zeit zu Zeit gewaltig mit seinen ungeheuren
Flügeln, daß es rauschte wie ein Sturm in den Bäumen.
So kam es, daß mitten in der Nacht sich der Jüngling erhob und aus dem
Tempel trat und zu dem Vogel emporschaute. Der schlug mit den Flügeln
und blickte den Jüngling an.
„Warum schläfst du nicht?“ fragte der Vogel.
„Ich weiß nicht,“ sagte der Jüngling. „Vielleicht, weil ich Leid
erfahren habe.“
„Was für Leid hast du denn erfahren?“
„Mein Freund und mein Lieblingsroß sind beide umgekommen.“
„Ist denn Sterben so schlimm?“ fragte der Vogel höhnend.
„Ach nein, großer Vogel, es ist nicht so schlimm, es ist nur ein
Abschied, aber nicht darüber bin ich traurig. Schlimm ist, daß wir
meinen Freund und mein schönes Pferd nicht begraben können, weil wir gar
keine Blumen mehr haben.“
„Es gibt Schlimmeres als dies,“ sagte der Vogel, und seine Flügel
rauschten unwillig.
„Nein, Vogel, Schlimmeres gibt es gewiß nicht. Wer ohne Blumenopfer
begraben wird, dem ist es verwehrt, nach seines Herzens Wunsche
wiedergeboren zu werden. Und wer seine Toten begräbt und feiert nicht
das Blumenfest dazu, der sieht die Schatten seiner Gestorbenen im Traum.
Du siehst, schon kann ich nicht mehr schlafen, weil meine Toten noch
ohne Blumen sind.“
Der Vogel schnarrte kreischend mit dem gebogenen Schnabel.
„Junger Knabe, du weißt nichts von Leid, wenn du sonst nichts erfahren
hast als dieses. Hast du denn nie von den großen Übeln reden hören? Vom
Haß, vom Mord, von der Eifersucht?“
Der Jüngling, da er diese Worte aussprechen hörte, glaubte zu träumen.
Dann besann er sich und sagte bescheiden: „Wohl, du Vogel, ich erinnere
mich; davon steht in den alten Geschichten und Märchen geschrieben. Aber
das ist ja außerhalb der Wirklichkeit, oder vielleicht war es einmal vor
langen Zeiten so auf der Welt, als es noch keine Blumen und noch keine
guten Götter gab. Wer wird daran denken!“
Der Vogel lachte leise mit seiner scharfen Stimme. Dann reckte er sich
höher und sagte zu dem Knaben: „Und nun willst du also zum König gehen,
und ich soll dir den Weg zeigen?“
„Oh, du weißt es schon,“ rief der Jüngling freudig. „Ja, wenn du mich
führen willst, so bitte ich dich darum.“
Da senkte sich der große Vogel lautlos auf den Boden nieder, breitete
seine Flügel lautlos auseinander und befahl dem Jüngling, sein Pferd
hier zurückzulassen und mit ihm zum König zu fahren.
Der Königsbote setzte sich und ritt auf dem Vogel. „Schließe die Augen!“
befahl der Vogel, und er tat es, und sie flogen durch die Finsternis des
Himmels lautlos und weich wie Eulenflug, nur die kalte Luft brauste an
des Boten Ohren. Und sie flogen und flogen die ganze Nacht.
Als es früh am Morgen war, da hielten sie still, und der Vogel rief: „Tu
deine Augen auf!“ Und der Jüngling tat seine Augen auf. Da sah er, daß
er am Rande eines Waldes stand, und unter ihm in der ersten Morgenhelle
die glänzende Ebene, daß ihr Licht ihn blendete.
„Hier am Walde findest du mich wieder,“ rief der Vogel. Er schoß in die
Höhe wie ein Pfeil und war alsbald im Blauen verschwunden.
