Märchen - 4

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wie Sturm und Blitz, und wir alle, die ihn kämpfen müssen, wir sind
nicht seine Anstifter, wir sind nur seine Opfer.“
„Dann sterbet ihr wohl sehr leicht?“ fragte der Jüngling. „Bei uns in
meiner Heimat ist zwar der Tod nicht eben sehr gefürchtet, und die
meisten gehen willig und viele gehen freudig zur Verwandlung ein; doch
würde niemals ein Mensch es wagen, einen andern zu töten. Auf eurem
Stern muß das anders sein.“
Der König schüttelte den Kopf. „Bei uns wird zwar nicht selten getötet,“
sagte er, „doch sehen wir das als das schwerste Verbrechen an. Einzig im
Kriege ist es erlaubt, weil im Kriege keiner aus Haß oder Neid zum
eignen Vorteil tötet, sondern alle nur das tun, was die Gemeinschaft von
ihnen verlangt. Aber es ist ein Irrtum, wenn du glaubst, wir stürben
leicht. Wenn du in die Gesichter unsrer Toten schaust, kannst du es
sehen. Sie sterben schwer, sie sterben schwer und widerwillig.“
Der Jüngling hörte dies alles an und erstaunte über die Traurigkeit und
Schwere des Lebens, das auf diesem Stern die Menschen zu führen
schienen. Viele Fragen hätte er noch stellen mögen, aber er fühlte
deutlich voraus, daß er den ganzen Zusammenhang dieser dunklen und
schrecklichen Dinge nie begreifen würde, ja er fühlte in sich auch nicht
den vollen Willen, sie zu verstehen. Entweder waren diese
Beklagenswerten Wesen einer niedern Ordnung, waren noch ohne die lichten
Götter und wurden von Dämonen regiert, oder aber, es war auf diesem
Sterne ein eignes Mißgeschick, ein Fehler und Irrtum waltend. Und es
schien ihm allzu peinlich und grausam, diesen König weiter auszufragen
und ihn zu Antworten und Bekenntnissen zu nötigen, deren jedes nur
bitter und demütigend sein konnte. Diese Menschen, welche in dunkler
Bangigkeit vor dem Tode lebten und dennoch einander in Menge erschlugen,
diese Menschen, deren Gesichter einer so würdelosen Roheit fähig waren
wie das des Bauern und einer so tiefen und furchtbaren Trauer wie das
des Königs, sie taten ihm leid und schienen ihm doch sonderbar und
beinahe lächerlich, auf eine betrübende und beschämende Art lächerlich
und töricht.
Aber eine Frage konnte er dennoch nicht unterdrücken. Wenn diese armen
Wesen hier Zurückgebliebene waren, verspätete Kinder, Söhne eines späten
friedlosen Sternes, wenn das Leben dieser Menschen so als ein zuckender
Krampf verlief und in verzweifelten Totschlägen endete, wenn sie ihre
Toten auf den Feldern liegen ließen, ja sie vielleicht auffraßen – denn
auch davon war in einigen jener Schreckensmärchen aus der Vorzeit die
Rede –, so mußte doch immerhin eine Ahnung der Zukunft, ein Traum von
den Göttern, etwas wie ein Keim von Seele in ihnen vorhanden sein. Sonst
wäre diese ganze unschöne Welt ja nur ein Irrtum und ohne Sinn gewesen.
„Verzeihe, König,“ sagte der Jüngling mit schmeichelnder Stimme,
„verzeihe, wenn ich noch eine Frage an dich richte, ehe ich dein
merkwürdiges Land wieder verlasse.“
„Frage nur!“ lud der König ein, dem es mit diesem Fremden sonderbar
erging; denn er erschien ihm in vielen Dingen wie ein feiner, reifer und
unübersehbar geweiteter Geist, in andern aber wie ein kleines Kind, das
man schonen muß und nicht ganz ernst nimmt.
