Märchen - 7

Total number of words is 4629
Total number of unique words is 1484
42.8 of words are in the 2000 most common words
57.4 of words are in the 5000 most common words
62.3 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
sich greifen und über die alten Mauern hinauswachsen; er sah die Jäger
ihre Armbrüste vergessen und mit Feuerwaffen schießen. Die Jahrhunderte
liefen ihm dahin wie Jahreszeiten, und die Jahre wie Stunden.
Ihn kümmerte es nicht, daß einmal im langen Lauf der Jahre das rote
Sonnwendfeuer auf der Felsenplatte nicht mehr aufglühte und von da an
vergessen blieb. Ihm schuf es keine Sorgen, als im langen Lauf der
Zeiten das Tal der Waffenübungen verödete und auf der Rennbahn Wegerich
und Distel heimisch wurden. Und er hinderte es nicht, als einmal im
langen Lauf der Jahrhunderte ein Bergsturz seine Form veränderte und daß
unter den davongerollten Felsen die halbe Stadt Faldum in Trümmern
liegenblieb. Er blickte kaum hinab, und er nahm nicht wahr, daß die
zertrümmerte Stadt liegenblieb und nicht wieder aufgebaut wurde.
Ihn kümmerte dies alles nicht. Aber andres begann ihn zu kümmern. Die
Zeiten rannen, und siehe, der Berg war alt geworden. Wenn er die Sonne
kommen und wandern und davongehen sah, so war es nicht wie einst, und
wenn die Sterne sich im fahlen Gletscher spiegelten, so fühlte er sich
nicht mehr ihresgleichen. Ihm war die Sonne und waren die Sterne jetzt
nimmer sonderlich wichtig. Wichtig war ihm jetzt, was an ihm selber und
in seinem Innern vorging. Denn er fühlte, wie tief unter seinen Felsen
und Höhlen eine fremde Hand Arbeit tat, wie hartes Urgestein mürbe ward
und in schieferigen Lagen verwitterte, wie die Bäche und Wasserfälle
sich tieferfraßen. Gletscher waren geschwunden und Seen gewachsen, Wald
war in Steinfelder verwandelt und Wiesen in schwarzes Moor; unendlich
weit hinaus in spitzen Zungen liefen die kahlen Bänder seiner Moränen
und Geröllrinnen in das Land, und das Land dort unten war seltsam anders
geworden, seltsam steinig, seltsam verbrannt und still. Der Berg zog
sich mehr und mehr in sich selber zurück. Er fühlte wohl, nicht Sonne
und Gestirne waren seinesgleichen. Seinesgleichen war Wind und Schnee,
Wasser und Eis. Seinesgleichen war, was ewig scheint und was doch
langsam schwindet, was langsam vergeht.
Inniger leitete er seine Bäche zu Tal, sorglicher rollte er seine
Lawinen hinab, zärtlicher bot er seine Blumenwiesen der Sonne hin. Und
es geschah, daß er sich in seinem hohen Alter auch der Menschen wieder
erinnerte. Nicht daß er die Menschen für seinesgleichen geachtet hätte,
aber er begann nach ihnen auszuschauen, er begann sich verlassen zu
fühlen, er begann an Vergangenes zu denken. Allein die Stadt war nicht
mehr da, und kein Gesang im Liebestal, und keine Hütten mehr auf den
Alpen. Es waren keine Menschen mehr da. Auch sie waren vergangen. Es war
still geworden, es war welk geworden, es lag ein Schatten in der Luft.
Der Berg erbebte, als er fühlte, was Vergehen sei; und als er erbebte,
sank sein Gipfel zur Seite und stürzte hinab, und Felstrümmer rollten
ihm nach über das Liebestal hinweg, das längst mit Steinen ausgefüllt
lag, bis in das Meer hinunter.
Ja, die Zeiten waren anders geworden. Wie kam das nur, daß er sich jetzt
immer der Menschen erinnern und an sie denken mußte? War das nicht einst
wunderschön gewesen, wie die Sommerfeuer gebrannt hatten, und wie im
Liebestal die jungen Menschen in Paaren gingen? Oh, und wie hatte ihr
Gesang oft süß und warm geklungen!
