Märchen - 5

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schwer! Versuchsweise schwang ich ihn ein wenig durch die Luft, es war
köstlich und durchfloß mich mit Wonnen bis in die Haare. Eine Keule, ein
Gummischlauch war nichts gegen meinen großen Schuh. Calziglione nannte
ich ihn auf italienisch.
Als ich dem Rotbraunen einen ersten spielerischen Schlag mit dem
Calziglione an den Kopf gab, sank der junge Tadellose schon taumelnd auf
den Divan, und die andern und das Zimmer und der schreckliche See
verloren alle Macht über mich. Ich war groß und stark, ich war frei, und
beim zweiten Schlag auf den Kopf des Rotbraunen war schon nichts mehr
von Kampf, nichts mehr von schäbiger Notwehr in meinem Zuhauen, sondern
lauter Jauchzen und befreite Herrenlaune. Auch haßte ich den erlegten
Feind nicht im mindesten mehr, er war mir interessant, er war mir
wertvoll und lieb, ich war ja sein Herr und sein Schöpfer. Denn jeder
gute Schlag mit meiner welschen Schuhkeule formte diesen unreifen und
affigen Kopf, schmiedete ihn, baute ihn, dichtete ihn, mit jedem
formenden Hieb ward er angenehmer, wurde hübscher, feiner, wurde mein
Geschöpf und Werk, das mich befriedigte und das ich liebte. Mit einem
letzten zärtlichen Schmiedehieb trieb ich ihm den spitzen Hinterkopf
gerade hinlänglich nach innen. Er war vollendet. Er dankte mir und
streichelte mir die Hand. „Schon gut,“ winkte ich. Er kreuzte die Hände
vor der Brust und sagte schüchtern: „Ich heiße Paul.“
Wundervoll machtfrohe Gefühle dehnten meine Brust und dehnten den Raum
von mir hinweg, das Zimmer – nichts mehr von „Salon“! – wich beschämt
davon und verkroch sich nichtig; ich stand am See. Der See war
schwarzblau, Stahlwolken drückten auf die finsteren Berge, in den
Fjorden kochte dunkles Wasser schaumig auf, Föhnstöße irrten zwanghaft
und ängstlich in Kreisen. Ich blickte empor und reckte die Hand aus zum
Zeichen, daß der Sturm beginnen möge. Ein Blitz knallte hell und kalt
aus der harten Bläue, senkrecht herab heulte ein warmer Orkan, am Himmel
schoß graues Formengetümmel zerfließend in Marmoradern auseinander.
Große runde Wogen stiegen angstvoll aus dem gepeitschten See, von ihren
Rücken riß der Sturm Schaumbärte und klatschende Wasserfetzen und warf
sie mir ins Gesicht. Die schwarz erstarrten Berge rissen Augen voll
Entsetzen auf. Ihr Aneinanderkauern und Schweigen klang flehentlich.
In dem prachtvoll auf Gespenster-Riesenpferden jagenden Sturm klang
neben mir eine schüchterne Stimme. Oh, ich hatte dich nicht vergessen,
bleiche Frau im langschwarzen Haar. Ich neigte mich zu ihr, sie sprach
kindlich – der See komme, man könne hier nicht sein. Noch schaute ich
gerührt auf die sanfte Sünderin, ihr Gesicht war nichts als stille
Blässe in breiter Haardämmerung, da schlug schon klatschendes Gewoge an
meine Knie und schon an meine Brust, und die Sünderin schwankte wehrlos
und still auf steigenden Wellen. Ich lachte ein wenig, legte den Arm um
ihre Knie und hob sie zu mir empor. Auch dies war schön und befreiend,
die Frau war seltsam leicht und klein, voll frischer Wärme und die Augen
herzlich, vertrauensvoll und erschrocken, und ich sah, sie war gar keine
Sünderin und keine ferne unklare Dame. Keine Sünden, kein Geheimnis; sie
war einfach ein Kind.
Aus den Wellen trug ich sie über Felsen und durch den regenfinsteren,
königlich trauernden Park, wohin der Sturm nicht reichte und wo aus
gesenkten Kronen alter Bäume lauter sanftmenschliche Schönheit sprach,
lauter Gedichte und Symphonien, Welt der holden Ahnungen und lieblich
gezähmten Genüsse, gemalte liebenswerte Bäume von Corot und
ländlich-holde Holzbläsermusik von Schubert, die mich mit flüchtig
aufzuckendem Heimweh mild in ihre geliebten Tempel lockte. Doch umsonst,
viel Stimmen hat die Welt, und für alles hat die Seele ihre Stunden und
Augenblicke.