„Du fremder König,“ war nun des Boten Rede, „du hast mich traurig
gemacht. Sieh, ich komme aus einem andern Lande, und der große Vogel auf
dem Dache des Tempels hat recht gehabt: es gibt hier bei euch unendlich
viel mehr Jammer, als ich mir hätte erdenken können. Ein Traum der Angst
scheint euer Leben zu sein, und ich weiß nicht, ob ihr von Göttern oder
Dämonen regiert werdet. Sieh, König, bei uns ist eine Sage, und ich habe
sie früher für Märchenwust und leeren Rauch gehalten, es ist eine Sage,
daß einstmals auch bei uns solche Dinge bekannt gewesen seien wie Krieg
und Mord und Verzweiflung. Diese schaudervollen Worte, welche unsre
Sprache seit langem nicht mehr kennt, lesen wir in den alten
Märchenbüchern, und sie klingen uns grausig und auch ein wenig
lächerlich. Heute habe ich gelernt, daß dies alles Wirklichkeit ist, und
ich sehe dich und die Deinigen das tun und erleiden, was ich nur aus den
schrecklichen Sagen der Vorzeit gekannt hatte. Aber nun sage mir: Habt
ihr nicht in eurer Seele eine Ahnung, daß ihr nicht das Richtige tuet?
Habt ihr nicht eine Sehnsucht nach hellen, heitern Göttern, nach
verständigen und fröhlichen Führern und Lenkern? Träumet ihr niemals im
Schlaf von einem andern und schönern Leben, wo keiner will, was nicht
alle wollen, wo Vernunft und Ordnung herrscht, wo die Menschen einander
nicht anders begegnen als mit Heiterkeit und Schonung? Habt ihr niemals
den Gedanken gedacht, es möchte die Welt ein Ganzes sein, und es möchte
beglückend und heilend sein, das Ganze ahnend zu verehren und ihm in
Liebe zu dienen? Wißt ihr nichts von dem, was wir bei uns Musik nennen,
und Gottesdienst und Seligkeit?“
Der König hatte beim Anhören dieser Worte sein Haupt gesenkt. Als er es
nun erhob, da war sein Gesicht verwandelt und mit einem Schimmer von
Lächeln umglänzt, obwohl ihm Tränen in den Augen standen.
„Schöner Knabe,“ sagte der König, „ich weiß nicht recht, ob du ein Kind
oder ein Weiser oder vielleicht eine Gottheit bist. Aber ich kann dir
Antwort geben, daß wir das alles kennen und in der Seele tragen, wovon
du sprachest. Wir ahnen Glück, wir ahnen Freiheit, wir ahnen Götter. Wir
haben eine Sage von einem Weisen der Vorzeit, er habe die Einheit der
Welt als einen harmonischen Zusammenklang der Himmelsräume vernommen.
Genügt dir dies? Sieh, vielleicht bist du ein Seliger aus dem Jenseits,
aber du magst Gott selber sein, so ist doch in deinem Herzen kein Glück,
keine Macht, kein Wille, davon nicht eine Ahnung und ein Widerschein und
ferner Schatten auch in unsern Herzen lebte.“
Und plötzlich richtete er sich in die Höhe, und der Jüngling stand
überrascht, denn einen Augenblick war des Königs Gesicht in ein helles,
schattenloses Lächeln getaucht wie in Morgenschein.
„Geh nun,“ rief er dem Boten zu, „geh und laß uns kriegen und morden! Du
hast mir das Herz weich gemacht, du hast mich an meine Mutter erinnert.
Genug, genug davon, du lieber hübscher Knabe. Geh nun und fliehe, ehe
die neue Schlacht beginnt! Ich werde an dich denken, wenn das Blut
fließt und die Städte brennen, und ich werde daran denken, daß die Welt
ein Ganzes ist, davon unsre Torheit und unser Zorn und unsre Wildheit
uns doch nicht abtrennen kann. Leb’ wohl, und grüße mir deinen Stern,
und grüße mir jene Gottheit, deren Sinnbild ein Herz ist, daran der
Vogel frißt! Ich kenne dies Herz und kenne den Vogel wohl. Und merke
dir, mein hübscher Freund aus der Ferne: Wenn du an deinen Freund, an
den armen König im Kriege denkst, so denke nicht an ihn, wie er auf dem
Lager saß und in Trauer versunken war, sondern denke an ihn, wie er mit
den Tränen im Auge und mit dem Blut an den Händen gelächelt hat!“
Der König hob das Zelttuch, ohne den Diener zu wecken, mit eigener Hand
und ließ den Fremden hinaustreten. In neuen Gedanken schritt der
Jüngling über die Ebene zurück und sah im Abendschein am Rande des
Himmels eine große Stadt in Flammen stehen und stieg über tote Menschen
und zerfallende Leichen von Pferden hinweg, bis es dunkel ward und er
den Rand des Waldgebirges erreichte.