* * * * *
Seltsam war es dem jungen Boten, als er vom Walde in die weite Ebene
hineinwanderte. Alles rings um ihn her war so verändert und verwandelt,
daß er nicht wußte, ob er wach oder im Traume sei. Wiesen und Bäume
standen ähnlich wie daheim, und Sonne schien, und Wind spielte in
blühenden Gräsern, aber nicht Mensch noch Tier, nicht Haus noch Garten
war zu sehen, sondern es schien hier gerade wie in des Jünglings Heimat
ein Erdbeben gewütet zu haben; denn Trümmer von Gebäuden, zerbrochene
Äste und umgerissene Bäume, zerstörte Zäune und verlorene Werkzeuge der
Arbeit lagen am Boden verstreut, und plötzlich sah er da, mitten im
Felde, einen toten Menschen liegen, der war nicht bestattet worden und
lag grauenhaft in halber Verwesung. Der Jüngling fühlte bei diesem
Anblick ein tiefes Grauen und einen Hauch von Ekel in sich aufsteigen,
denn nie hatte er so etwas gesehen. Dem Toten war nicht einmal das
Gesicht bedeckt, es schien von den Vögeln und von der Fäulnis schon halb
zerstört, und der Jüngling brach mit abgewandten Blicken grüne Blätter
und einige Blumen und deckte damit das Antlitz des Toten zu.
Ein namenlos scheußlicher und herzbeklemmender Geruch lag lau und zäh
über der ganzen Ebene. Wieder lag ein Toter im Grase, von Rabenflug
umkreist, und ein Pferd ohne Kopf, und Knochen von Menschen oder Tieren,
und alle lagen verlassen in der Sonne, niemand schien an Blumenfest und
Bestattung zu denken. Der Jüngling fürchtete, es möchte am Ende ein
unausdenkliches Unglück alle und jeden Menschen in diesem Lande getötet
haben, und es waren der Toten so manche, daß er aufhören mußte, ihnen
Blumen zu brechen und das Gesicht zu bedecken. Ängstlich, mit halb
geschlossenen Augen wanderte er weiter, und von allen Seiten strömte
Aasgestank und Blutgeruch, und von tausend Trümmerstätten und
Leichenstätten her flutete eine immer mächtigere Woge von unsäglichem
Jammer und Leid. Der Bote meinte in einem argen Traume befangen zu sein
und fühlte darin eine Mahnung der Himmlischen, weil seine Toten noch
ohne Blumenfest und ohne Begräbnis waren. Da kam ihm wieder in den Sinn,
was heute nacht der dunkle Vogel auf dem Dach des Tempels gesprochen
hatte, und er meinte wieder seine scharfe Stimme zu hören, wie er sagte:
„Es gibt viel Schlimmeres.“
Nun erkannte er, daß der Vogel ihn auf einen andern Stern gebracht habe
und daß alles das, was seine Augen sahen, Wirklichkeit und Wahrheit sei.
Er erinnerte sich an das Gefühl, mit dem er einigemal als Knabe
schaurige Märchen aus der Urzeit hatte erzählen hören. Dieses nämliche
Gefühl empfand er jetzt wieder: ein fröstelndes Grausen, und hinter dem
Grausen einen stillen frohen Trost im Herzen, denn dies alles war ja
unendlich fern und lang vergangen. Alles war hier wie ein Gruselmärchen,
diese ganze seltsame Welt der Greuel und Leichen und Aasvögel schien
ohne Sinn und ohne Zucht unverständlichen Regeln untertan, tollen
Regeln, nach welchen immer das Schlechte, das Törichte, das Häßliche
geschah statt des Schönen und Guten.
Indessen sah er nun einen lebendigen Menschen über das Feld gehen, einen
Bauern oder Knecht, und er lief schnell zu ihm hinüber und rief ihn an.
Als er ihn in der Nähe sah, erschrak der Jüngling, und sein Herz wurde
von Mitleid überfallen, denn dieser Bauer sah furchtbar häßlich und kaum
mehr wie ein Kind der Sonne aus. Er sah aus wie ein Mensch, der daran
gewöhnt wäre, nur an sich selbst zu denken, der daran gewöhnt wäre, daß
überall stets das Falsche, das Häßliche und Schlimme geschah, wie ein
Mensch, der immerfort in grauenvollen Angstträumen lebte. In seinen
Augen und in seinem ganzen Gesicht und Wesen war nichts von Heiterkeit
oder Güte, nichts von Dankbarkeit und Vertrauen, jede einfachste und
selbstverständliche Tugend schien diesem Unglücklichen zu mangeln.