Weiß Gott, wie die Sünderin, die bleiche Frau, das Kind, ihren Abschied
nahm und mir verlorenging. Es war eine Vortreppe aus Stein, es war ein
Haustor, Dienerschaft war da, alles schwächlich und milchig wie hinter
trübem Glase, und andres, noch wesenloser, noch trüber, Gestalten
windhaft hingeweht, ein Ton von Tadel und Vorwurf gegen mich verleidete
mir das Schattengestöber. Nichts blieb von ihm zurück als die Figur
Paul, mein Freund und Sohn Paul, und in seinen Zügen zeigte und verbarg
sich ein nicht mit Namen zu nennendes, dennoch unendlich wohlbekanntes
Gesicht, ein Schulkameradengesicht, ein vorgeschichtlich sagenhaftes
Kindermagdgesicht, genährt aus den guten, nahrhaften Halberinnerungen
fabelhafter erster Jahre.
Gutes, inniges Dunkel, warme Seelenwiege und verlorne Heimat tut sich
auf, Zeit des ungestalteten Daseins, unentschlossene erste Wallung überm
Quellgrund, unter dem die Ahnenvorzeit mit den Urwaldträumen schläft.
Taste nur, Seele, irre nur, wühle blind im satten Bad schuldloser
Dämmertriebe! Ich kenne dich, bange Seele, nichts ist dir notwendiger,
nichts ist so sehr Speise, so sehr Trank und Schlaf für dich wie die
Heimkehr zu deinen Anfängen. Da rauscht Welle um dich, und du bist
Welle, Wald, und du bist Wald, es ist kein Außen und Innen mehr, du
fliegst Vogel in Lüften, schwimmst Fisch im Meer, saugst Licht und bist
Licht, kostest Dunkel und bist Dunkel. Wir wandern, Seele, wir schwimmen
und fliegen und lächeln und knüpfen mit zarten Geistfingern die
zerrissenen Fäden wieder an, tönen selig die zerstörten Schwingungen
wieder aus. Wir suchen Gott nicht mehr. Wir sind Gott. Wir sind die
Welt. Wir töten und sterben mit, wir schaffen und auferstehen mit unsern
Träumen. Unser schönster Traum, der ist der blaue Himmel, unser
schönster Traum, der ist das Meer, unser schönster Traum, der ist die
sternhelle Nacht, und ist der Fisch, und ist der helle frohe Schall, und
ist das helle frohe Licht – alles ist unser Traum, jedes ist unser
schönster Traum. Eben sind wir gestorben und zu Erde geworden. Eben
haben wir das Lachen erfunden. Eben haben wir ein Sternbild geordnet.
Stimmen tönen, und jede ist die Stimme der Mutter. Bäume rauschen, und
jeder hat über unsrer Wiege gerauscht. Straßen laufen in Sternform
auseinander, und jede Straße ist der Heimweg.
Der, der sich Paul nannte, mein Geschöpf und mein Freund, war wieder da
und war so alt wie ich geworden. Er glich einem Jugendfreunde, doch
wußt’ ich nicht welchem, und ich war darum gegen ihn etwas unsicher und
zeigte einige Höflichkeit. Daraus zog er Macht. Die Welt gehorchte nicht
mehr mir, sie gehorchte ihm, darum war alles vorige verschwunden und in
demütiger Unwahrscheinlichkeit untergegangen, beschämt durch ihn, der
nun regierte.
Wir waren auf einem Platz, der Ort hieß Paris, und vor mir stand ein
eiserner Balken in die Höhe, der war eine Leiter und hatte zu beiden
Seiten schmale eiserne Sprossen, an denen konnte man sich mit den Händen
halten und mit den Füßen auf sie treten. Da Paul es wollte, kletterte
ich hinan und er daneben auf einer ebensolchen Leiter. Als wir so hoch
geklettert waren wie ein Haus und wie ein sehr hoher Baum, begann ich
Bangigkeit zu fühlen. Ich sah zu Paul hinüber, der fühlte keine
Bangigkeit, aber er erriet die meine und lächelte.
