Märchen - 8

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Allein diese Aufgabe war allzu schwer für den gelehrten Mann. Er sollte
sich an etwas erinnern, was er längst vergessen hatte, er sollte einen
einzelnen, goldenen Faden aus dem Spinnweb untergesunkener Jahre
wiederfinden, er sollte etwas mit Händen greifen und seiner Geliebten
darbringen, was nichts war als ein verwehter Vogelruf, ein Anflug von
Lust oder Trauer beim Hören einer Musik, was dünner, flüchtiger und
körperloser war als ein Gedanke, nichtiger als ein nächtlicher Traum,
unbestimmter als ein Morgennebel.
Manchmal, wenn er verzagend das alles von sich geworfen und voll übler
Laune aufgegeben hatte, dann wehte ihn unversehens etwas an wie ein
Hauch aus fernen Gärten, er flüsterte den Namen Iris vor sich hin,
zehnmal und mehrmal, leise und spielend, wie man einen Ton auf einer
gespannten Saite prüft. „Iris,“ flüsterte er, „Iris,“ und mit feinem Weh
fühlte er in sich innen etwas sich bewegen, wie in einem alten
verlassenen Hause ohne Anlaß eine Tür aufgeht und ein Laden knarrt. Er
prüfte seine Erinnerungen, die er wohl geordnet in sich zu tragen
geglaubt hatte, und er kam dabei auf wunderliche und bestürzende
Entdeckungen. Sein Schatz an Erinnerungen war unendlich viel kleiner,
als er je gedacht hätte. Ganze Jahre fehlten und standen leer wie
unbeschriebene Blätter, wenn er zurückdachte. Er fand, daß er große Mühe
hatte, sich das Bild seiner Mutter wieder deutlich vorzustellen. Er
hatte vollkommen vergessen, wie ein Mädchen hieß, das er als Jüngling
wohl ein Jahr lang mit brennender Werbung verfolgt hatte. Ein Hund fiel
ihm ein, den er einst als Student in einer Laune gekauft und der eine
Zeitlang mit ihm gewohnt und gelebt hatte. Er brauchte Tage, bis er
wieder auf des Hundes Namen kam.
Schmerzvoll sah der arme Mann mit wachsender Trauer und Angst, wie
zerronnen und leer sein Leben hinter ihm lag, nicht mehr zu ihm gehörig,
ihm fremd und ohne Beziehung zu ihm wie etwas, was man einst auswendig
gelernt hat und wovon man nun mit Mühe noch öde Bruchstücke
zusammenbringt. Er begann zu schreiben, er wollte, Jahr um Jahr zurück,
seine wichtigsten Erlebnisse niederschreiben, um sie einmal wieder fest
in Händen zu haben. Aber wo waren seine wichtigsten Erlebnisse? Daß er
Professor geworden war? Daß er einmal Doktor, einmal Schüler, einmal
Student gewesen war? Oder daß ihm einmal, in verschollenen Zeiten, dies
Mädchen oder jenes eine Weile gefallen hatte? Erschreckend blickte er
auf: war das das Leben? War dies alles? Und er schlug sich vor die Stirn
und lachte gewaltsam.
Indessen lief die Zeit, nie war sie so schnell und unerbittlich
gelaufen! Ein Jahr war um, und ihm schien, er stehe noch genau am selben
Ort wie in der Stunde, da er Iris verlassen. Doch hatte er sich in
dieser Zeit sehr verändert, was außer ihm ein jeder sah und wußte. Er
war sowohl älter wie jünger geworden. Seinen Bekannten war er fast fremd
geworden, man fand ihn zerstreut, launisch und sonderbar, er kam in den
Ruf eines seltsamen Kauzes, für den es schade sei, aber er sei zu lange
Junggesell geblieben. Es kam vor, daß er seine Pflichten vergaß und daß
seine Schüler vergebens auf ihn warteten. Es geschah, daß er
gedankenvoll durch eine Straße schlich, den Häusern nach, und mit dem
verwahrlosten Rock im Hinstreifen den Staub von den Gesimsen wischte.
