Märchen - 1

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Hermann Hesse
Gesammelte Werke


Märchen

von
Hermann Hesse

S. Fischer / Verlag / Berlin

25. bis 28. Anklage
Alle Rechte vorbehalten, besonders das der Übersetzung
Copyright 1919 by S. Fischer Verlag A.-G., Berlin


Inhalt

Augustus 9
Der Dichter 43
Merkwürdige Nachricht von einem andern Stern 54
Der schwere Weg 80
Eine Traumfolge 89
Faldum 108
Iris 138


Augustus

Emil und Bertha Molt gewidmet
In der Mostackerstraße wohnte eine junge Frau, die hatte durch ein
Unglück bald nach der Hochzeit ihren Mann verloren, und jetzt saß sie
arm und verlassen in ihrer kleinen Stube und wartete auf ihr Kind, das
keinen Vater haben sollte. Und weil sie so ganz allein war, so
verweilten immer alle ihre Gedanken bei dem erwarteten Kinde, und es gab
nichts Schönes und Herrliches und Beneidenswertes, das sie nicht für
dieses Kind ausgedacht und gewünscht und geträumt hätte. Ein steinernes
Haus mit Spiegelscheiben und einem Springbrunnen im Garten schien ihr
für den Kleinen gerade gut genug, und was seine Zukunft anging, so mußte
er mindestens ein Professor oder König werden.
Neben der armen Frau Elisabeth wohnte ein alter Mann, den man nur selten
ausgehen sah, und dann war er ein kleines, graues Kerlchen mit einer
Trottelmütze und einem grünen Regenschirm, dessen Stangen noch aus
Fischbein gemacht waren wie in der alten Zeit. Die Kinder hatten Angst
vor ihm, und die Großen meinten, er werde schon Gründe haben, sich so
sehr zurückzuziehen. Oft wurde er lange Zeit von niemand gesehen, aber
am Abend hörte man zuweilen aus seinem kleinen, baufälligen Hause eine
feine Musik wie von sehr vielen kleinen, zarten Instrumenten erklingen.
Dann fragten Kinder, wenn sie dort vorübergingen, ihre Mütter, ob da
drinnen die Engel oder vielleicht die Nixen sängen, aber die Mütter
wußten nichts davon und sagten: „Nein, nein, das muß eine Spieldose
sein.“
Dieser kleine Mann, welcher von den Nachbarn als Herr Binßwanger
angeredet wurde, hatte mit der Frau Elisabeth eine sonderbare Art von
Freundschaft. Sie sprachen nämlich nie miteinander, aber der kleine,
alte Herr Binßwanger grüßte jedesmal auf das freundlichste, wenn er am
Fenster seiner Nachbarin vorüberkam, und sie nickte ihm wieder dankbar
zu und hatte ihn gern, und beide dachten: Wenn es mir einmal ganz elend
gehen sollte, dann will ich gewiß im Nachbarhaus um Rat vorsprechen. Und
wenn es dunkel zu werden anfing und die Frau Elisabeth allein an ihrem
Fenster saß und um ihren toten Liebsten trauerte oder an ihr kleines
Kindlein dachte und ins Träumen geriet, dann machte der Herr Binßwanger
leise einen Fensterflügel auf, und aus seiner dunkeln Stube kam leis und
silbern eine tröstliche Musik geflossen wie Mondlicht aus einem
Wolkenspalt. Hinwieder hatte der Nachbar an seinem hintern Fenster
einige alte Geranienstöcke stehen, die er immer zu gießen vergaß und
welche doch immer grün und voll Blumen waren und nie ein welkes Blatt
zeigten, weil sie jeden Tag in aller Frühe von Frau Elisabeth begossen
und gepflegt wurden.
Als es nun gegen den Herbst ging und einmal ein rauher, windiger
Regenabend und kein Mensch in der Mostackerstraße zu sehen war, da
merkte die arme Frau, daß ihre Stunde gekommen sei, und es wurde ihr
angst, weil sie ganz allein war. Beim Einbruch der Nacht aber kam eine
alte Frau mit einer Handlaterne gegangen, trat in das Haus und kochte
Wasser und legte Leinwand zurecht und tat alles, was getan werden muß,
wenn ein Kind zur Welt kommen soll. Frau Elisabeth ließ alles still
geschehen, und erst als das Kindlein da war und in neuen feinen Windeln
seinen ersten Erdenschlaf zu schlummern begann, fragte sie die alte
Frau, woher sie denn käme.