Einen Atemzug lang, während er lächelte und ich ihn ansah, war ich ganz
nahe daran, sein Gesicht zu erkennen und seinen Namen zu wissen, eine
Kluft von Vergangenheit riß auf und spaltete sich bis zur Schülerzeit
hinab, zurück bis da, wo ich zwölfjährig war, herrlichste Zeit des
Lebens, alles voll Duft, alles genial, alles mit einem eßbaren Duft von
frischem Brot und mit einem berauschenden Schimmer von Abenteuer und
Heldentum vergoldet – zwölfjährig war Jesus, als er im Tempel die
Gelehrten beschämte, mit zwölf Jahren haben wir alle unsre Gelehrten und
Lehrer beschämt, waren klüger als sie, genialer als sie, tapferer als
sie. Anklänge und Bilder stürmten in Knäueln auf mich ein: vergessene
Schulhefte, Arrest in der Mittagstunde, ein mit der Schleuder getöteter
Vogel, eine Rocktasche klebrig voll gestohlener Pflaumen, wildes
Bubengeplätscher im Schwimmbad, zerrissene Sonntagshosen und innig
schlechtes Gewissen, heißes Abendgebet um irdische Sorgen, wunderbar
heldische Prachtgefühle bei einem Vers von Schiller. – –
Es war nur ein Sekundenblitz, gierig hastende Bilderfolge ohne
Mittelpunkt, im nächsten Augenblick sah Pauls Gesicht mich wieder an,
quälend halbbekannt. Ich war meines Alters nicht mehr sicher, möglich,
daß wir Knaben waren. Tiefer und tiefer unter unsern dünnen
Leitersprossen lag die Straßenmasse, welche Paris hieß. Als wir höher
waren als jeder Turm, gingen unsre Eisenstangen zu Ende und zeigten sich
jede mit einem wagerechten Brett gekrönt, einer winzig kleinen
Plattform. Es schien unmöglich, sie zu erklimmen. Aber Paul tat es
gelassen, und ich mußte auch.
Oben legte ich mich flach aufs Brett und sah über den Rand hinunter, wie
von einer kleinen hohen Wolke. Mein Blick fiel wie ein Stein ins Leere
hinab und kam an kein Ziel, da machte mein Kamerad eine deutende
Gebärde, und ich blieb an einem wunderlichen Anblick haften, der mitten
in den Lüften schwebte. Da sah ich, über einer breiten Straße in der
Höhe der höchsten Dächer, aber noch unendlich tief unter uns, eine
fremdartige Gesellschaft in der Luft, es schienen Seiltänzer zu sein,
und wirklich lief eine der Figuren auf einem Seil oder einer Stange
dahin. Dann entdeckte ich, daß es sehr viele waren und fast lauter junge
Mädchen, und sie schienen mir Zigeuner oder wanderndes Volk zu sein. Sie
gingen, lagerten, saßen, bewegten sich in Dachhöhe auf einem luftigen
Gerüste aus dünnsten Latten und laubenähnlichem Gestänge, sie wohnten
dort und waren heimisch in dieser Region. Unter ihnen war die Straße zu
ahnen, ein feiner schwebender Nebel reichte von unten her bis nahe an
ihre Füße.
Paul sagte etwas darüber. „Ja,“ antwortete ich, „es ist rührend, alle
die Mädchen.“
Wohl war ich viel höher als jene, aber ich klebte angstvoll auf meinem
Posten, sie indessen schwebten leicht und angstlos, und ich sah, ich war
zu hoch, ich war am falschen Ort. Jene hatten die richtige Höhe, nicht
am Boden und doch nicht so teuflisch hoch und fern wie ich, nicht unter
den Leuten und doch nicht so ganz vereinsamt, außerdem waren sie viele.
Ich sah wohl, daß sie eine Seligkeit darstellten, die ich noch nicht
erreicht hatte.
Aber ich wußte, daß ich irgendeinmal wieder an meiner ungeheuren Leiter
werde hinabklettern müssen, und der Gedanke daran war so beklemmend, daß
ich Übelkeit spürte und es keinen Augenblick mehr hier oben aushalten
konnte. Verzweiflungsvoll und zitternd vor Schwindel tastete ich mit den
Füßen unter mir nach den Leitersprossen – sehen konnte ich sie vom Brett
aus nicht – und hing grauenvolle Minuten, krampfhaft angeklammert, in
der schlimmen Höhe. Niemand half mir, Paul war fort.