Da senkte sich auch schon der große Vogel aus den Wolken herab, er nahm
ihn auf seine Flügel, und sie flogen durch die Nacht zurück, lautlos und
weich wie Eulenflug.
Als der Jüngling aus einem unruhigen Schlaf erwachte, lag er in dem
kleinen Tempel im Gebirge, und vor dem Tempel stand im feuchten Grase
sein Pferd und wieherte dem Tag entgegen. Von dem großen Vogel aber und
von seiner Reise nach einem fremden Stern, von dem König und von dem
Schlachtfeld wußte er nichts mehr. Es war nur ein Schatten in seiner
Seele geblieben, ein kleiner verborgener Schmerz wie ein feiner Dorn, so
wie hilfloses Mitleid schmerzt, und ein kleiner, unbefriedigter Wunsch,
wie er in Träumen uns quälen kann, bis wir endlich dem begegnen, dem
Liebe zu erzeigen, dessen Freude zu teilen, dessen Lächeln zu sehen
unser heimliches Verlangen war.
Der Bote stieg zu Pferde und ritt den ganzen Tag und kam in die
Hauptstadt zu seinem Könige, und es zeigte sich, daß er der rechte Bote
gewesen war. Denn der König empfing ihn mit dem Gruß der Gnade, indem er
seine Stirn berührte und ihm zurief: „Deine Augen haben zu meinem Herzen
gesprochen, und mein Herz hat ja gesagt. Deine Bitte hat sich erfüllt,
noch ehe ich sie angehört habe.“
Alsbald erhielt der Bote einen Freibrief des Königs, daß ihm alle Blumen
des ganzen Landes, deren er bedürfte, zu Gebote ständen, und Begleiter
und Boten und Diener zogen mit, und Pferde und Wagen schlossen sich
ihnen an, und als er, das Gebirge umgehend, nach wenigen Tagen auf der
ebenen Landstraße in seine Provinz und seine Gemeinde heimkehrte, da
führte er Wagen und Karren und Körbe, Pferde und Maultiere mit sich, und
alles war beladen mit den schönsten Blumen aus Gärten und aus
Treibhäusern, deren es im Norden viele gab, und es waren ihrer genug
vorhanden, sowohl um die Körper der Toten zu bekränzen und ihre
Grabstätten reichlich zu schmücken, wie auch um für eines jeden Toten
Andenken eine Blume, einen Strauch und einen jungen Fruchtbaum zu
pflanzen, wie es die Sitte erfordert. Und der Schmerz um seinen Freund
und sein Lieblingspferd wich von ihm und sank im stillen heitern
Angedenken unter, nachdem er auch sie geschmückt und begraben und über
ihren Stätten zwei Blumen, zwei Büsche und zwei Fruchtbäume gepflanzt
hatte.
Nachdem er so seinem Herzen Genüge getan und seine Pflichten erfüllt
hatte, begann die Erinnerung an die Reise in jener Nacht sich in seiner
Seele zu rühren, und er bat seine Nächsten um einen Tag der Einsamkeit
und saß unter dem Gedankenbaum einen Tag und eine Nacht und breitete die
Bilder dessen, was er auf dem fremden Stern gesehen, rein und faltenlos
in seinem Gedächtnis aus. Darauf trat er eines Tages zum Ältesten, bat
ihn um geheimes Gespräch und erzählte ihm alles.