„Der Herr Binßwanger hat mich geschickt,“ sagte die Alte, und darüber
schlief die müde Frau ein, und als sie am Morgen wieder erwachte, da war
Milch für sie gekocht und stand bereit, und alles in der Stube war
sauber aufgeräumt, und neben ihr lag der kleine Sohn und schrie, weil er
Hunger hatte; aber die alte Frau war fort. Die Mutter nahm ihren Kleinen
an die Brust und freute sich, daß er so hübsch und kräftig war. Sie
dachte an seinen toten Vater, der ihn nicht mehr hatte sehen können, und
bekam Tränen in die Augen, und sie herzte das kleine Waisenkind und
mußte wieder lächeln, und darüber schlief sie samt dem Büblein wieder
ein, und als sie aufwachte, war wieder Milch und eine Suppe gekocht und
das Kind in neue Windeln gebunden.
Bald aber war die Mutter wieder gesund und stark und konnte für sich und
den kleinen Augustus selber sorgen, und da kam ihr der Gedanke, daß nun
der Sohn getauft werden müsse und daß sie keinen Paten für ihn habe. Da
ging sie gegen Abend, als es dämmerte und aus dem Nachbarhäuschen wieder
die süße Musik klang, zu dem Herrn Binßwanger hinüber. Sie klopfte
schüchtern an die dunkle Türe, da rief er freundlich „Herein!“ und kam
ihr entgegen, die Musik aber war plötzlich zu Ende, und im Zimmer stand
eine kleine alte Tischlampe vor einem Buch, und alles war wie bei andern
Leuten.
„Ich bin zu Euch gekommen,“ sagte Frau Elisabeth, „um Euch zu danken,
weil Ihr mir die gute Frau geschickt habet. Ich will sie auch gerne
bezahlen, wenn ich nur erst wieder arbeiten und etwas verdienen kann.
Aber jetzt habe ich eine andere Sorge. Der Bub muß getauft werden und
soll Augustus heißen, wie sein Vater geheißen hat; aber ich kenne
niemand und weiß keinen Paten für ihn.“
„Ja, das habe ich auch gedacht,“ sagte der Nachbar und strich an seinem
grauen Bart herunter. „Es wäre schon gut, wenn er einen guten und
reichen Paten bekäme, der für ihn sorgen kann, wenn es Euch einmal
schlecht gehen sollte. Aber ich bin auch nur ein alter, einsamer Mann
und habe wenig Freunde, darum kann ich Euch niemand raten, wenn Ihr
nicht etwa mich selber zum Paten nehmen wollet.“
Darüber war die arme Mutter froh und dankte dem kleinen Mann und nahm
ihn zum Paten. Am nächsten Sonntag trugen sie den Kleinen in die Kirche
und ließen ihn taufen, und dabei erschien auch die alte Frau wieder und
schenkte ihm einen Taler, und als die Mutter das nicht annehmen wollte,
da sagte die alte Frau: „Nehmet nur, ich bin alt und habe, was ich
brauche. Vielleicht bringt ihm der Taler Glück. Dem Herrn Binßwanger
habe ich gern einmal einen Gefallen getan, wir sind alte Freunde.“
Da gingen sie miteinander heim, und Frau Elisabeth kochte für ihre Gäste
Kaffee, und der Nachbar hatte einen Kuchen mitgebracht, daß es ein
richtiger Taufschmaus wurde. Als sie aber getrunken und gegessen hatten
und das Kindlein längst eingeschlafen war, da sagte Herr Binßwanger
bescheiden: „Jetzt bin ich also der Pate des kleinen Augustus und möchte
ihm gern ein Königsschloß und einen Sack voll Goldstücke schenken, aber
das habe ich nicht, ich kann ihm nur einen Taler neben den der Frau
Gevatterin legen. Indessen, was ich für ihn tun kann, das soll
geschehen. Frau Elisabeth, Ihr habt Eurem Buben gewiß schon viel Schönes
und Gutes gewünscht. Besinnt Euch jetzt, was Euch das Beste für ihn zu
sein scheint, so will ich dafür sorgen, daß es wahr werde. Ihr habet
einen Wunsch für Euren Jungen frei, welchen Ihr wollet, aber nur einen,