In tiefer Bangigkeit tat ich gefährliche Tritte und Griffe, und ein
Gefühl hüllte mich wie Nebel ein, ein Gefühl, daß nicht die hohe Leiter
und der Schwindel es waren, was ich auszukosten und durchzumachen habe.
Alsbald verlor sich denn auch die Sichtbarkeit und Ähnlichkeit der
Dinge, es war alles Nebel und unbestimmt. Bald hing ich noch in den
Sprossen und spürte Schwindel, bald kroch ich klein und bang durch
furchtbar enge Erdschächte und Kellergänge, bald watete ich hoffnungslos
im Sumpf und Kot und fühlte wüsten Schlamm mir bis zum Munde steigen.
Dunkel und Hemmung überall. Furchtbare Aufgaben mit ernstem, doch
verhülltem Sinn. Angst und Schweiß, Lähmung und Kälte. Schweres Sterben,
schweres Geborenwerden.
Wieviel Nacht ist um uns her! Wieviel bange, arge Qualenwege gehen wir,
geht tief im Schacht unsre verschüttete Seele, ewiger armer Held, ewiger
Odysseus! Aber wir gehen, wir gehen, wir bücken uns und waten, wir
schwimmen erstickend im Schlamm, wir kriechen die glatten bösen Wände
hinan. Wir weinen und verzagen, wir jammern bang und heulen leidend auf.
Aber wir gehen weiter, wir gehen und leiden, wir gehen und beißen uns
durch.
Wieder stellte aus dem trüben Höllenqualme Bildlichkeit sich her, wieder
lag ein kleines Stück des finsteren Pfades vom gestaltenden Licht der
Erinnerungen beschienen, und die Seele drang aus dem Urweltlichen in den
heimatlichen Bezirk der Zeit.
Wo war das? Bekannte Dinge sahen mich an, ich atmete Luft, die ich
wiedererkannte. Ein Zimmer, groß im Halbdunkel, eine Erdöllampe auf dem
Tisch, meine eigne Lampe, ein großer runder Tisch, etwa wie ein Klavier.
Meine Schwester war da und mein Schwager, vielleicht bei mir zu Besuch
oder vielleicht ich bei ihnen. Sie waren still und sorgenvoll, voll
Sorgen um mich. Und ich stand im großen und düsteren Zimmer, ging hin
und her und stand und ging in einer Wolke von Traurigkeit, in einer Flut
voll bitterer, erstickender Traurigkeit. Und nun fing ich an, irgend
etwas zu suchen, nichts Wichtiges, ein Buch oder eine Schere oder so
etwas, und konnte es nicht finden. Ich nahm die Lampe in die Hand, sie
war schwer, und ich war furchtbar müde, ich stellte sie bald wieder ab
und nahm sie doch wieder und wollte suchen, suchen, obwohl ich wußte,
daß es vergeblich sei. Ich würde nichts finden, ich würde alles nur noch
mehr verwirren, die Lampe würde mir aus den Händen fallen, sie war so
schwer, so quälend schwer, und so würde ich weiter tasten und suchen und
durchs Zimmer irren, mein ganzes armes Leben lang.
Mein Schwager sah mich an, ängstlich und etwas tadelnd. Sie merken, daß
ich wahnsinnig werde, dachte ich schnell und nahm wieder die Lampe.
Meine Schwester trat zu mir, still, mit bittenden Augen, voller Angst
und Liebe, daß mir das Herz brechen wollte. Ich konnte nichts sagen, ich
konnte nur die Hand ausstrecken und abwinken, abwehrend winken, und ich
dachte: Laßt mich doch! Laßt mich doch! Ihr könnt ja nicht wissen, wie
mir ist, wie weh mir ist, wie furchtbar weh! Und wieder: Laßt mich doch!
Laßt mich doch!
Das rötliche Lampenlicht floß schwach durchs große Zimmer, Bäume
stöhnten draußen im Wind. Einen Augenblick glaubte ich die Nacht draußen
innerlichst zu sehen und zu fühlen: Wind und Nässe, Herbst, bitterer
Laubgeruch, Blättergestiebe vom Ulmenbaum, Herbst, Herbst! Und wieder
einen Augenblick lang war ich nicht ich selber, sondern sah mich wie ein
Bild: ich war ein bleicher, hagerer Musiker mit flackernden Augen, der
hieß Hugo Wolf und war an diesem Abend im Begriff, wahnsinnig zu werden.