Der greise Berg war ganz in Erinnerungen versunken, er fühlte kaum, wie
die Jahrhunderte wegflossen, wie es da und dort in seinen Höhlen mit
leisem Donner stürzte und sich schob. Wenn er der Menschen gedachte, so
schmerzte ihn ein dumpfer Anklang aus vergangenen Weltaltern, eine
unverstandene Bewegung und Liebe, ein dunkler schwebender Traum, als
wäre einst auch er ein Mensch oder den Menschen ähnlich gewesen, hätte
gesungen und singen hören, als sei ihm der Gedanke der Vergänglichkeit
schon in seinen frühesten Tagen einmal durchs Herz gegangen.
Die Zeitalter flossen weg. Herabgesunken und von rauhen Steinwüsten
rings umgeben, hing der sterbende Berg seinen Träumen nach. Wie war das
einst gewesen? War da nicht ein Klang, ein feiner Silberfaden, der ihn
mit der vergangenen Welt verband? Mühsam wühlte er in der Nacht
vermoderter Erinnerungen, tastete ruhelos zerrissenen Fäden nach, beugte
sich immer wieder weit über den Abgrund des Gewesenen. – Hatte nicht
auch ihm einst in der Zeitenferne eine Gemeinschaft, eine Liebe geglüht?
War nicht auch er einst, der Einsame, der Große, gleich unter Gleichen
gewesen? – Hatte nicht auch ihm einst, im Anfang der Dinge, eine Mutter
gesungen?
Er sann und sann, und seine Augen, die blauen Seen, wurden trüb und
schwer und verwandelten sich in Moor und Sumpf, und über die Grasbänder
und kleinen Blumenplätze hin rieselte Steingeschiebe. Er sann, und aus
undenklicher Ferne herüber hörte er es klingen, fühlte Töne schweben,
ein Lied, ein Menschenlied, und er erzitterte vor schmerzlicher Lust im
Wiedererkennen. Er hörte die Töne, und er sah einen Menschen, einen
Jüngling, ganz in Töne gehüllt durch die Lüfte in den sonnigen Himmel
schweben, und hundert vergrabene Erinnerungen waren erschüttert und
begannen zu rieseln und zu rollen. Er sah ein Menschengesicht mit
dunklen Augen, und die Augen fragten ihn zwingend: „Willst du nicht
einen Wunsch tun?“
Und er tat einen Wunsch, einen stillen Wunsch, und indem er ihn tat,
fiel jene Qual von ihm ab, daß er sich auf so ferne und verschollene
Dinge besinnen mußte, und alles fiel von ihm ab, was ihm weh getan
hatte. Es stürzte der Berg und das Land in sich zusammen, und wo Faldum
gewesen war, da wogte weit und rauschend das unendliche Meer, und
darüber gingen im Wechsel die Sonne und die Sterne hin.


Iris

Für Mia
Im Frühling seiner Kindheit lief Anselm durch den grünen Garten. Eine
Blume unter den Blumen der Mutter hieß Schwertlilie, die war ihm
besonders lieb. Er hielt seine Wange an ihre hohen hellgrünen Blätter,
drückte tastend seine Finger an ihre scharfen Spitzen, roch atmend an
der großen wunderbaren Blüte und sah lange hinein. Da standen lange
Reihen von gelben Fingern aus dem bleichbläulichen Blumenboden empor,
zwischen ihnen lief ein lichter Weg hinweg und hinabwärts in den Kelch
und das ferne, blaue Geheimnis der Blüte hinein. Die liebte er sehr und
blickte lange hin und sah die gelben feinen Glieder bald wie einen
goldenen Zaun am Königsgarten stehen, bald als doppelten Gang von
schönen Traumbäumen, die kein Wind bewegt, und zwischen ihnen lief hell
und von glaszarten lebendigen Adern durchzogen der geheimnisvolle Weg
ins Innere. Ungeheuer dehnte die Wölbung sich auf, nach rückwärts verlor
der Pfad zwischen den goldenen Bäumen sich unendlich tief in
unausdenkliche Schlünde, über ihm bog sich die violette Wölbung
königlich und legte zauberische dünne Schatten über das stille wartende
Wunder. Anselm wußte, daß dies der Mund der Blume war, daß hinter den
gelben Prachtgewächsen im blauen Schlunde ihr Herz und ihre Gedanken
wohnten und daß über diesen holden, lichten, glasig geäderten Weg ihr
Atem und ihre Träume aus und ein gingen.