überlegt Euch den wohl, und wenn Ihr heut abend meine kleine Spieldose
spielen höret, dann müßt Ihr den Wunsch Eurem Kleinen ins linke Ohr
sagen, so wird er in Erfüllung gehen.“
Damit nahm er schnell Abschied, und die Gevatterin ging mit ihm weg, und
Frau Elisabeth blieb allein und ganz verwundert zurück, und wenn die
beiden Taler nicht in der Wiege gelegen und der Kuchen auf dem Tisch
gestanden wäre, so hätte sie alles für einen Traum gehalten. Da setzte
sie sich neben die Wiege und wiegte ihr Kind und sann und dachte sich
schöne Wünsche aus. Zuerst wollte sie ihn reich werden lassen oder
schön, oder gewaltig stark, oder gescheit und klug, aber überall war ein
Bedenken dabei, und schließlich dachte sie: Ach, es ist ja doch nur ein
Scherz von dem alten Männlein gewesen.
Es war schon dunkel geworden, und sie wäre beinahe sitzend bei der Wiege
eingeschlafen, müde von der Bewirtung und von den Sorgen und den vielen
Wünschen, da klang vom Nachbarhause herüber eine feine, sanfte Musik, so
zart und köstlich, wie sie noch von keiner Spieldose gehört worden ist.
Bei diesem Klang besann sich Frau Elisabeth und kam zu sich, und jetzt
glaubte sie wieder an den Nachbar Binßwanger und sein Patengeschenk, und
je mehr sie sich besann und je mehr sie wünschen wollte, desto mehr
geriet ihr alles in den Gedanken durcheinander, daß sie sich für nichts
entscheiden konnte. Sie wurde ganz bekümmert und hatte Tränen in den
Augen, da klang die Musik leiser und schwächer, und sie dachte, wenn sie
jetzt im Augenblick ihren Wunsch nicht täte, so wäre es zu spät und
alles verloren.
Da seufzte sie auf und bog sich zu ihrem Knaben hinunter und flüsterte
ihm ins linke Ohr: „Mein Söhnlein, ich wünsche dir – ich wünsche dir –,“
und als die schöne Musik schon ganz am Verklingen war, erschrak sie und
sagte schnell: „Ich wünsche dir, daß alle Menschen dich liebhaben
müssen.“
Die Töne waren jetzt verklungen, und es war totenstill in dem dunklen
Zimmer. Sie aber warf sich über die Wiege und weinte und war voll Angst
und Bangigkeit und rief: „Ach, nun habe ich dir das Beste gewünscht, was
ich weiß, und doch ist es vielleicht nicht das Richtige gewesen. Und
wenn auch alle, alle Menschen dich liebhaben werden, so kann doch
niemand mehr dich so liebhaben wie deine Mutter.“
Augustus wuchs nun heran wie andre Kinder, er war ein hübscher, blonder
Knabe mit hellen, mutigen Augen, den die Mutter verwöhnte und der
überall wohlgelitten war. Frau Elisabeth merkte schon bald, daß ihr
Tauftagswunsch sich an dem Kind erfülle, denn kaum war der Kleine so
alt, daß er gehen konnte und auf die Gasse und zu andern Leuten kam, so
fand ihn jedermann so hübsch und keck und klug wie selten ein Kind, und
jedermann gab ihm die Hand, sah ihm in die Augen und zeigte ihm seine
Gunst. Junge Mütter lächelten ihm zu, und alte Weiblein schenkten ihm
Äpfel, und wenn er irgendwo eine Unart verübte, glaubte niemand, daß er
es gewesen sei, oder wenn es nicht zu leugnen war, zuckte man die
Achseln und sagte: „Man kann dem netten Kerlchen wahrhaftig nichts
übelnehmen.“
Es kamen Leute, die auf den schönen Knaben aufmerksam geworden waren, zu
seiner Mutter, und sie, die niemand gekannt und früher nur wenig
Näharbeit ins Haus bekommen hatte, wurde jetzt als die Mutter des
Augustus wohlbekannt und hatte mehr Gönner, als sie sich je gewünscht
hätte. Es ging ihr gut und dem Jungen auch, und wohin sie miteinander
kamen, da freute sich die Nachbarschaft, grüßte und sah den Glücklichen
nach.