Dazwischen mußte ich wieder suchen, hoffnungslos suchen und die schwere
Lampe heben, auf den runden Tisch, auf den Sessel, auf einen Bücherstoß.
Und mußte mit flehenden Gebärden abwehren, wenn meine Schwester mich
wieder traurig und behutsam anblickte, mich trösten wollte, mir nahe
sein und helfen wollte. Die Trauer in mir wuchs und füllte mich zum
Zerspringen, und die Bilder um mich her waren von einer ergreifend
beredten Deutlichkeit, viel deutlicher, als jede Wirklichkeit sonst ist;
ein paar Herbstblumen im Wasserglas, eine dunkelrotbraune Georgine
darunter, glühten in so schmerzlich schöner Einsamkeit, jedes Ding und
auch der blinkende Messingfuß der Lampe war so verzaubert schön und von
so schicksalsvoller Einsamkeit umdrungen wie auf den Bildern der großen
Maler.
Ich spürte mein Schicksal deutlich. Noch ein Schatten mehr in diese
Traurigkeit, noch ein Blick der Schwester, noch ein Blick der Blumen,
der schönen seelenvollen Blumen – dann floß es über, und ich sank im
Wahnsinn unter. „Laßt mich! Ihr wißt ja nicht!“ Auf der polierten Wand
des Klaviers lag ein Strahl Lampenlicht im schwärzlichen Holz
gespiegelt, so schön, so geheimnisvoll, so gesättigt von Schwermut!
Jetzt erhob sich meine Schwester wieder, sie ging gegen das Klavier
hinüber. Ich wollte bitten, wollte innig abwehren, aber ich konnte
nicht, es reichte keinerlei Macht mehr aus meiner Vereinsamung heraus
und zu ihr hinüber. Oh, ich wußte, was jetzt kommen mußte. Ich kannte
die Melodie, die jetzt zu Wort kommen und alles sagen und alles
zerstören mußte! Ungeheure Spannung zog mein Herz zusammen, und während
die ersten glühenden Tropfen mir aus den Augen sprangen, stürzte ich
mich mit Kopf und Händen über den Tisch hin und hörte und empfand mit
allen Sinnen und mit neuen Sinnen dazu, Text und Melodie zugleich,
Wolfsche Melodie, den Vers:
Was wisset ihr, dunkle Wipfel,
Von der alten schönen Zeit?
Die Heimat hinter den Gipfeln,
Wie liegt sie so weit, so weit!
Damit glitt vor mir und in mir die Welt auseinander, versank in Tränen
und Tönen, nicht zu sagen wie hingegossen, wie strömend, wie gut und
schmerzlich! O Weinen, o süßes Zusammenbrechen, seliges Schmelzen. Alle
Bücher der Welt voll Gedanken und Gedichte sind nichts gegen eine Minute
Schluchzen, wo Gefühl in Strömen wogt, Seele tief sich selber fühlt und
findet. Tränen sind schmelzendes Seeleneis, dem Weinenden sind alle
Engel nah.
Ich weinte mich, alle Anlässe und Gründe vergessend, von der Höhe
unerträglicher Spannung in die milde Dämmerung alltäglicher Gefühle
hinab, ohne Gedanken, ohne Zeugen. Dazwischen flatternde Bilder: ein
Sarg, darin lag ein mir so lieber, so wichtiger Mensch, doch wußte ich
nicht wer. Vielleicht du selber, dachte ich, da fiel ein andres Bild mir
ein, aus großer zarter Ferne her. Hatte ich nicht einmal, vor Jahren
oder in einem früheren Leben, ein wunderbares Bild gesehen: ein Volk von
jungen Mädchen hoch in Lüften hausend, wolkig und schwerelos, schön und
selig, leichtschwebend wie Luft und satt wie Streichmusik?
Jahre flogen dazwischen, drängten mich sanft und mächtig von dem Bilde
weg. Ach, vielleicht hatte mein ganzes Leben nur den Sinn gehabt, diese
holden schwebenden Mädchen zu sehen, zu ihnen zu kommen, ihresgleichen
zu werden! Nun sanken sie fern dahin, unerreichbar, unverstanden,
unerlöst, von zweifelnder Sehnsucht müd umflattert.