Und neben der großen Blüte standen kleinere, die noch nicht aufgegangen
waren, sie standen auf festen, saftigen Stielen in einem kleinen Kelche
aus bräunlich grüner Haut, aus ihnen drang die junge Blüte still und
kräftig hinan, in lichtes Grün und Lila fest gewickelt, oben aber
schaute straff und zart gerollt das junge tiefe Violett mit feiner
Spitze hervor. Auch schon auf diesen festgerollten, jungen
Blütenblättern war Geäder und hundertfache Zeichnung zu sehen.
Am Morgen, wenn er aus dem Hause und aus dem Schlaf und Traum und
fremden Welten wiederkam, da stand unverloren und immer neu der Garten
und wartete auf ihn, und wo gestern eine harte blaue Blütenspitze dicht
gerollt aus grüner Schale gestarrt hatte, da hing nun dünn und blau wie
Luft ein junges Blatt, wie eine Zunge und wie eine Lippe, suchte tastend
seine Form und Wölbung, von der es lang geträumt, und zu unterst, wo es
noch im stillen Kampf mit seiner Hülle lag, da ahnte man schon feine
gelbe Gewächse, lichte geäderte Bahn und fernen, duftenden Seelenabgrund
bereitet. Vielleicht am Mittag schon, vielleicht am Abend war sie offen,
wölbte blaues Seidenzelt über goldnem Traumwalde, und ihre ersten
Träume, Gedanken und Gesänge kamen still aus dem zauberhaften Abgrund
hervorgeatmet.
Es kam ein Tag, da standen lauter blaue Glockenblumen im Gras. Es kam
ein Tag, da war plötzlich ein neuer Klang und Duft im Garten, und über
rötlichem durchsonntem Laub hing weich und rotgolden die erste Teerose.
Es kam ein Tag, da waren keine Schwertlilien mehr da. Sie waren
gegangen, kein goldbezäunter Pfad mehr führte zart in duftende
Geheimnisse hinab, fremd standen starre Blätter spitz und kühl. Aber
rote Beeren waren in den Büschen reif, und über den Sternblumen flogen
neue, unerhörte Falter frei und spielend hin, rotbraune mit
perlmutternen Rücken und schwirrende, glasflüglige Schwärmer.
Anselm sprach mit den Faltern und mit den Kieselsteinen, er hatte zum
Freund den Käfer und die Eidechse, Vögel erzählten ihm Vogelgeschichten,
Farnkräuter zeigten ihm heimlich unterm Dach der Riesenblätter den
braunen gesammelten Samen, Glasscherben grün und kristallen fingen ihm
den Sonnenstrahl und wurden Paläste, Gärten und funkelnde Schatzkammer.
Waren die Lilien fort, so blühten die Kapuziner, waren die Teerosen
welk, so wurden die Brombeeren braun, alles verschob sich, war immer da
und immer fort, verschwand und kam zur Zeit wieder, und auch die bangen,
wunderlichen Tage, wo der Wind kalt in der Tanne lärmte und im ganzen
Garten das welke Laub so fahl und erstorben klirrte, brachten noch ein
Lied, ein Erlebnis, eine Geschichte mit, bis wieder alles hinsank,
Schnee vor den Fenstern fiel und Palmenwälder an den Scheiben wuchsen,
Engel mit silbernen Glocken durch den Abend flogen und Flur und Boden
nach gedörrtem Obst dufteten. Niemals erlosch Freundschaft und Vertrauen
in dieser guten Welt, und wenn einmal unversehens wieder Schneeglöckchen
neben dem schwarzen Efeulaub strahlten und erste Vögel hoch durch neue
blaue Höhen flogen, so war es, als sei alles immerfort dagewesen. Bis
eines Tages, nie erwartet und doch immer genau wie es sein mußte und
immer gleich erwünscht, wieder eine erste bläuliche Blütenspitze aus den
Schwertlilienstengeln schaute.