Das Schönste hatte Augustus nebenan bei seinem Paten: der rief ihn
zuweilen am Abend in sein Häuschen, da war es dunkel, und nur im
schwarzen Kaminloch brannte eine kleine, rote Flamme, und der kleine,
alte Mann zog das Kind zu sich auf ein Fell am Boden und sah mit ihm in
die stille Flamme und erzählte ihm lange Geschichten. Aber manchmal,
wenn so eine lange Geschichte zu Ende und der Kleine ganz schläfrig
geworden war und in der dunklen Stille mit halboffenen Augen nach dem
Feuer schaute, dann kam aus der Dunkelheit eine süße, vielstimmige Musik
hervorgeklungen, und wenn die beiden ihr lange und verschwiegen zugehört
hatten, dann geschah es oft, daß unversehens die ganze Stube voll
kleiner glänzender Kinder war, die flogen mit hellen, goldenen Flügeln
in Kreisen hin und wieder und wie in schönen Tänzen kunstvoll umeinander
und in Paaren, und dazu sangen sie, und es klang hundertfach voll Freude
und heiterer Schönheit zusammen. Das war das Schönste, was Augustus je
gehört und gesehen hatte, und wenn er später an seine Kindheit dachte,
so war es die stille, finstere Stube des alten Paten und die rote Flamme
im Kamin mit der Musik und mit dem festlichen, goldenen Zauberflug der
Engelwesen, die ihm in der Erinnerung wieder emporstieg und Heimweh
machte.
Indessen wurde der Knabe größer, und jetzt gab es für seine Mutter
zuweilen Stunden, wo sie traurig war und an jene Taufnacht zurückdenken
mußte. Augustus lief fröhlich in den Nachbargassen umher und war überall
willkommen, er bekam Nüsse und Birnen, Kuchen und Spielsachen geschenkt,
man gab ihm zu essen und zu trinken, ließ ihn auf dem Knie reiten und in
den Gärten Blumen pflücken, und oft kam er erst spät am Abend wieder
heim und schob die Suppe der Mutter widerwillig beiseite. Wenn sie dann
betrübt war und weinte, fand er es langweilig und ging mürrisch in sein
Bettlein; und wenn sie ihn einmal schalt und strafte, schrie er heftig
und beklagte sich, daß alle Leute lieb und nett mit ihm seien, bloß
seine Mutter nicht. Da hatte sie oft betrübte Stunden, und manchmal
erzürnte sie sich ernstlich über ihren Jungen, aber wenn er nachher
schlafend in seinen Kissen lag und auf dem unschuldigen Kindergesicht
ihr Kerzenlicht schimmerte, dann verging alle Härte in ihrem Herzen, und
sie küßte ihn vorsichtig, daß er nicht erwache. Es war ihre eigene
Schuld, daß alle Leute den Augustus gern hatten, und sie dachte manchmal
mit Trauer und beinahe mit einem Schrecken, daß es vielleicht besser
gewesen wäre, sie hätte jenen Wunsch niemals getan.
Einmal stand sie gerade beim Geranienfenster des Herrn Binßwanger und
schnitt mit einer kleinen Schere die verwelkten Blumen aus den Stöcken,
da hörte sie in dem Hof, der hinter den beiden Häusern war, die Stimme
ihres Jungen, und sie bog sich vor, um hinüberzusehen. Sie sah ihn an
der Mauer lehnen, mit seinem hübschen und ein wenig stolzen Gesicht, und
vor ihm stand ein Mädchen, größer als er, das sah ihn bittend an und
sagte: „Gelt, du bist lieb und gibst mir einen Kuß?“
„Ich mag nicht,“ sagte Augustus und steckte die Hände in die Taschen.