Jahre fielen wie Schneeflocken herab, und die Welt war verändert.
Betrübt wanderte ich einem kleinen Hause entgegen. Mir war recht elend
zumut, und ein banges Gefühl im Munde hielt mich befangen, ängstlich
tastete ich mit der Zunge an einen zweifelhaften Zahn, da sank er schon
schräg weg und war ausgefallen. Der nächste – auch er! Ein ganz junger
Arzt war da, dem ich klagte, dem ich bittend einen Zahn mit den Fingern
entgegenhielt. Er lachte leichtherzig, winkte mit fataler Berufsgebärde
ab und schüttelte den jungen Kopf – das mache nichts, ganz harmlos,
komme jeden Tag vor. Lieber Gott, dachte ich. Aber er fuhr fort und
deutete auf mein linkes Knie: da sitze es, da sei hingegen nimmer zu
spaßen. Furchtbar schnell griff ich ans Knie hinab – da war es! Da war
ein Loch, in das ich den Finger legen konnte, und statt Haut und Fleisch
nichts zu ertasten als eine gefühllose, weiche, lockere Masse, leicht
und faserig wie welkes Pflanzengewebe. O mein Gott, das war der Verfall,
das war Tod und Fäulnis! „Da ist nichts mehr zu machen?“ fragte ich mit
mühsamer Freundlichkeit. „Nichts mehr,“ sagte der junge Arzt und war
weg.
Ich ging erschöpft dem Häuschen entgegen, nicht so verzweifelt, wie ich
hätte sein müssen, sogar fast gleichgültig. Ich mußte jetzt in das
Häuschen gehen, wo meine Mutter mich erwartete – hatte ich nicht ihre
Stimme schon gehört? ihr Gesicht gesehen? Stufen führten hinauf,
wahnsinnige Stufen, hoch und glatt ohne Geländer, jede ein Berg, ein
Gipfel, ein Gletscher. Es wurde gewiß zu spät – sie war vielleicht schon
fort, vielleicht schon tot? Hatte ich sie eben nicht wieder rufen hören?
Schweigend rang ich mit dem steilen Stufengebirge, fallend und
gequetscht, wild und schluchzend, klomm und preßte mich, stemmte
brechende Arme und Knie auf, und war oben, war am Tor, und die Stufen
waren wieder klein und hübsch und von Buchsbaum eingefaßt. Jeder Schritt
ging zäh und schwer wie durch Schlamm und Leim, kein Vorwärtskommen, das
Tor stand offen, und drinnen ging in einem grauen Kleid meine Mutter,
ein Körbchen im Arm, still und in Gedanken. Oh, ihr dunkles, schwach
ergrautes Haar im kleinen Netz! Und ihr Gang, die kleine Gestalt! Und
das Kleid, das graue Kleid – hatte ich denn alle die vielen, vielen
Jahre her ihr Bild ganz verloren, gar niemals richtig mehr an sie
gedacht?! Da war sie, da stand und ging sie, nur von hinten zu sehen,
ganz wie sie war, ganz klar und schön, lauter Liebe, lauter
Liebesgedanke!
Wütend watete mein lahmer Schritt in der zähen Luft, Pflanzenranken wie
dünne starke Seile umschlangen mich mehr und mehr, feindseliges Hemmnis
überall, kein Vorwärtskommen! „Mutter!“ rief ich – aber es gab keinen
Ton ... Es klang nicht. Es war Glas zwischen ihr und mir.
Meine Mutter ging langsam weiter, ohne zurückzublicken, still in
schönen, sorglichen Gedanken, strich mit der wohlbekannten Hand einen
unsichtbaren Faden vom Kleide, bückte sich über ihr Körbchen zum
Nähzeug. O das Körbchen! Darin hatte sie mir einmal Ostereier versteckt.
Ich schrie verzweifelt und lautlos. Ich lief und kam nicht vom Ort!
Zärtlichkeit und Wut zerrten an mir.