Der Älteste hörte zu, blieb in Gedanken sitzen und fragte dann: „Hast
du, mein Freund, nun dieses alles mit deinen Augen gesehen, oder ist es
ein Traum gewesen?“
„Ich weiß es nicht,“ sagte der Jüngling. „Ich glaube wohl, daß es ein
Traum gewesen sein mag. Indessen, mit deiner Erlaubnis sei es gesagt, es
scheint mir kaum einen Unterschied zu bedeuten, sollte die Sache nun
auch meinen Sinnen in aller Wirklichkeit begegnet sein. Es ist ein
Schatten von Traurigkeit in mir geblieben, und mitten in das Glück des
Lebens weht mir von jenem Sterne her ein kühler Wind hinein. Darum frage
ich dich, Verehrter, was ich tun soll.“
„Gehe morgen,“ sprach der Älteste, „nochmals in das Gebirge und an jenen
Ort hinauf, wo du den Tempel gefunden hast. Seltsam scheint mir das
Sinnbild jenes Gottes, von dem ich nie gehört habe, und es mag wohl
sein, daß es ein Gott von einem andern Sterne ist. Oder aber ist jener
Tempel und sein Gott vielleicht so alt, daß er von unsern frühesten
Vorfahren stammt und aus den fernen Zeiten, da es unter uns noch Waffen,
Furcht und Todesangst gegeben haben soll. Gehe du zu jenem Tempel,
Lieber, und dort bringe Blumen, Honig und Lieder dar.“
Der Jüngling dankte und gehorchte dem Rat des Ältesten. Er nahm eine
Schale mit feinem Honig, wie man ihn im Frühsommer beim ersten Immenfest
den Ehrengästen vorzusetzen pflegt, und nahm seine Laute mit. Im Gebirge
fand er die Stelle wieder, wo er damals eine blaue Glockenblume
gepflückt hatte, und fand den steilen Felsenpfad, der im Walde bergan
führte und wo er kürzlich vor seinem Pferde her zu Fuß gegangen war. Die
Stelle des Tempels aber und den Tempel selbst, den schwarzen Opferstein,
die hölzernen Säulen, das Dach und den großen Vogel auf dem Dache konnte
er nicht wieder finden, heute nicht und nicht am nächsten Tage, und
niemand wußte ihm etwas von einem solchen Tempel, wie er ihn beschrieb,
zu sagen.
Da kehrte er in seine Heimat zurück, und da er am Heiligtum des
liebevollen Gedenkens vorüberkam, trat er hinein, brachte den Honig dar,
sang ein Lied zur Laute und empfahl der Gottheit des liebevollen
Gedenkens seinen Traum, den Tempel und den Vogel, den armen Bauern und
die Toten auf dem Schlachtfelde und am meisten den König in seinem
Kriegszelte. Danach ging er mit erleichtertem Herzen in seine Wohnung,
hängte im Schlafzimmer das Sinnbild von der Einheit der Welten auf,
ruhte in tiefem Schlafe von den Erlebnissen dieser Tage aus und begann
am nächsten Morgen den Nachbarn zu helfen, welche in Gärten und Feldern
unter Gesang die letzten Spuren des Erdbebens hinwegzutilgen bemüht
waren.


Der schwere Weg

Dr. Hans Brun und seiner Frau gewidmet
Am Eingang der Schlucht, bei dem dunkeln Felsentor, stand ich zögernd
und drehte mich zurückblickend um.
Sonne schien in dieser grünen wohligen Welt, über den Wiesen flimmerte
wehend die bräunliche Grasblüte. Dort war gut sein, dort war Wärme und
liebes Behagen, dort summte die Seele tief und befriedigt wie eine
wollige Hummel im satten Duft und Lichte. Und vielleicht war ich ein
Narr, daß ich das alles verlassen und ins Gebirge hinaufsteigen wollte.
Der Führer berührte mich sanft am Arm. Ich riß meine Blicke von der
geliebten Landschaft los, wie man sich gewaltsam aus einem lauen Bade
losmacht. Nun sah ich die Schlucht in sonnenloser Finsternis liegen, ein
kleiner schwarzer Bach kroch aus der Spalte, bleiches Gras wuchs in
kleinen Büscheln an seinem Rande, auf seinem Boden lag herabgespültes
Gestein von allen Farben tot und blaß wie Knochen von Wesen, welche
einst lebendig waren.
„Wir wollen rasten,“ sagte ich zum Führer.
Er lächelte geduldig, und wir setzten uns nieder. Es war kühl, und aus
dem Felsentore kam ein leiser Strom von finsterer, steinig kalter Luft
geflossen.
Häßlich, häßlich, diesen Weg zu gehen! Häßlich, sich durch dies unfrohe
Felsentor zu quälen, über diesen kalten Bach zu schreiten, diese schmale
schroffe Kluft im Finstern hinanzuklettern!
„Der Weg sieht scheußlich aus,“ sagte ich zögernd.