„O doch, bitte,“ sagte sie wieder. „Ich will dir ja auch etwas Schönes
schenken.“
„Was denn?“ fragte der Junge.
„Ich habe zwei Äpfel,“ sagte sie schüchtern.
Aber er drehte sich um und schnitt eine Grimasse.
„Äpfel mag ich keine,“ sagte er verächtlich und wollte weglaufen.
Das Mädchen hielt ihn aber fest und sagte schmeichelnd: „Du, ich habe
auch einen schönen Fingerring.“
„Zeig’ ihn her!“ sagte Augustus.
Sie zeigte ihm ihren Fingerring her, und er sah ihn genau an, dann zog
er ihn von ihrem Finger und tat ihn auf seinen eigenen, hielt ihn ans
Licht und fand Gefallen daran.
„Also, dann kannst du ja einen Kuß haben,“ sagte er obenhin und gab dem
Mädchen einen flüchtigen Kuß auf den Mund.
„Willst du jetzt mit mir spielen kommen?“ fragte sie zutraulich und hing
sich an seinen Arm.
Aber er stieß sie weg und rief heftig: „Laß mich jetzt doch endlich in
Ruhe! Ich habe andre Kinder, mit denen ich spielen kann.“
Während das Mädchen zu weinen begann und vom Hofe schlich, schnitt er
ein gelangweiltes und ärgerliches Gesicht; dann drehte er seinen Ring um
den Finger und beschaute ihn, und dann fing er an zu pfeifen und ging
langsam davon.
Seine Mutter aber stand mit der Blumenschere in der Hand und war
erschrocken über die Härte und Verächtlichkeit, mit welcher ihr Kind die
Liebe der andern hinnahm. Sie ließ die Blumen stehen und stand
kopfschüttelnd und sagte immer wieder vor sich hin: „Er ist ja böse, er
hat ja gar kein Herz.“
Aber bald darauf, als Augustus heimkam und sie ihn zur Rede stellte, da
schaute er sie lachend aus blauen Augen an und hatte kein Gefühl einer
Schuld, und dann fing er an zu singen und ihr zu schmeicheln und war so
drollig und nett und zärtlich mit ihr, daß sie lachen mußte und wohl
sah, man dürfe bei Kindern nicht alles gleich so ernst nehmen.
Indessen gingen dem Jungen seine Übeltaten nicht ohne alle Strafe hin.
Der Pate Binßwanger war der einzige, vor dem er Ehrfurcht hatte, und
wenn er am Abend zu ihm in die Stube kam und der Pate sagte: „Heute
brennt kein Feuer im Kamin, und es gibt keine Musik, die kleinen
Engelkinder sind traurig, weil du so böse warst,“ dann ging er
schweigend hinaus und heim und warf sich auf sein Bett und weinte, und
nachher gab er sich manchen Tag lang alle Mühe, gut und lieb zu sein.
Jedoch das Feuer im Kamin brannte seltener und seltener, und der Pate
war nicht mit Tränen und nicht mit Liebkosungen zu bestechen. Als
Augustus zwölf Jahre alt war, da war ihm der zauberische Engelflug in
der Patenstube schon ein ferner Traum geworden, und wenn er ihn einmal
in der Nacht geträumt hatte, dann war er am nächsten Tage doppelt wild
und laut und kommandierte seine vielen Kameraden als Feldherr über alle
Hecken weg.
Seine Mutter war es längst müde, von allen Leuten das Lob ihres Knaben
zu hören und wie fein und herzig er sei, sie hatte nur noch Sorgen um
ihn. Und als eines Tages sein Lehrer zu ihr kam und ihr erzählte, er
wisse jemand, der erbötig sei, den Knaben in fremde Schulen zu schicken
und studieren zu lassen, da hatte sie eine Besprechung mit dem Nachbar,
und bald darauf, an einem Frühlingsmorgen, kam ein Wagen gefahren, und
Augustus in einem neuen, schönen Kleide stieg hinein und sagte seiner
Mutter und dem Paten und den Nachbarsleuten Lebewohl, weil er in die
Hauptstadt reisen und studieren durfte. Seine Mutter hatte ihm zum
letzten Male die blonden Haare schön gescheitelt und den Segen über ihn
gesprochen, und nun zogen die Pferde an, und Augustus reiste in die
fremde Welt.