Und sie ging langsam weiter durch das Gartenhaus, stand in der
jenseitigen offenen Tür, schritt ins Freie hinaus. Sie senkte den Kopf
ein wenig zur Seite, sanft und horchend, ihren Gedanken nach, hob und
senkte das Körbchen – ein Zettel fiel mir ein, den ich als Knabe einmal
in ihrem Körbchen fand, darauf stand von ihrer leichten Hand
aufgeschrieben, was sie für den Tag zu tun und zu bedenken vorhatte –
„Hermanns Hosen ausgefranst – Wäsche einlegen – Buch von Dickens
entlehnen – Hermann hat gestern nicht gebetet.“ – Ströme der Erinnerung,
Lasten von Liebe!
Umschnürt und gefesselt stand ich am Tor, und drüben ging die Frau im
grauen Kleide langsam hinweg, in den Garten, und war fort.


Faldum

Geo Reinhart gewidmet

Der Jahrmarkt
Die Straße, die nach der Stadt Faldum führte, lief weit durch das
hüglige Land, bald an Wäldern hin oder an grünen, weiten Weiden, bald an
Kornfeldern vorbei, und je mehr sie sich der Stadt näherte, desto
häufiger standen Gehöfte, Meiereien, Gärten und Landhäuser am Wege. Das
Meer lag weit entfernt, man sah es nicht, und die Welt schien aus nichts
anderm zu bestehen als aus kleinen Hügeln, kleinen hübschen Tälern, aus
Weiden, Wald, Ackerland und Obstwiesen. Es war ein Land, das an Frucht
und Holz, an Milch und Fleisch, an Äpfeln und Nüssen keinen Mangel litt.
Die Dörfer waren recht hübsch und sauber, und die Leute waren im ganzen
brav und fleißig und keine Freunde von gefährlichen oder aufregenden
Unternehmungen, und ein jeder war zufrieden, wenn es seinem Nachbar
nicht besser ging als ihm selber. So war das Land Faldum beschaffen, und
ähnlich sind die meisten Länder in der Welt, solange nicht besondere
Dinge sich ereignen.
Die hübsche Straße nach der Stadt Faldum (sie hieß wie das Land) war an
diesem Morgen seit dem ersten Hahnenschrei so lebhaft begangen und
befahren, wie es nur einmal im Jahre zu sehen war, denn in der Stadt
sollte heute der große Markt abgehalten werden, und auf zwanzig Meilen
rundum war kein Bauer und keine Bäuerin, kein Meister und kein Gesell
noch Lehrbube, kein Knecht und keine Magd und kein Junge oder Mädchen,
die nicht seit Wochen an den großen Markt gedacht und davon geträumt
hätten, ihn zu besuchen. Alle konnten ja nun nicht gehen; es mußte auch
für Vieh und kleine Kinder, für Kranke und Alte gesorgt werden, und wen
das Los getroffen hatte, daß er dableiben mußte, um Haus und Hof zu
hüten, dem schien fast ein Jahr seines Lebens verloren, und es tat ihm
leid um die schöne Sonne, die schon seit aller Frühe warm und festlich
am blauen Spätsommerhimmel stand.
Mit kleinen Körbchen am Arm kamen die Frauen und Mägde gegangen und die
Burschen mit rasierten Wangen, und jeder mit einer Nelke oder Aster im
Knopfloch, alles im Sonntagsputz, und die Schulmädchen mit sorgfältig
gezöpften Haaren, die noch feucht und fett in der Sonne glänzten. Wer
kutschierte, der trug eine Blume oder ein rotes Bändchen an den
Peitschenstiel gebunden, und wer es vermochte, dessen Rosse hatten bis
zu den Knien am breiten Schmuckleder die blankgeputzten Messingscheiben
hängen. Es kamen Leiterwagen gefahren, über denen aus rundgebogenen
Buchenästen ein grünes Dach gebaut war, und darunter saßen dichtgedrängt
die Leute, mit Körben oder Kindern auf dem Schoß, und die meisten sangen
laut im Chor, und dazwischen kam hin und wieder, besonders geschmückt
mit Fahnen und mit Papierblumen rot und blau und weiß im grünen
Buchenlaub, ein Wagen, aus dem quoll eine schallende Dorfmusik hervor,
und zwischen den Ästen im Halbschatten sah man die goldenen Hörner und
Trompeten leise und köstlich funkeln. Kleine Kinder, die schon seit
Sonnenaufgang hatten laufen müssen, fingen zu weinen an und wurden von
schwitzenden Müttern getröstet, manches fand bei einem gutmütigen
Fuhrmann Aufnahme. Eine alte Frau schob ein Paar Zwillinge im
Kinderwagen mit, und beide schliefen, und zwischen den schlafenden
Kinderköpfen lagen auf dem Kissen, nicht weniger rund und rotwangig zwei
schöngekleidete und gestrählte Puppen.