Manche meinten, er habe zu trinken angefangen. Andre Male aber hielt er
mitten in einem Vortrag vor seinen Schülern inne, suchte sich auf etwas
zu besinnen, lächelte kindlich und herzbezwingend, wie es niemand an ihm
gekannt hatte, und fuhr mit einem Ton der Wärme und Rührung fort, der
vielen zu Herzen ging.
Längst war ihm auf dem hoffnungslosen Streifzug hinter den Düften und
verwehten Spuren ferner Jahre her ein neuer Sinn zugekommen, von dem er
jedoch selbst nichts wußte. Es war ihm öfter und öfter vorgekommen, daß
hinter dem, was er bisher Erinnerungen genannt, noch andre Erinnerungen
lagen, wie auf einer alten bemalten Wand zuweilen hinter den alten
Bildern noch ältere, einst übermalte verborgen schlummern. Er wollte
sich auf irgend etwas besinnen, etwa auf den Namen einer Stadt, in der
er als Reisender einmal Tage verbracht hatte, oder auf den Geburtstag
eines Freundes oder auf irgend etwas, und indem er nun ein kleines Stück
Vergangenheit wie Schutt durchgrub und durchwühlte, fiel ihm plötzlich
etwas ganz anderes ein. Es überfiel ihn ein Hauch, wie ein
Aprilmorgenwind oder wie ein Septembernebeltag, er roch einen Duft, er
schmeckte einen Geschmack, er fühlte dunkle zarte Gefühle irgendwo, auf
der Haut, in den Augen, im Herzen, und langsam wurde ihm: es müsse einst
ein Tag gewesen sein, blau, warm, oder kühl, grau, oder irgend sonst ein
Tag, und das Wesen dieses Tages müsse in ihm sich verfangen haben und
als dunkle Erinnerung hängengeblieben sein. Er konnte den Frühlings-
oder Wintertag, den er deutlich roch und fühlte, nicht in der wirklichen
Vergangenheit wiederfinden, es waren keine Namen und Zahlen dabei,
vielleicht war es in der Studentenzeit, vielleicht noch in der Wiege
gewesen, aber der Duft war da, und er fühlte etwas in sich lebendig,
wovon er nicht wußte und was er nicht nennen und bestimmen konnte.
Manchmal schien ihm, es könnten diese Erinnerungen wohl auch über das
Leben zurück in Vergangenheiten eines vorigen Daseins reichen, obwohl er
darüber lächelte.
Vieles fand Anselm auf seinen ratlosen Wanderungen durch die Schlünde
des Gedächtnisses. Vieles fand er, was ihn rührte und ergriff, und
vieles, was erschreckte und Angst machte, aber das eine fand er nicht,
was der Name Iris für ihn bedeute.
Einstmals suchte er auch, in der Qual des Nichtfindenkönnens, seine alte
Heimat wieder auf, sah die Wälder und Gassen, die Stege und Zäune
wieder, stand im alten Garten seiner Kindheit und fühlte die Wogen über
sein Herz fluten, Vergangenheit umspann ihn wie Traum. Traurig und still
kam er von dort zurück. Er ließ sich krank sagen und jeden wegschicken,
der zu ihm begehrte.
Einer kam dennoch zu ihm. Es war sein Freund, den er seit seiner Werbung
um Iris nicht mehr gesehen hatte. Er kam und sah Anselm verwahrlost in
seiner freudlosen Klause sitzen.
„Steh auf,“ sagte er zu ihm, „und komm mit mir. Iris will dich sehen.“
Anselm sprang empor.
„Iris! Was ist mit ihr? – O ich weiß, ich weiß!“
„Ja,“ sagte der Freund, „komm mit! Sie will sterben, sie liegt seit
langem krank.“
Sie gingen zu Iris, die lag auf einem Ruhebett leicht und schmal wie ein
Kind und lächelte hell aus vergrößerten Augen. Sie gab Anselm ihre weiße
leichte Kinderhand, die lag wie eine Blume in seiner, und ihr Gesicht
war wie verklärt.