Nach manchen Jahren, als der junge Augustus ein Student geworden war und
rote Mützen und einen Schnurrbart trug, da kam er einmal wieder in seine
Heimat gefahren, weil der Pate ihm geschrieben hatte, seine Mutter sei
so krank, daß sie nicht mehr lange leben könne. Der Jüngling kam am
Abend an, und die Leute sahen mit Bewunderung zu, wie er aus dem Wagen
stieg und wie der Kutscher ihm einen großen ledernen Koffer in das
Häuschen nachtrug. Die Mutter aber lag sterbend in dem alten, niederen
Zimmer, und als der schöne Student in weißen Kissen ein weißes, welkes
Gesicht liegen sah, das ihn nur noch mit stillen Augen begrüßen konnte,
da sank er weinend an der Bettstatt nieder und küßte seiner Mutter kühle
Hände und kniete bei ihr die ganze Nacht, bis die Hände kalt und die
Augen erloschen waren.
Und als sie die Mutter begraben hatten, da nahm ihn der Pate Binßwanger
am Arm und ging mit ihm in sein Häuschen, das schien dem jungen Menschen
noch niedriger und dunkler geworden, und als sie lange beisammen
gesessen waren und nur die kleinen Fenster noch schwach in der
Dunkelheit schimmerten, da strich der kleine alte Mann mit hageren
Fingern über seinen grauen Bart und sagte zu Augustus: „Ich will ein
Feuer im Kamin anmachen, dann brauchen wir die Lampe nicht. Ich weiß, du
mußt morgen wieder davonreisen, und jetzt, wo deine Mutter tot ist, wird
man dich ja so bald nicht wiedersehen.“
Indem er das sagte, zündete er ein kleines Feuer im Kamin an und rückte
seinen Sessel näher hinzu, und der Student den seinen, und dann saßen
sie wieder eine lange Weile und blickten auf die verglühenden Scheiter,
bis die Funken spärlicher flogen, und da sagte der Alte sanft: „Lebe
wohl, Augustus, ich wünsche dir Gutes. Du hast eine brave Mutter gehabt,
und sie hat mehr an dir getan, als du weißt. Gern hätte ich dir noch
einmal Musik gemacht und die kleinen Seligen gezeigt, aber du weißt, das
geht nicht mehr. Indessen sollst du sie nicht vergessen und sollst
wissen, daß sie noch immer singen und daß auch du sie vielleicht einmal
wieder hören kannst, wenn du einst mit einem einsamen und sehnsüchtigen
Herzen nach ihnen verlangst. Gib mir jetzt die Hand, mein Junge, ich bin
alt und muß schlafen gehen.“
Augustus gab ihm die Hand und konnte nichts sagen, er ging traurig in
das verödete Häuschen hinüber und legte sich zum letzten Male in der
alten Heimat schlafen, und ehe er einschlief, meinte er von drüben ganz
fern und leise die süße Musik seiner Kindheit wieder zu hören. Am
nächsten Morgen ging er davon, und man hörte lange nichts mehr von ihm.
Bald vergaß er auch den Paten Binßwanger und seine Engel. Das reiche
Leben schwoll rings um ihn, und er fuhr auf seinen Wellen mit. Niemand
konnte so wie er durch schallende Gassen reiten und die aufschauenden
Mädchen mit spöttischen Blicken grüßen, niemand verstand so leicht und
hinreißend zu tanzen, so flott und fein im Wagen zu kutschieren, so laut
und prangend eine Sommernacht im Garten zu verzechen. Die reiche Witwe,
deren Geliebter er war, gab ihm Geld und Kleider und Pferde und alles,
was er brauchte und haben wollte, mit ihr reiste er nach Paris und nach
Rom und schlief in ihrem seidenen Bett, seine Liebe aber war eine
sanfte, blonde Bürgerstochter, die er nachts mit Gefahr in ihres Vaters
Garten besuchte und die ihm lange, heiße Briefe schrieb, wenn er auf
Reisen war.