In mir flatterte wie ein sterbendes Lichtlein die heftige, ungläubige,
unvernünftige Hoffnung, wir können vielleicht wieder umkehren, der
Führer möchte sich noch überreden lassen, es möchte uns dies alles
erspart bleiben. Ja, warum eigentlich nicht? War es dort, von wo wir
kamen, nicht tausendmal schöner? Floß nicht dort das Leben reicher,
wärmer, liebenswerter? Und war ich nicht ein Mensch, ein kindliches und
kurzlebiges Wesen mit dem Recht auf ein bißchen Glück, auf ein Eckchen
Sonne, auf ein Auge voll Blau und Blumen?
Nein, ich wollte dableiben. Ich hatte keine Lust, den Helden und
Märtyrer zu spielen! Ich wollte mein Leben lang zufrieden sein, wenn ich
im Tal und an der Sonne bleiben durfte.
Schon fing ich an zu frösteln; hier war kein langes Bleiben möglich.
„Du frierst,“ sagte der Führer, „es ist besser, wir gehen.“
Damit stand er auf, reckte sich einen Augenblick zu seiner ganzen Höhe
aus und sah mich mit Lächeln an. Es war weder Spott noch Mitleid in dem
Lächeln, weder Härte noch Schonung. Es war nichts darin als Verständnis,
nichts als Wissen. Dies Lächeln sagte: Ich kenne dich. Ich kenne deine
Angst, die du fühlst, und habe deine Großsprecherei von gestern und
vorgestern keineswegs vergessen. Jeder verzweifelte Hasensprung der
Feigheit, den deine Seele jetzt tut, und jedes Liebäugeln mit dem lieben
Sonnenschein da drüben ist mir bekannt und vertraut, noch ehe du’s
ausführst.
Mit diesem Lächeln sah mich der Führer an und tat den ersten Schritt ins
dunkle Felsental voraus, und ich haßte ihn und liebte ihn, wie ein
Verurteilter das Beil über seinem Nacken haßt und liebt. Vor allem aber
haßte und verachtete ich sein Wissen, seine Führerschaft und Kühle,
seinen Mangel an lieblichen Schwächen, und haßte alles das in mir
selber, was ihm recht gab, was ihn billigte, was seinesgleichen war und
ihm folgen wollte.
Schon war er mehrere Schritte weit gegangen, auf Steinen durch den
schwarzen Bach, und war eben im Begriff, mir um die erste Felsenecke zu
entschwinden.
„Halt!“ rief ich so voller Angst, daß ich zugleich denken mußte: wenn
das hier ein Traum wäre, dann würde ihn in diesem Augenblick mein
Entsetzen zersprengen, und ich würde aufwachen. „Halt,“ rief ich, „ich
kann nicht, ich bin noch nicht bereit.“
Der Führer blieb stehen und blickte still herüber, ohne Vorwurf, aber
mit diesem seinem furchtbaren Verstehen, mit diesem schwer zu
ertragenden Wissen, Ahnen, Schon-im-voraus-verstanden-Haben.
„Wollen wir lieber umkehren?“ fragte er, und er hatte noch das letzte
Wort nicht ausgesprochen, da wußte ich schon voll Widerwillen, daß ich
nein sagen würde, nein sagen _müssen_ würde. Und zugleich rief alles
Alte, Gewohnte, Liebe, Vertraute in mir verzweiflungsvoll: „Sag’ ja,
sag’ ja!“, und es hängte sich die ganze Welt und Heimat wie eine Kugel
an meine Füße.
Ich wollte ja rufen, obschon ich genau wußte, daß ich es nicht würde tun
können.
Da wies der Führer mit der ausgestreckten Hand in das Tal zurück, und
ich wandte mich nochmals nach den geliebten Gegenden um. Und jetzt sah
ich das Peinvollste, was mir begegnen konnte: ich sah die geliebten
Täler und Ebenen unter einer weißen entkräfteten Sonne fahl und lustlos
liegen, die Farben klangen falsch und schrill zusammen, die Schatten
waren rußig schwarz und ohne Zauber, und allem, allem war das Herz
herausgeschnitten, war der Reiz und Duft genommen – alles roch und
schmeckte nach Dingen, an denen man sich längst bis zum Ekel übergessen
hat. Oh, wie ich das kannte, wie ich das fürchtete und haßte, diese
schreckliche Art des Führers, mir das Geliebte und Angenehme zu
entwerten, den Saft und Geist daraus weglaufen zu lassen, Düfte zu
verfälschen und Farben leise zu vergiften! Ach, ich kannte das: was
gestern noch Wein gewesen war, war heut Essig. Und nie wieder wurde der
Essig zu Wein. Nie wieder.