„Anselm,“ sagte sie, „bist du mir böse? Ich habe dir eine schwere
Aufgabe gestellt, und ich sehe, du bist ihr treu geblieben. Suche weiter
und gehe diesen Weg, bis du am Ziele bist! Du meintest ihn meinetwegen
zu gehen, aber du gehst ihn deinetwegen. Weißt du das?“
„Ich ahnte es,“ sagte Anselm, „und nun weiß ich es. Es ist ein langer
Weg, Iris, und ich wäre längst zurückgegangen, aber ich finde keinen
Rückweg mehr. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll.“
Sie blickte ihm in die traurigen Augen und lächelte licht und tröstlich,
er bückte sich über ihre dünne Hand und weinte lang, daß ihre Hand naß
von seinen Tränen wurde.
„Was aus dir werden soll,“ sagte sie mit einer Stimme, die nur wie
Erinnerungsschein war, „was aus dir werden soll, mußt du nicht fragen.
Du hast viel gesucht in deinem Leben. Du hast die Ehre gesucht, und das
Glück, und das Wissen, und hast mich gesucht, deine kleine Iris. Das
alles sind nur hübsche Bilder gewesen, und sie verließen dich, wie ich
dich nun verlassen muß. Auch mir ist es so gegangen. Immer habe ich
gesucht, und immer waren es schöne liebe Bilder, und immer wieder fielen
sie ab und waren verblüht. Ich weiß nun keine Bilder mehr, ich suche
nichts mehr, ich bin heimgekehrt und habe nur noch einen kleinen Schritt
zu tun, dann bin ich in der Heimat. Auch du wirst dorthin kommen,
Anselm, und wirst dann keine Falten mehr auf deiner Stirne haben.“
Sie war so bleich, daß Anselm verzweifelt rief: „O warte noch, Iris, geh
noch nicht fort! Laß mir ein Zeichen da, daß du mir nicht ganz
verlorengehst!“
Sie nickte und griff neben sich in ein Glas und gab ihm eine frisch
aufgeblühte blaue Schwertlilie.
„Da nimm meine Blume, die Iris, und vergiß mich nicht. Suche mich, suche
die Iris, dann wirst du zu mir kommen.“
Weinend hielt Anselm die Blume in Händen und nahm weinend Abschied. Als
der Freund ihm Botschaft sandte, kam er wieder und half ihren Sarg mit
Blumen schmücken und zur Erde bringen.
Dann brach sein Leben hinter ihm zusammen, es schien ihm nicht möglich,
diesen Faden fortzuspinnen. Er gab alles auf, verließ Stadt und Amt und
verscholl in der Welt. Hier und dort wurde er gesehen, in seiner Heimat
tauchte er auf und lehnte sich über den Zaun des alten Gartens, aber
wenn die Leute nach ihm fragen und sich um ihn annehmen wollten, war er
weg und verschwunden.
Die Schwertlilie blieb ihm lieb. Oft bückte er sich über eine, wo immer
er sie stehen sah, und wenn er lang den Blick in ihren Kelch versenkte,
schien ihm aus dem bläulichen Grunde Duft und Ahnung alles Gewesenen und
Künftigen entgegenzuwehen, bis er traurig weiterging, weil die Erfüllung
nicht kam. Ihm war, als lausche er an einer halb offen stehenden Tür und
höre lieblichstes Geheimnis hinter ihr atmen, und wenn er eben meinte,
jetzt und jetzt müsse alles sich ihm geben und erfüllen, war die Tür
zugefallen und der Wind der Welt strich kühl über seine Einsamkeit.
In seinen Träumen sprach die Mutter zu ihm, deren Gestalt und Gesicht er
nun so deutlich und nahe fühlte wie in langen Jahren nie. Und Iris
sprach zu ihm, und wenn er erwachte, klang ihm etwas nach, woran zu
sinnen er den ganzen Tag verweilte. Er war ohne Stätte, fremd lief er
durch die Lande, schlief in Häusern, schlief in Wäldern, aß Brot oder aß
Beeren, trank Wein oder trank Tau aus den Blättern der Gebüsche, er
wußte nichts davon. Vielen war er ein Narr, vielen war er ein Zauberer,
viele fürchteten ihn, viele lachten über ihn, viele liebten ihn. Er
lernte, was er nie gekonnt, bei Kindern sein und an ihren seltsamen
Spielen teilhaben, mit einem abgebrochenen Zweig und mit einem Steinchen
reden. Winter und Sommer liefen an ihm vorbei, in Blumenkelche schaute
er und in Bach und See.