Aber einmal kam er nicht wieder. Er hatte Freunde in Paris gefunden, und
weil die reiche Geliebte ihm langweilig geworden und das Studium ihm
längst verdrießlich war, blieb er im fernen Land und lebte wie die große
Welt, hielt Pferde, Hunde, Weiber, verlor Geld und gewann Geld in großen
Goldrollen, und überall waren Menschen, die ihm nachliefen und sich ihm
zu eigen gaben und ihm dienten, und er lächelte und nahm es hin, wie er
einst als Knabe den Ring des kleinen Mädchens hingenommen hatte. Der
Wunschzauber lag in seinen Augen und auf seinen Lippen, Frauen umgaben
ihn mit Zärtlichkeit, und Freunde schwärmten für ihn, und niemand sah –
er selber fühlte es kaum –, wie sein Herz leer und habgierig geworden
war und seine Seele krank und leidend lag. Zuweilen wurde er es müde, so
von allen geliebt zu sein, und ging allein verkleidet durch fremde
Städte, und überall fand er die Menschen töricht und allzu leicht zu
gewinnen, und überall schien ihm die Liebe lächerlich, die ihm so eifrig
nachlief und mit so wenigem zufrieden war. Frauen und Männer wurden ihm
oft zum Ekel, daß sie nicht stolzer waren, und ganze Tage brachte er
allein mit seinen Hunden hin oder in schönen Jagdgebieten im Gebirge,
und ein Hirsch, den er beschlichen und geschossen hatte, machte ihn
froher als die Werbung einer schönen und verwöhnten Frau.
Da sah er einstmals auf einer Seereise die junge Frau eines Gesandten,
eine strenge, schlanke Dame aus nordländischem Adel, die stand zwischen
vielen andern vornehmen Frauen und weltmännischen Menschen wundervoll
abgesondert, stolz und schweigsam, als wäre niemand ihresgleichen, und
als er sie sah und beobachtete und wie ihr Blick auch ihn nur flüchtig
und gleichgültig zu streifen schien, war ihm so, als erfahre er jetzt
zum allerersten Male, was Liebe sei, und er nahm sich vor, ihre Liebe zu
gewinnen, und war von da an zu jeder Stunde des Tages in ihrer Nähe und
unter ihren Augen, und weil er selbst immerzu von Frauen und Männern
umgeben war, die ihn bewunderten und seinen Umgang suchten, stand er mit
der schönen Strengen inmitten der Reisegesellschaft wie ein Fürst mit
seiner Fürstin, und auch der Mann der Blonden zeichnete ihn aus und
bemühte sich, ihm zu gefallen.
Nie war es ihm möglich, mit der Fremden allein zu sein, bis in einer
Hafenstadt des Südens die ganze Reisegesellschaft vom Schiffe ging, um
ein paar Stunden in der fremden Stadt umherzugehen und wieder eine Weile
Erde unter den Sohlen zu fühlen. Da wich er nicht von der Geliebten, bis
es ihm gelang, sie im Gewühl eines bunten Marktplatzes im Gespräch
zurückzuhalten. Unendlich viele kleine, finstere Gassen mündeten auf
diesen Platz, in eine solche Gasse führte er sie, die ihm vertraute, und
da sie plötzlich sich mit ihm allein fühlte und scheu wurde und ihre
Gesellschaft nicht mehr sah, wandte er sich ihr leuchtend zu, nahm ihre
zögernde Hand in seine und bat sie flehend, hier mit ihm am Lande zu
bleiben und zu fliehen.
Die Fremde war bleich geworden und hielt den Blick zu Boden gewendet.