Alles war schön, alles war Anselm willkommen, befreundet und vertraut,
aber der größte Augenblick des Zaubers und der Gnade war in jedem Jahr
für den Knaben die erste Schwertlilie. In ihrem Kelch hatte er
irgendeinmal, im frühsten Kindestraum, zum erstenmal im Buch der Wunder
gelesen, ihr Duft und wehendes vielfaches Blau war ihm Anruf und
Schlüssel der Schöpfung gewesen. So ging die Schwertlilie mit ihm durch
alle Jahre seiner Unschuld, war in jedem neuen Sommer neu,
geheimnisreicher und rührender geworden. Auch andre Blumen hatten einen
Mund, auch andre Blumen sandten Duft und Gedanken aus, auch andre
lockten Biene und Käfer in ihre kleinen, süßen Kammern. Aber die blaue
Lilie war dem Knaben mehr als jede andre Blume lieb und wichtig
geworden, sie wurde ihm Gleichnis und Beispiel alles Nachdenkenswerten
und Wunderbaren. Wenn er in ihren Kelch blickte und versunken diesem
hellen träumerischen Pfad mit seinen Gedanken folgte, zwischen den
gelben wunderlichen Gestäuden dem verdämmernden Blumeninnern entgegen,
dann blickte seine Seele in das Tor, wo die Erscheinung zum Rätsel und
das Sehen zum Ahnen wird. Er träumte auch bei Nacht zuweilen von diesem
Blumenkelch, sah ihn ungeheuer groß vor sich geöffnet wie das Tor eines
himmlischen Palastes, ritt auf Pferden, flog auf Schwänen hinein, und
mit ihm flog und ritt und glitt die ganze Welt leise, von Magie gezogen,
in den holden Schlund hinein und hinab, wo jede Erwartung zur Erfüllung
und jede Ahnung Wahrheit werden mußte.
Jede Erscheinung auf Erden ist ein Gleichnis, und jedes Gleichnis ist
ein offnes Tor, durch welches die Seele, wenn sie bereit ist, in das
Innere der Welt zu gehen vermag, wo du und ich und Tag und Nacht alle
eines sind. Jedem Menschen tritt hier und dort in seinem Leben das
geöffnete Tor in den Weg, jeden fliegt irgendeinmal der Gedanke an, daß
alles Sichtbare ein Gleichnis sei und daß hinter dem Gleichnis der Geist
und das ewige Leben wohne. Wenige freilich gehen durch das Tor und geben
den schönen Schein dahin für die geahnte Wirklichkeit des Inneren.
So erschien dem Knaben Anselm sein Blumenkelch als die aufgetane, stille
Frage, der seine Seele in quellender Ahnung einer seligen Antwort
entgegendrängte. Dann wieder zog das liebliche Vielerlei der Dinge ihn
hinweg, in Gesprächen und Spielen zu Gras und Steinen, Wurzeln, Busch,
Getier und allen Freundlichkeiten seiner Welt. Oft sank er tief in die
Betrachtung seiner selbst hinab, er saß hingegeben an die
Merkwürdigkeiten seines Leibes, fühlte mit geschlossenen Augen beim
Schlucken, beim Singen, beim Atmen sonderbare Regungen, Gefühle und
Vorstellungen im Munde und im Hals, fühlte auch dort dem Pfad und dem
Tore nach, auf denen Seele zu Seele gehen kann. Mit Bewunderung
beobachtete er die bedeutsamen Farbenfiguren, die bei geschlossenen
Augen ihm oft aus purpurfarbenem Dunkel erschienen, Flecken und
Halbkreise von Blau und tiefem Rot, glasig helle Linien dazwischen.
Manchmal empfand Anselm mit froh erschrockener Bewegung die feinen,
hundertfachen Zusammenhänge zwischen Auge und Ohr, Geruch und Getast,
fühlte für schöne flüchtige Augenblicke Töne, Laute, Buchstaben verwandt
und gleich mit Rot, Blau, mit Hart und Weich, oder wunderte sich beim
Riechen an einem Kraut oder an einer abgeschälten grünen Rinde, wie
sonderbar nahe Geruch und Geschmack beisammen waren und oft ineinander
übergingen und eins wurden.
Alle Kinder fühlen so, wennschon nicht alle mit derselben Stärke und
Zartheit, und bei vielen ist dies alles schon hinweg und wie nie
gewesen, noch ehe sie den ersten Buchstaben haben lesen lernen. Andern
bleibt das Geheimnis der Kindheit lange nah, und einen Rest und Nachhall
davon nehmen sie bis zu den weißen Haaren und den späten müden Tagen mit
sich. Alle Kinder, solange sie noch im Geheimnis stehen, sind ohne
Unterlaß in der Seele mit dem einzig Wichtigen beschäftigt, mit sich
selbst und mit dem rätselhaften Zusammenhang ihrer eignen Person mit der
Welt ringsumher. Sucher und Weise kehren mit den Jahren der Reife zu
diesen Beschäftigungen zurück, die meisten Menschen aber vergessen und
verlassen diese innere Welt des wahrhaft Wichtigen schon früh für immer
und irren lebenslang in den bunten Irrsalen von Sorgen, Wünschen und
Zielen umher, deren keines in ihrem Innersten wohnt, deren keines sie
wieder zu ihrem Innersten und nach Hause führt.