Ich schwieg und folgte traurig dem Führer nach. Er hatte ja recht, jetzt
wie immer. Gut, wenn er wenigstens bei mir und sichtbar blieb, statt –
wie so oft – im Augenblick einer Entscheidung plötzlich zu verschwinden
und mich allein zu lassen – allein mit jener fremden Stimme in meiner
Brust, in die er sich dann verwandelt hatte.
Ich schwieg, aber mein Herz rief inbrünstig: „Bleib nur, ich folge ja!“
Die Steine im Bach waren von einer scheußlichen Schlüpfrigkeit, es war
ermüdend und schwindelerregend, so zu gehen, Fuß für Fuß auf schmalem,
nassem Stein, der sich unter der Sohle klein machte und auswich. Dabei
begann der Bachpfad rasch zu steigen, und die finsteren Felsenwände
traten näher zusammen, sie schwollen mürrisch an, und jede ihrer Ecken
zeigte die tückische Absicht, uns einzuklemmen und für immer vom Rückweg
abzuschneiden. Über warzige gelbe Felsen rann zäh und schleimig eine
Haut von Wasser. Kein Himmel, nicht Wolke noch Blau mehr über uns.
Ich ging und ging, dem Führer nach, und schloß oft vor Angst und
Widerwillen die Augen. Da stand eine dunkle Blume am Weg, sammetschwarz
mit traurigem Blick. Sie war schön und sprach vertraut zu mir, aber der
Führer ging rascher, und ich fühlte: Wenn ich einen Augenblick
verweilte, wenn ich noch einen einzigen Blick in dies traurige
Sammetauge senkte, dann würde die Betrübtheit und hoffnungslose
Schwermut allzu schwer und würde unerträglich, und mein Geist würde
alsdann immer in diesen höhnischen Bezirk der Sinnlosigkeit und des
Wahns gebannt bleiben.
Naß und schmutzig kroch ich weiter, und als die feuchten Wände sich
näher über uns zusammenklemmten, da fing der Führer sein altes Trostlied
an zu singen. Mit seiner hellen, festen Jünglingsstimme sang er bei
jedem Schritt im Takt die Worte: „Ich will, ich will, ich will!“ Ich
wußte wohl, er wollte mich ermutigen und anspornen, er wollte mich über
die häßliche Mühsal und Trostlosigkeit dieser Höllenwanderung
hinwegtäuschen. Ich wußte, er wartete darauf, daß ich mit in seinen
Singsang einstimme. Aber dies wollte ich nicht, diesen Sieg wollte ich
ihm nicht gönnen. War mir denn zum Singen zumute? Und war ich nicht ein
Mensch, ein armer einfacher Kerl, der da wider sein Herz in Dinge und
Taten hineingezerrt wurde, die Gott nicht von ihm verlangen konnte?
Durfte nicht jede Nelke und jedes Vergißmeinnicht am Bach bleiben, wo es
war, und blühen und verwelken, wie es in seiner Art lag?
„Ich will, ich will, ich will,“ sang der Führer unentwegt. Oh, wenn ich
hätte umkehren können! Aber ich war, mit des Führers wunderbarer Hilfe,
längst über Wände und Abstürze geklettert, über die es keinen, keinen
Rückweg gab. Das Weinen würgte mich von innen, aber weinen durfte ich
nicht, dies am allerwenigsten. Und so stimmte ich trotzig und laut in
den Sang des Führers ein, im gleichen Takt und Ton, aber ich sang nicht
seine Worte mit, sondern immerzu: „Ich muß, ich muß, ich muß!“ Allein es
war nicht leicht, so im Steigen zu singen, ich verlor bald den Atem und
mußte keuchend schweigen. Er aber sang unermüdet fort: „Ich will, ich
will, ich will,“ und mit der Zeit bezwang er mich doch, daß auch ich
seine Worte mitsang. Nun ging das Steigen besser, und ich mußte nimmer,
sondern wollte in der Tat, und von einer Ermüdung durch das Singen war
nichts mehr zu spüren.