Wer da am Wege wohnte und nicht selber heute nach dem Jahrmarkt
unterwegs war, der hatte einen unterhaltsamen Morgen und beständig beide
Augen voll zu schauen. Es waren aber wenige. Auf einer Gartentreppe saß
ein zehnjähriger Junge und weinte, weil er allein bei der Großmutter
daheim bleiben sollte. Als er aber genug gesessen und geweint hatte und
gerade ein paar Dorfbuben vorübertraben sah, da sprang er mit einem Satz
auf die Straße und schloß sich ihnen an. Nicht weit davon wohnte ein
alter Junggeselle, der nichts vom Jahrmarkt wissen wollte, weil das Geld
ihn reute. Er hatte sich vorgenommen, am heutigen Tage, wo alles
feierte, ganz still für sich die hohe Weißdornhecke an seinem Garten zu
beschneiden, denn sie hatte es nötig, und er war auch, kaum daß der
Morgentau ein wenig vergangen war, mit seiner großen Hagschere munter
ans Werk gegangen. Aber schon nach einer kleinen Stunde hatte er wieder
aufgehört und sich zornig ins Haus verkrochen, denn es war kein Bursch
vorübergegangen oder -gefahren, der nicht dem Heckenschneiden verwundert
zugesehen und dem Manne einen Witz über seinen unzeitigen Fleiß
zugeworfen hatte, und die Mädchen hatten dazu gelacht; und wenn er
wütend wurde und mit seiner langen Schere drohte, dann hatte alles die
Hüte geschwenkt und ihm lachend zugewinkt. Nun saß er drinnen hinter
geschlossenen Läden, äugte aber neidisch durch die Spalten hinaus, und
als sein Zorn mit der Zeit vergangen war und er die letzten spärlichen
Marktgänger vorübereilen und -hasten sah, als ginge es um die Seligkeit,
da zog er Stiefel an, tat einen Taler in den Beutel, nahm den Stock und
wollte gehen. Da fiel ihm schnell ein, ein Taler sei doch viel Geld; er
nahm ihn wieder heraus, tat statt seiner einen halben Taler in den
ledernen Beutel und schnürte ihn zu. Dann steckte er den Beutel in die
Tasche, verschloß das Haus und die Gartentür und lief so hurtig, daß er
bis zur Stadt noch manchen Fußgänger und sogar zwei Wagen überholte.
Fort war er, und sein Haus und Garten standen leer, und der Staub über
der Straße begann sich sacht zu legen, Pferdegetrab und Blechmusiken
waren verklungen und verflogen, schon kamen die Sperlinge von den
Stoppelfeldern herüber, badeten sich im weißen Staub und besahen, was
von dem Tumult übriggeblieben war. Die Straße lag leer und tot und heiß,
ganz aus der Ferne wehte zuweilen noch schwach und verloren ein Jauchzer
und ein Ton wie von Hörnermusik.
Da kam aus dem Walde hervor ein Mann gegangen, den breiten Hutrand tief
über die Augen gezogen, und wanderte ganz ohne Eile allein auf der
verödeten Landstraße fort. Er war groß gewachsen und hatte den festen,
ruhigen Schritt, wie ihn Wanderer haben, welche sehr viel zu Fuß gereist
sind. Gekleidet war er grau und unscheinbar, und aus dem Hutschatten
blickten seine Augen sorgfältig und ruhig wie die Augen eines Menschen,
der weiter nichts von der Welt begehrt, aber jedes Ding mit
Aufmerksamkeit betrachtet und keins übersieht. Er sah alles, er sah die
unzähligen verwirrten Wagenspuren dahinlaufen, er sah die Hufspuren
eines Rosses, das den linken Hinterhuf nachgeschleift hatte, er sah in
der Ferne aus einem staubigen Dunst klein mit schimmernden Dächern die
Stadt Faldum am Hügel ragen, er sah in einem Garten eine kleine alte
Frau voll Angst und Not umherirren und hörte sie nach jemand rufen, der
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