Anselms Kindersommer und -herbste kamen sanft und gingen ungehört,
wieder und wieder blühte und verblühte Schneeglocke, Veilchen, Goldlack,
Lilie, Immergrün und Rose, schön und reich wie je. Er lebte mit, ihm
sprach Blume und Vogel, ihm hörte Baum und Brunnen zu, und er nahm
seinen ersten geschriebenen Buchstaben und seinen ersten
Freundschaftskummer in alter Weise mit hinüber zum Garten, zur Mutter,
zu den bunten Steinen am Beet.
Aber einmal kam ein Frühling, der klang und roch nicht wie die frühern
alle, die Amsel sang, und es war nicht das alte Lied, die blaue Iris
blühte auf, und keine Träume und Märchengeschichten wandelten aus und
ein auf dem goldgezäunten Pfad ihres Kelches. Es lachten die Erdbeeren
versteckt aus ihrem grünen Schatten, und die Falter taumelten glänzend
über den hohen Dolden, und alles war nicht mehr wie immer, und andre
Dinge gingen den Knaben an, und mit der Mutter hatte er viel Streit. Er
wußte selber nicht, was es war und warum ihm etwas weh tat und etwas
immerfort ihn störte. Er sah nur, die Welt war verändert, und die
Freundschaften der bisherigen Zeit fielen von ihm ab und ließen ihn
allein.
So ging ein Jahr, und es ging noch eines, und Anselm war kein Kind mehr,
und die bunten Steine um das Beet waren langweilig, und die Blumen
stumm, und die Käfer hatte er auf Nadeln in einem Kasten stecken, und
seine Seele hatte den langen, harten Umweg angetreten, und die alten
Freuden waren versiegt und verdorrt.
Ungestüm drang der junge Mensch ins Leben, das ihm nun erst zu beginnen
schien. Verweht und vergessen war die Welt der Gleichnisse, neue Wünsche
und Wege lockten ihn hinweg. Noch hing Kindheit ihm wie ein Duft im
blauen Blick und im weichen Haar, doch liebte er es nicht, wenn er daran
erinnert wurde, und schnitt die Haare kurz und tat in seinen Blick so
viel Kühnheit und Wissen, als er vermochte. Launisch stürmte er durch
die bangen, wartenden Jahre, guter Schüler bald und Freund, bald allein
und scheu, einmal in Büchern vergraben bis in die Nächte, einmal wild
und laut bei ersten Jünglingsgelagen. Die Heimat hatte er verlassen
müssen und sah sie nur selten auf kurzen Besuchen wieder, wenn er
verändert, gewachsen und fein gekleidet heim zur Mutter kam. Er brachte
Freunde mit, brachte Bücher mit, immer anderes, und wenn er durch den
alten Garten ging, war der Garten klein und schwieg vor seinem
zerstreuten Blick. Nie mehr las er Geschichten im bunten Geäder der
Steine und der Blätter, nie mehr sah er Gott und die Ewigkeit im
Blütengeheimnis der blauen Iris wohnen.
Anselm war Schüler, war Student, er kehrte in die Heimat mit einer roten
und dann mit einer gelben Mütze, mit einem Flaum auf der Lippe und mit
einem jungen Bart. Er brachte Bücher in fremden Sprachen mit und einmal
einen Hund, und in einer Ledermappe auf der Brust trug er bald
verschwiegene Gedichte, bald Abschriften uralter Weisheiten, bald
Bildnisse und Briefe hübscher Mädchen. Er kehrte wieder und war weit in
fremden Ländern gewesen und hatte auf großen Schiffen auf dem Meere
gewohnt. Er kehrte wieder und war ein junger Gelehrter, trug einen
schwarzen Hut und dunkle Handschuhe, und die alten Nachbarn zogen die
Hüte vor ihm und nannten ihn Professor, obschon er noch keiner war. Er
kam wieder und trug schwarze Kleider und ging schlank und ernst hinter
dem langsamen Wagen her, auf dem seine alte Mutter im geschmückten Sarge
lag. Und dann kam er selten mehr.