Da wurde es heller in mir, und wie es heller in mir wurde, wich auch der
glatte Fels zurück, ward trockener, ward gütiger, half oft dem
gleitenden Fuß, und über uns trat mehr und mehr der hellblaue Himmel
hervor, wie ein kleiner blauer Bach zwischen den Steinufern, und bald
wie ein blauer kleiner See, der wuchs und Breite gewann.
Ich versuchte es, stärker und inniger zu wollen, und der Himmelssee
wuchs weiter, und der Pfad wurde gangbarer, ja ich lief zuweilen eine
ganze Strecke leicht und beschwerdelos neben dem Führer her. Und
unerwartet sah ich den Gipfel nahe über uns, steil und gleißend in
durchglühter Sonnenluft.
Wenig unterhalb des Gipfels entkrochen wir dem engen Spalt, Sonne drang
in meine geblendeten Augen, und als ich sie wieder öffnete, zitterten
mir die Knie vor Beklemmung, denn ich sah mich frei und ohne Halt an den
steilen Grat gestellt, ringsum unendlichen Himmelsraum und blaue bange
Tiefe, nur der schmale Gipfel dünn wie eine Leiter vor uns ragend. Aber
es war wieder Himmel und Sonne da, und so stiegen wir auch die letzte
beklemmende Steile empor, Fuß vor Fuß mit zusammengepreßten Lippen und
gefalteten Stirnen. Und standen oben, schmal auf durchglühtem Stein, in
einer strengen, spöttisch dünnen Luft.
Das war ein sonderbarer Berg und ein sonderbarer Gipfel! Auf diesem
Gipfel, den wir über so unendliche nackte Steinwände erklommen hatten,
auf diesem Gipfel wuchs aus dem Steine ein Baum, ein kleiner,
gedrungener Baum mit einigen kurzen, kräftigen Ästen. Da stand er,
unausdenklich einsam und seltsam, hart und starr im Fels, das kühle
Himmelsblau zwischen seinen Ästen. Und zu oberst im Baume saß ein
schwarzer Vogel und sang ein rauhes Lied.
Stiller Traum einer kurzen Rast, hoch über der Welt: Sonne lohte, Fels
glühte, Baum starrte streng, Vogel sang rauh. Sein rauhes Lied hieß:
Ewigkeit, Ewigkeit! Der schwarze Vogel sang, und sein blankes hartes
Auge sah uns an wie ein schwarzer Kristall. Schwer zu ertragen war sein
Blick, schwer zu ertragen war sein Gesang, und furchtbar war vor allem
die Einsamkeit und Leere dieses Ortes, die schwindelnde Weite der öden
Himmelsräume. Sterben war unausdenkbare Wonne, Hierbleiben namenlose
Pein. Es mußte etwas geschehen, sofort, augenblicklich, sonst
versteinerten wir und die Welt vor Grauen. Ich fühlte das Geschehnis
drücken und glühend einherhauchen wie den Windstoß vor einem Gewitter.
Ich fühlte es mir über Leib und Seele flattern wie ein brennendes
Fieber. Es drohte, es kam, es war da.
– – Es schwang sich der Vogel jäh vom Ast, warf sich stürzend in den
Weltraum.
Es tat mein Führer einen Sprung und Sturz ins Blaue, fiel in den
zuckenden Himmel, flog davon.
Jetzt war die Welle des Schicksals auf der Höhe, jetzt riß sie mein Herz
davon, jetzt brach sie lautlos auseinander.
Und ich fiel schon, ich stürzte, sprang, ich flog; in kalte Luftwirbel
geschnürt schoß ich selig und vor Qual der Wonne zuckend durchs
Unendliche hinabwärts, an die Brust der Mutter.


Eine Traumfolge

Volkmar Andreä gewidmet
Mir schien, ich verweile schon eine Menge von unnützer dickflüssiger
Zeit in dem lauen Salon, durch dessen Nordfenster der falsche See mit
den unechten Fjorden blickte und wo nichts mich hielt und anzog als die
Gegenwart der schönen, verdächtigen Dame, die ich für eine Sünderin
hielt. Ihr Gesicht einmal richtig zu sehen, war mein unerfülltes
Verlangen. Ihr Gesicht schwebte undeutlich zwischen dunklen, offenen
Haaren und bestand einzig aus süßer Blässe, sonst war nichts vorhanden.