„Bilder,“ sagte er zuweilen vor sich hin, „alles nur Bilder.“
Aber in sich innen fühlte er ein Wesen, das nicht Bild war, dem folgte
er, und das Wesen in ihm konnte zuzeiten sprechen, und seine Stimme war
die der Iris und die der Mutter, und sie war Trost und Hoffnung.
Wunder begegneten ihm, und sie wunderten ihn nicht. Und so ging er einst
im Schnee durch einen winterlichen Grund, und an seinem Bart war Eis
gewachsen. Und im Schnee stand spitz und schlank eine Irispflanze, die
trieb eine schöne einsame Blüte, und er bückte sich zu ihr und lächelte,
denn nun erkannte er das, woran ihn die Iris immer und immer gemahnt
hatte. Er erkannte seinen Kindestraum wieder, und sah zwischen goldenen
Stäben die lichtblaue Bahn hellgeädert in das Geheimnis und Herz der
Blume führen und wußte, dort war das, was er suchte, dort war das Wesen,
das kein Bild mehr ist.
Und wieder trafen ihn Mahnungen, Träume führten ihn, und er kam zu einer
Hütte, da waren Kinder, die gaben ihm Milch, und er spielte mit ihnen,
und sie erzählten ihm Geschichten und erzählten ihm, im Wald bei den
Köhlern sei ein Wunder geschehen. Da sehe man die Geisterpforte offen
stehen, die nur alle tausend Jahr sich öffne. Er hörte zu und nickte dem
lieben Bilde zu und ging weiter, ein Vogel sang vor ihm im Erlengebüsch,
der hatte eine seltene, süße Stimme, wie die Stimme der gestorbenen
Iris. Dem folgte er, er flog und hüpfte weiter, über den Bach und weit
in die Wälder hinein.
Als der Vogel schwieg und nicht zu hören noch zu sehen mehr war, da
blieb Anselm stehen und sah sich um. Er stand in einem tiefen Tal im
Walde, unter breiten grünen Blättern rann leise ein Gewässer, sonst war
alles still und wartend. In seiner Brust aber sang der Vogel fort, mit
der geliebten Stimme, und trieb ihn weiter, bis er vor einer Felswand
stand, die war mit Moos bewachsen, und in ihrer Mitte klaffte ein Spalt,
der führte schmal und eng ins Innere des Berges.
Ein alter Mann saß vor dem Spalt, der erhob sich, als er Anselm kommen
sah, und rief: „Zurück, du Mann, zurück! Das ist das Geistertor. Es ist
noch keiner wiedergekommen, der da hineingegangen ist.“
Anselm blickte empor und in das Felsentor, da sah er tief in den Berg
einen blauen Pfad sich verlieren, und goldene Säulen standen dicht zu
beiden Seiten, und der Pfad sank nach innen hinabwärts wie in den Kelch
einer ungeheuren Blume hinunter.
In seiner Brust sang der Vogel hell, und Anselm schritt an dem Wächter
vorüber in den Spalt und durch die goldnen Säulen hin ins blaue
Geheimnis des Innern. Es war Iris, in deren Herz er drang, und es war
die Schwertlilie im Garten der Mutter, in deren blauen Kelch er
schwebend trat, und als er still der goldnen Dämmerung entgegenging, da
war alle Erinnerung und alles Wissen mit einem Male bei ihm, er fühlte
seine Hand, und sie war klein und weich, Stimmen der Liebe klangen nah
und vertraut in sein Ohr, und sie klangen so, und die goldnen Säulen
glänzten so, wie damals in den Frühlingen der Kindheit alles ihm getönt
und geleuchtet hatte.
Und auch sein Traum war wieder da, den er als kleiner Knabe geträumt,
daß er in den Kelch hinabschritt, und hinter ihm schritt und glitt die
ganze Welt der Bilder mit und versank im Geheimnis, das hinter allen
Bildern liegt.
Leise fing Anselm an zu singen, und sein Pfad sank leise abwärts in die
Heimat.

Ende

Druck vom
Bibliographischen Institut
in Leipzig
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