In der Großstadt, wo Anselm jetzt die Studenten lehrte und für einen
berühmten Gelehrten galt, da ging er, spazierte, saß und stand genau wie
andre Leute der Welt, im feinen Rock und Hut, ernst oder freundlich, mit
eifrigen und manchmal etwas ermüdeten Augen, und war ein Herr und ein
Forscher, wie er es hatte werden wollen. Nun ging es ihm ähnlich, wie es
ihm am Ende seiner Kindheit gegangen war. Er fühlte plötzlich viele
Jahre hinter sich weggeglitten und stand seltsam allein und unbefriedigt
mitten in der Welt, nach der er immer getrachtet hatte. Es war kein
rechtes Glück, Professor zu sein, es war keine volle Lust, von Bürgern
und Studenten tief gegrüßt zu werden. Es war alles wie welk und
verstaubt, und das Glück lag wieder weit in der Zukunft, und der Weg
dahin sah heiß und staubig und gewöhnlich aus.
In dieser Zeit kam Anselm viel in das Haus eines Freundes, dessen
Schwester ihn anzog. Er lief jetzt nicht mehr leicht einem hübschen
Gesichte nach, auch das war anders geworden, und er fühlte, daß das
Glück für ihn auf besondere Weise kommen müsse und nicht hinter jedem
Fenster liegen könne. Die Schwester seines Freundes gefiel ihm sehr, und
oft glaubte er zu wissen, daß er sie wahrhaft liebe. Aber sie war ein
besonderes Mädchen, jeder Schritt und jedes Wort von ihr war eigen
gefärbt und geprägt, und es war nicht immer leicht, mit ihr zu gehen und
den gleichen Schritt mit ihr zu finden. Wenn Anselm zuweilen in seiner
einsamen Wohnung am Abend auf und nieder ging und nachdenklich seinem
eigenen Schritt durch die leeren Stuben zuhörte, dann stritt er viel mit
sich selber wegen seiner Freundin. Sie war älter, als er sich seine Frau
gewünscht hätte. Sie war sehr eigen, und es würde schwierig sein, neben
ihr zu leben und seinem gelehrten Ehrgeiz zu folgen, denn von dem mochte
sie nichts hören. Auch war sie nicht sehr stark und gesund und konnte
namentlich Gesellschaft und Feste schlecht ertragen. Am liebsten lebte
sie, mit Blumen und Gesang und etwa einem Buch um sich, in einsamer
Stille, wartete, ob jemand zu ihr käme, und ließ die Welt ihren Gang
gehen. Manchmal war sie so zart und empfindlich, daß alles Fremde ihr
weh tat und sie leicht zum Weinen brachte. Dann wieder strahlte sie
still und fein in einem einsamen Glück, und wer es sah, der fühlte, wie
schwer es sei, dieser schönen seltsamen Frau etwas zu geben und etwas
für sie zu bedeuten. Oft glaubte Anselm, daß sie ihn lieb habe, oft
schien ihm, sie habe niemanden lieb, sei nur mit allen zart und
freundlich und begehre von der Welt nichts als in Ruhe gelassen zu
werden. Er aber wollte anderes vom Leben, und wenn er eine Frau haben
würde, so müßte Leben und Klang und Gastlichkeit im Hause sein.
„Iris,“ sagte er zu ihr, „liebe Iris, wenn doch die Welt anders
eingerichtet wäre! Wenn es gar nichts gäbe als deine schöne, sanfte Welt
mit Blumen, Gedanken und Musik, dann wollte ich mir nichts andres
wünschen, als mein Leben lang bei dir zu sein, deine Geschichten zu
hören und in deinen Gedanken mitzuleben. Schon dein Name tut mir wohl,
Iris ist ein wundervoller Name, ich weiß gar nicht, woran er mich
erinnert.“
„Du weißt doch,“ sagte sie, „daß die blauen und gelben Schwertlilien so
heißen.“
„Ja,“ rief er in einem beklommenen Gefühl, „das weiß ich wohl, und schon
das ist sehr schön. Aber immer, wenn ich deinen Namen sage, will er mich
noch außerdem an irgend etwas mahnen, ich weiß nicht was, als sei er mir
mit ganz tiefen, fernen, wichtigen Erinnerungen verknüpft, und doch weiß
und finde ich nicht, was das sein könnte.“
Iris lächelte ihn an, der ratlos stand und mit der Hand seine Stirne
rieb.
„Mir geht es jedesmal so,“ sagte sie mit ihrer vogelleichten Stimme zu
Anselm, „wenn ich an einer Blume rieche. Dann meint mein Herz jedesmal,
mit dem Duft sei ein Andenken an etwas überaus Schönes und Kostbares
verbunden, das einmal vorzeiten mein war und mir verlorengegangen ist.