Aber der Jüngling nahm sich zusammen, er näherte sich dem Menschen mit
großer Freundlichkeit, als einem vom Unglück Gezeichneten, grüßte ihn
brüderlich und redete ihn mit Lächeln an. Der Häßliche stand wie
erstarrt und blickte verwundert aus großen, trüben Augen. Seine Stimme
war roh und ohne Musik wie das Gebrüll niederer Wesen; aber es war ihm
doch nicht möglich, der Heiterkeit und dem demütigen Vertrauen in des
Jünglings Blick zu widerstehen. Und als er eine Weile auf den Fremdling
gestarrt hatte, brach aus seinem zerklüfteten und rohen Gesicht eine Art
von Lächeln oder Grinsen – häßlich genug, aber sanft und erstaunt, wie
das erste kleine Lächeln einer wiedergeborenen Seele, die soeben aus dem
untersten Bezirk der Erde gekommen wäre.
„Was willst du von mir?“ fragte der Mensch den fremden Jüngling.
Nach der heimatlichen Sitte gab der Jüngling Antwort: „Ich danke dir,
Freund, und ich bitte dich, mir zu sagen, ob ich dir einen Dienst
erweisen kann.“
Als der Bauer schwieg und staunte und verlegen lächelte, fragte ihn der
Bote: „Sag’ mir, Freund, was ist das hier, dieses Entsetzliche und
Furchtbare?“ und wies mit der Hand ringsum.
Der Bauer bemühte sich, ihn zu verstehen, und als der Bote seine Frage
wiederholt hatte, sagte er: „Hast du das nie gesehen? Das ist der Krieg.
Das ist ein Schlachtfeld.“ Er zeigte auf einen schwarzen Trümmerhaufen
und rief: „Das da war mein Haus,“ und als der Fremde ihm voll herzlicher
Teilnahme in die unreinen Augen blickte, schlug er sie nieder und sah zu
Boden.
„Habt ihr keinen König?“ fragte nun der Jüngling weiter, und als der
Bauer bejahte, fragte er: „Wo ist er denn?“ Der Mensch wies mit der Hand
hinüber, wo ganz in der Weite ein Zeltlager klein und fern zu sehen war.
Da nahm der Bote Abschied, indem er seine Hand auf des Menschen Stirn
legte, und ging weiter. Der Bauer aber befühlte seine Stirn mit beiden
Händen, schüttelte bekümmert den schweren Kopf und stand noch lange Zeit
und starrte dem Fremden nach.
Der lief und lief über Schutt und Greuel hinweg, bis er an dem Zeltlager
angekommen war. Da standen und liefen bewaffnete Männer überall, niemand
wollte ihn sehen, und er ging zwischen den Menschen und Zelten hindurch,
bis er das größte und schönste Zelt des Lagers fand, welches das Zelt
des Königs war. Da ging er hinein.
Im Zelte saß auf einem einfachen niedern Lager der König, sein Mantel
lag neben ihm, und hinten im tieferen Schatten hockte ein Diener, der
war eingeschlafen. Der König saß gebeugt in tiefen Gedanken. Sein
Gesicht war schön und traurig, ein Büschel grauen Haares hing über seine
gebräunte Stirn, sein Schwert lag vor ihm am Boden.
Der Jüngling grüßte stumm in tiefer Ehrerbietung, wie er seinen eignen
König begrüßt hätte, und er blieb wartend mit auf der Brust gekreuzten
Armen stehen, bis der König ihn erblickte.
„Wer bist du?“ fragte er streng und zog die dunklen Brauen zusammen,
aber sein Blick blieb an den reinen und heitern Zügen des Fremden
hängen, und der Jüngling blickte ihn so vertrauensvoll und freundlich
an, daß des Königs Stimme milder wurde.
„Ich habe dich schon einmal gesehen,“ sagte er nachsinnend, „oder du
gleichst jemand, den ich in meiner Kindheit kannte.“
„Ich bin ein Fremder,“ sagte der Bote.
„Dann ist es ein Traum gewesen,“ sagte leise der König. „Du erinnerst
mich an meine Mutter. Sprich zu mir. Erzähle mir.“
Der Jüngling begann: „Ein Vogel hat mich hergebracht. In meinem Lande
war ein Erdbeben, da wollten wir unsre Toten bestatten, und keine Blumen
waren da.“
„Keine Blumen?“ sagte der König.