„Oh, das ist nicht ritterlich,“ sagte sie leise. „Lassen Sie mich
vergessen, was Sie da gesagt haben!“
„Ich bin kein Ritter,“ rief Augustus, „ich bin ein Liebender, und ein
Liebender weiß nichts anderes als die Geliebte, und hat keinen Gedanken,
als bei ihr zu sein. Ach, du Schöne, komm mit, wir werden glücklich
sein.“
Sie sah ihn aus ihren hellblauen Augen ernst und strafend an. „Woher
konnten Sie denn wissen,“ flüsterte sie klagend, „daß ich Sie liebe? Ich
kann nicht lügen: ich habe Sie lieb und habe oft gewünscht, Sie möchten
mein Mann sein. Denn Sie sind der erste, den ich von Herzen geliebt
habe. Ach, wie kann Liebe sich so weit verirren! Ich hätte niemals
gedacht, daß es mir möglich wäre, einen Menschen zu lieben, der nicht
rein und gut ist. Aber tausendmal lieber will ich bei meinem Manne
bleiben, den ich wenig liebe, der aber ein Ritter und voll Ehre und Adel
ist, welche Sie nicht kennen. Und nun reden Sie kein Wort mehr zu mir
und bringen Sie mich an das Schiff zurück, sonst rufe ich fremde
Menschen um Hilfe gegen Ihre Frechheit an.“
Und ob er bat und ob er knirschte, sie wandte sich von ihm und wäre
allein gegangen, wenn er nicht schweigend sich zu ihr gesellt und sie
zum Schiff begleitet hätte. Dort ließ er seine Koffer an Land bringen
und nahm von niemand Abschied.
Von da an neigte sich das Glück des Vielgeliebten. Tugend und Ehrbarkeit
waren ihm verhaßt geworden, er trat sie mit Füßen, und es wurde sein
Vergnügen, tugendhafte Frauen mit allen Künsten seines Zaubers zu
verführen und arglose Menschen, die er rasch zu Freunden gewann,
auszubeuten und dann mit Hohn zu verlassen. Er machte Frauen und Mädchen
arm, die er dann alsbald verleugnete, und er suchte sich Jünglinge aus
edlen Häusern aus, die er verführte und verdarb. Kein Genuß, den er
nicht suchte und erschöpfte; kein Laster, das er nicht lernte und wieder
wegwarf. Aber es war keine Freude mehr in seinem Herzen, und von der
Liebe, die ihm überall entgegenkam, klang nichts in seiner Seele wider.
In einem schönen Landhaus am Meere wohnte er finster und verdrossen und
quälte die Frauen und die Freunde, die ihn dort besuchten, mit den
tollsten Launen und Bosheiten. Er sehnte sich danach, die Menschen zu
erniedrigen und ihnen alle Verachtung zu zeigen; er war es satt und
überdrüssig von unerbetener, unverlangter, unverdienter Liebe umgeben zu
sein, er fühlte den Unwert seines vergeudeten und zerstörten Lebens, das
nie gegeben und immer nur genommen hatte. Manchmal hungerte er lange
Zeit, nur um doch wieder einmal ein rechtes Begehren zu fühlen und ein
Verlangen stillen zu können.
Es verbreitete sich unter seinen Freunden die Nachricht, er sei krank
und bedürfe der Ruhe und Einsamkeit. Es kamen Briefe, die er niemals
las, und besorgte Menschen fragten bei der Dienerschaft nach seinem
Befinden. Er aber saß allein und tief vergrämt im Saal über dem Meere,
sein Leben lag leer und verwüstet hinter ihm, unfruchtbar und ohne Spur
der Liebe wie die graue wogende Salzflut. Er sah häßlich aus, wie er da
im Sessel am hohen Fenster kauerte und mit sich selber Abrechnung hielt.
Die weißen Möwen trieben im Strandwinde vorüber, er folgte ihnen mit
leeren Blicken, aus denen jede Freude und jede Teilnahme verschwunden
war. Nur seine Lippen lächelten hart und böse, als er mit seinen
Gedanken zu Ende war und dem Kammerdiener schellte. Und nun ließ er alle
seine Freunde auf einen bestimmten Tag zu einem Fest einladen; seine
Absicht aber war, die Ankommenden durch den Anblick eines leeren Hauses
und seiner eigenen Leiche zu erschrecken und zu verhöhnen. Denn er war
entschlossen, sich vorher mit Gift das Leben zu nehmen.
Am Abend nun vor dem vermeintlichen Fest sandte er seine ganze
Dienerschaft aus dem Hause, daß es still in den großen Räumen wurde, und
begab sich in sein Schlafzimmer, mischte ein starkes Gift in ein Glas
Zyperwein und setzte es an die Lippen.
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