Mit der Musik ist es auch so, und manchmal mit Gedichten – da blitzt auf
einmal etwas auf, einen Augenblick lang, wie wenn man eine verlorene
Heimat plötzlich unter sich im Tale liegen sähe, und ist gleich wieder
weg und vergessen. Lieber Anselm, ich glaube, daß wir zu diesem Sinn auf
Erden sind, zu diesem Nachsinnen und Suchen und Horchen auf verlorene
ferne Töne, und hinter ihnen liegt unsere wahre Heimat.“
„Wie schön du das sagst,“ schmeichelte Anselm, und er fühlte in der
eigenen Brust eine fast schmerzende Bewegung, als weise dort ein
verborgener Kompaß unweigerlich seinem fernen Ziele zu. Aber dieses Ziel
war ganz ein andres, als er es seinem Leben geben wollte, und das tat
weh, und war es denn seiner würdig, sein Leben in Träumen hinter
hübschen Märchen her zu verspielen?
Indessen kam ein Tag, da war Herr Anselm von einer einsamen Reise
heimgekehrt und fand sich von seiner kahlen Gelehrtenwohnung so kalt und
bedrückend empfangen, daß er zu seinen Freunden lief und gesonnen war,
die schöne Iris um ihre Hand zu bitten.
„Iris,“ sagte er zu ihr, „ich mag so nicht weiter leben. Du bist immer
meine gute Freundin gewesen, ich muß dir alles sagen. Ich muß eine Frau
haben, sonst fühle ich mein Leben leer und ohne Sinn. Und wen sollte ich
mir zur Frau wünschen als dich, du liebe Blume? Willst du, Iris? Du
sollst Blumen haben, so viele nur zu finden sind, den schönsten Garten
sollst du haben. Magst du zu mir kommen?“
Iris sah ihm lang und ruhig in die Augen, sie lächelte nicht und
errötete nicht und gab ihm mit fester Stimme Antwort:
„Anselm, ich bin über deine Frage nicht erstaunt. Ich habe dich lieb,
obschon ich nie daran gedacht habe, deine Frau zu werden. Aber sieh,
mein Freund, ich mache große Ansprüche an den, dessen Frau ich werden
soll. Ich mache größere Ansprüche, als die meisten Frauen machen. Du
hast mir Blumen angeboten und meinst es gut damit. Aber ich kann auch
ohne Blumen leben, und auch ohne Musik, ich könnte alles das und viel
andres wohl entbehren, wenn es sein müßte. Eins aber kann und will ich
nie entbehren: ich kann niemals auch nur einen Tag lang so leben, daß
nicht die Musik in meinem Herzen mir die Hauptsache ist. Wenn ich mit
einem Manne leben soll, so muß es einer sein, dessen innere Musik mit
der meinen gut und fein zusammenstimmt, und daß seine eigne Musik rein
und daß sie gut zu meiner klinge, muß sein einziges Begehren sein.
Kannst du das, Freund? Du wirst dabei wahrscheinlich nicht weiter
berühmt werden und Ehren erfahren, dein Haus wird still sein, und die
Falten, die ich auf deiner Stirn seit manchem Jahr her kenne, müssen
alle wieder ausgetan werden. Ach, Anselm, es wird nicht gehen. Sieh, du
bist so, daß du immer neue Falten in deine Stirne studieren und dir
immer neue Sorgen machen mußt, und was ich sinne und bin, das liebst du
wohl und findest es hübsch, aber es ist für dich wie für die meisten
doch bloß ein feines Spielzeug. Ach, höre mich wohl: alles, was dir
jetzt Spielzeug ist, ist mir das Leben selbst und müßte es auch dir
sein, und alles, woran du Mühe und Sorge wendest, das ist für mich ein
Spielzeug, ist für meinen Sinn nicht wert, daß man dafür lebe. – Ich
werde nicht mehr anders werden, Anselm, denn ich lebe nach einem Gesetz,
das in mir ist. Wirst aber du anders werden können? Und du müßtest ganz
anders werden, damit ich deine Frau sein könnte.“
Anselm schwieg betroffen vor ihrem Willen, den er schwach und
spielerisch gemeint hatte. Er schwieg und zerdrückte achtlos in der
erregten Hand eine Blume, die er vom Tisch genommen hatte.
Da nahm ihm Iris sanft die Blume aus der Hand – es fuhr ihm wie ein
schwerer Vorwurf ins Herz – und lächelte nun plötzlich hell und
liebevoll, als habe sie ungehofft einen Weg aus dem Dunkel gefunden.