Vielleicht waren die Augen dunkelbraun, ich fühlte Gründe in mir, das zu
erwarten, aber dann paßten die Augen nicht zu dem Gesicht, das mein
Blick aus der unbestimmten Blässe zu lesen wünschte und dessen
Gestaltung ich bei mir in tiefen, unzugänglichen Erinnerungsschichten
ruhen wußte.
Endlich geschah etwas. Die beiden jungen Männer traten ein. Sie
begrüßten die Dame mit sehr guten Formen und wurden mir vorgestellt.
Affen, dachte ich und zürnte mir selber, weil des einen rotbrauner Rock
mit seinem hübsch koketten Sitz und Schnitt mich beschämte und neidisch
machte. Scheußliches Gefühl des Neides gegen die Tadellosen,
Ungenierten, Lächelnden! „Beherrsche dich!“ rief ich mir leise zu. Die
beiden jungen Leute griffen gleichgültig nach meiner dargereichten Hand
– warum hatte ich sie hingeboten?! – und machten spöttische Gesichter.
Da spürte ich, daß etwas an mir nicht in Ordnung sei, und fühlte lästige
Kälte an mir aufsteigen. Hinunterblickend sah ich mit Erbleichen, daß
ich ohne Schuhe in bloßen Strümpfen stand. Immer wieder diese öden,
kläglichen, dürftigen Hindernisse und Widerstände! Andern passierte es
nie, daß sie nackt oder halbnackt in Salons vor dem Volk der Tadellosen
und Unerbittlichen standen! Traurig suchte ich den linken Fuß wenigstens
mit dem rechten zu decken, dabei fiel mein Blick durchs Fenster, und ich
sah die steilen Seeufer blau und wild in falschen düsteren Tönen drohen,
sie wollten dämonisch sein. Betrübt und hilfsbedürftig blickte ich die
Fremden an, voll Haß gegen diese Leute und voll von größerem Haß gegen
mich – es war nichts mit mir, es glückte mir nichts. Und warum fühlte
ich mich für den dummen See verantwortlich? Ja, wenn ich es fühlte, dann
war ich’s auch. Flehentlich sah ich dem Rotbraunen ins Gesicht, seine
Wangen glänzten gesund und zart gepflegt, und wußte doch so gut, daß ich
mich unnütz preisgebe, daß er nicht zu rühren sei.
Eben jetzt bemerkte er meine Füße in den groben dunkelgrünen Strümpfen –
ach, ich mußte noch froh sein, daß sie ohne Löcher waren – und lächelte
häßlich. Er stieß seinen Kameraden an und zeigte auf meine Füße. Auch
der andre grinste voller Spott.
„Sehen Sie doch den See!“ rief ich und deutete durchs Fenster.
Der Rotbraune zuckte die Achseln, es fiel ihm nicht ein, sich nur gegen
das Fenster zu wenden, und sagte zum andern etwas, das ich nur halb
verstand, das aber auf mich gemünzt war und von Kerlen in Strümpfen
handelte, die man in einem solchen Salon gar nicht dulden sollte. Dabei
war „Salon“ für mich wieder so etwas wie in Bubenjahren, mit einem etwas
schönen und etwas falschen Klang von Vornehmheit und Welt.
Nahe am Weinen bückte ich mich zu meinen Füßen hinab, ob da etwas zu
bessern sei, und sah jetzt, daß ich aus weiten Hausschuhen geglitten
war; wenigstens lag ein sehr großer, weicher, dunkelroter Pantoffel
hinter mir am Boden. Ich nahm ihn unschlüssig in die Hand, beim Absatz
packend, noch ganz weinerlich. Er entglitt mir, ich erwischte ihn noch
im Fallen – er war inzwischen noch größer geworden – und hielt ihn nun
am vorderen Ende.
Dabei fühlte ich plötzlich, innig erlöst, den tiefen Wert des
Pantoffels, der in meiner Hand ein wenig federte, vom schweren Absatz
hinabgezogen. Herrlich, so ein roter schlapper Schuh, so weich und
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