„Nein, gar keine Blumen mehr. Und nicht wahr, es ist doch schlimm, wenn
man einen Toten bestatten soll und kann ihm kein Blumenfest feiern; denn
er soll doch in Pracht und Freuden zu seiner Verwandlung eingehen.“
Da fiel dem Boten plötzlich ein, wie viele noch nicht bestattete Tote
draußen auf dem schrecklichen Felde lagen, und er hielt inne, und der
König sah ihn an und nickte und seufzte schwer.
„Ich wollte zu unserm König gehen und ihn um viele Blumen bitten,“ fuhr
der Bote fort, „aber als ich im Tempel auf dem Gebirge war, da kam der
große Vogel und sagte, er wolle mich zum König bringen, und er brachte
mich durch die Lüfte zu dir. O lieber König, es war der Tempel einer
unbekannten Gottheit, auf dessen Dach der Vogel saß, und ein höchst
seltsames Sinnbild hatte dieser Gott auf seinem Steine stehen: ein Herz,
und an dem Herzen fraß ein wilder Vogel. Mit jenem großen Vogel aber
hatte ich in der Nacht ein Gespräch, und erst jetzt kann ich seine Worte
verstehen, denn er sagte, es gebe viel, viel mehr Leid und Schlimmes in
der Welt, als ich wüßte. Und nun bin ich hier und bin über das große
Feld her gekommen und habe in diesen Stunden unendliches Leid und
Unglück gesehen, ach, viel mehr, als in unseren grausigsten Märchen
steht. Da bin ich zu dir gekommen, o König, und ich möchte dich fragen,
ob ich dir irgendeinen Dienst erweisen kann.“
Der König, welcher aufmerksam zugehört hatte, versuchte zu lächeln, aber
sein schönes Gesicht war so ernst und so bitter traurig, daß er nicht
lächeln konnte.
„Ich danke dir,“ sagte er, „du kannst mir keinen Dienst erweisen. Du
hast mich an meine Mutter erinnert, dafür danke ich dir.“
Der Jüngling war betrübt darüber, daß der König nicht lächeln konnte.
„Du bist so traurig,“ sagte er zu ihm, „ist das wegen dieses Krieges?“
„Ja,“ sagte der König.
Der Jüngling konnte sich nicht enthalten, diesem tief bedrückten und
doch, wie er spürte, edlen Menschen gegenüber eine Regel der Höflichkeit
zu verletzen, indem er ihn fragte: „Aber sage mir, ich bitte darum,
warum ihr denn auf eurem Sterne solche Kriege führt? Wer hat denn schuld
daran? Hast du selbst eine Schuld daran?“
Der König starrte lange auf den Boten, er schien über die Dreistigkeit
seiner Frage unwillig. Doch vermochte er nicht, seinen finstern Blick
lange in dem hellen und arglosen Blick des Fremden zu spiegeln.
„Du bist ein Kind,“ sagte der König, „und das sind Dinge, die du nicht
verstehen könntest. Der Krieg ist niemandes Schuld, er kommt von selber
You have read 1 text from German literature.
Next - Märchen - 4
  • Parts
  • Märchen - 1
    Total number of words is 4649
    Total number of unique words is 1344
    46.1 of words are in the 2000 most common words
    60.7 of words are in the 5000 most common words
    65.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 2
    Total number of words is 4680
    Total number of unique words is 1439
    44.3 of words are in the 2000 most common words
    58.7 of words are in the 5000 most common words
    64.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 3
    Total number of words is 4629
    Total number of unique words is 1436
    45.7 of words are in the 2000 most common words
    60.4 of words are in the 5000 most common words
    66.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 4
    Total number of words is 4574
    Total number of unique words is 1560
    43.3 of words are in the 2000 most common words
    56.7 of words are in the 5000 most common words
    62.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 5
    Total number of words is 4480
    Total number of unique words is 1673
    36.6 of words are in the 2000 most common words
    50.0 of words are in the 5000 most common words
    55.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 6
    Total number of words is 4580
    Total number of unique words is 1537
    38.5 of words are in the 2000 most common words
    52.6 of words are in the 5000 most common words
    58.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 7
    Total number of words is 4629
    Total number of unique words is 1484
    42.8 of words are in the 2000 most common words
    57.4 of words are in the 5000 most common words
    62.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 8
    Total number of words is 2323
    Total number of unique words is 835
    52.6 of words are in the 2000 most common words
    66.7 of words are in the 5000 most common words
    70.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.