„Ich habe einen Gedanken,“ sagte sie leise und errötete dabei. „Du wirst
ihn sonderbar finden, er wird dir eine Laune scheinen. Aber er ist keine
Laune. Willst du ihn hören? Und willst du ihn annehmen, daß er über dich
und mich entscheiden soll?“
Ohne sie zu verstehen, blickte Anselm seine Freundin an, Sorge in den
blassen Zügen. Ihr Lächeln bezwang ihn, daß er Vertrauen faßte und ja
sagte.
„Ich möchte dir eine Aufgabe stellen,“ sagte Iris und wurde rasch wieder
sehr ernst.
„Tue das, es ist dein Recht,“ ergab sich der Freund.
„Es ist mein Ernst,“ sagte sie, „und mein letztes Wort. Willst du es
hinnehmen, wie es mir aus der Seele kommt, und nicht daran markten und
feilschen, auch wenn du es nicht sogleich verstehst?“
Anselm versprach es. Da sagte sie, indem sie aufstand und ihm die Hand
gab:
„Mehrmals hast du mir gesagt, daß du beim Aussprechen meines Namens
jedesmal dich an etwas Vergessenes erinnert fühlst, was dir einst
wichtig und heilig war. Das ist ein Zeichen, Anselm, und das hat dich
alle die Jahre zu mir hingezogen. Auch ich glaube, daß du in deiner
Seele Wichtiges und Heiliges verloren und vergessen hast, was erst
wieder wach sein muß, ehe du ein Glück finden und das dir Bestimmte
erreichen kannst. – Leb’ wohl, Anselm! Ich gebe dir die Hand und bitte
dich: geh und sieh, daß du das in deinem Gedächtnis wiederfindest, woran
du durch meinen Namen erinnert wirst. Am Tage, wo du es wiedergefunden
hast, will ich als deine Frau mit dir hingehen, wohin du willst, und
keine Wünsche mehr haben als deine.“
Bestürzt wollte der verwirrte Anselm ihr ins Wort fallen und diese
Forderung eine Laune schelten, aber sie mahnte ihn mit einem klaren
Blick an sein Versprechen, und er schwieg still. Mit niedergeschlagenen
Augen nahm er ihre Hand, zog sie an seine Lippen und ging hinaus.
Manche Aufgaben hatte er in seinem Leben auf sich genommen und gelöst,
aber keine war so seltsam, wichtig und dabei so entmutigend gewesen wie
diese. Tage und Tage lief er umher und sann sich daran müde, und immer
wieder kam die Stunde, wo er verzweifelt und zornig diese ganze Aufgabe
eine verrückte Weiberlaune schalt und in Gedanken von sich warf. Dann
aber widersprach tief in seinem Innern etwas, ein sehr feiner,
heimlicher Schmerz, eine ganz zarte, kaum hörbare Mahnung. Diese feine
Stimme, die in seinem eigenen Herzen war, gab Iris recht und tat
dieselbe Forderung wie sie.
You have read 1 text from German literature.
Next - Märchen - 8
  • Parts
  • Märchen - 1
    Total number of words is 4649
    Total number of unique words is 1344
    46.1 of words are in the 2000 most common words
    60.7 of words are in the 5000 most common words
    65.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 2
    Total number of words is 4680
    Total number of unique words is 1439
    44.3 of words are in the 2000 most common words
    58.7 of words are in the 5000 most common words
    64.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 3
    Total number of words is 4629
    Total number of unique words is 1436
    45.7 of words are in the 2000 most common words
    60.4 of words are in the 5000 most common words
    66.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 4
    Total number of words is 4574
    Total number of unique words is 1560
    43.3 of words are in the 2000 most common words
    56.7 of words are in the 5000 most common words
    62.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 5
    Total number of words is 4480
    Total number of unique words is 1673
    36.6 of words are in the 2000 most common words
    50.0 of words are in the 5000 most common words
    55.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 6
    Total number of words is 4580
    Total number of unique words is 1537
    38.5 of words are in the 2000 most common words
    52.6 of words are in the 5000 most common words
    58.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 7
    Total number of words is 4629
    Total number of unique words is 1484
    42.8 of words are in the 2000 most common words
    57.4 of words are in the 5000 most common words
    62.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Märchen - 8
    Total number of words is 2323
    Total number of unique words is 835
    52.6 of words are in the 2000 most common words
    66.7 of words are in the 5000 most common words
    70.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.