Gabriel Schillings Flucht: Drama - 4

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Sie lieben, scheint es, über alles die Einsamkeit.
Mäurer
(lustig erregt):
Ich bin ein Gott, wenn ich sechs bis acht Stunden täglich ausschließlich
mir überlassen bin. Ein Tag in Gesellschaft macht mich zu jenem
geschlagenen, ausgeplünderten, armen Mann, der von Jerusalem nach
Jericho zog und unter die Mörder fiel.
Fräulein Majakin:
Oh, ich liebe Gesellschaft, ich liebe die Menschen!
Mäurer:
Und also gefällt Ihnen höchst wahrscheinlich unsre Insel, wo es keine
Wiener Cafés, keine Konzerte und keine Theater gibt, nicht?
Fräulein Majakin:
Oh nein, ich begreife wohl, wie dies alles von eine beängstigend kalte
Größe und Schönheit ist. Nur ich leide in solche Umgebung an eine
schwere Empfindung von die eigne Geringfügigkeit und Verlassenheit.
Dagegen ich liebe, wie eine Gott: der Mensch! Mir sagen nichts diese
tote Sandhügel, wo nichts auf die Schrei meines Herzens hört. Ich bin
für ihr nicht, und sie sind für mir nicht, und nur der Mensch ist dem
Menschen Gott, Himmel, Welt, Heimat und Zufluchtsort. Ich kann in die
tote Natur keine Sinn bringen.
Mäurer
(verdutzt):
Wie alt sind Sie denn, Fräulein Majakin?
Fräulein Majakin:
Ich bin vor drei Tagen siebzehn geworden.
Mäurer:
Da gratulier ich nachträglich noch!
Lucie kommt in ihrer temperamentvollen Art über die Dünen nach
vorn.
Lucie:
Du läßt uns ja auf hinterlistige Weise im Stich, lieber Ottfried!
Mäurer
(kühl):
Wieso?
Lucie:
Ich störe doch nicht hier ebenfalls?
Mäurer
(kurz trocken):
Wieso ebenfalls? -- Keineswegs doch, Lucie.
Lucie stutzt, lacht und nimmt mit einigem Abstand auf der Erde
Platz. Sie zupft Halme aus und kaut sie, zugleich Mäurer und
Fräulein Majakin unauffällig beobachtend.
Lucie:
Dein schnelles Abbiegen hat, glaub ich, den guten Schilling etwas
gekränkt, Ottfried.
Mäurer
(antwortet Lucien durch einen Blick über die Augengläser, wobei er
erstaunt und mit Mißbilligung ihrer Indiskretion den Kopf
schüttelt, schließlich wendet er sich mit Achselzucken von ihr ab
und zu Fräulein Majakin):
Wovon sprachen wir doch, Fräulein Majakin?
Fräulein Majakin:
Oh, verzeihen Sie, Herr Professor, was mögen dies wohl für alte Ruinen
sein?
Mäurer:
Es sind Reste von einem Kloster einer alten, ehemaligen
Franziskaneransiedlung. Hier hausten die grauen Mönche von Stralsund.
Man findet noch alte Kellergewölbe, und ich weiß bestimmt, wer an
Geister glaubt, der kann die Fratres und Patres noch sehen nachts ihre
Messe zelebrieren und Umzug halten.
Lucie:
Kannst du mir eigentlich sagen, Ottfried, ob dort nach Westen zu in der
See noch andre Inseln sind?
Mäurer:
Nein.
Lucie:
Ich höre den ganzen Tag, und zwar ununterbrochen, Glockenläuten.
Mäurer:
Ich auch. Es kann eine Glockenboje, aber noch wahrscheinlicher absolute
Gehörstäuschung sein.
Fräulein Majakin:
Ich zweifle fast an die Wirklichkeit, wenn ich denke, daß mich der
glühende Wunsch von meine unreife Mädchenjahre, Sie zu sehen, nun auf
diese unbekannte, einsame Insel, in diese fremde, sonderbare Umgebung
auf einmal ganz wunderbar erfüllt worden ist. (Sie blickt auf ihre
Hände, die etwas zerpflücken.)
Schilling und Hanna Elias erscheinen im Hintergrund.
Schilling
(mit faxenhaften Gebärden, schreiend):
Ahoi! -- Kuckuck! Ahoi, Kuckuck!
Mäurer
(nervös beunruhigt):
Beinahe möchte ich gegen Sie ehrlich sein. Ich stimme nicht ... ich weiß
nicht, woran es liegt ... ich sympathisiere mit Ihrer Freundin Hanna
Elias nicht. Ich gerate in einen, wir Deutsche nennen das rappligen
Zustand. Ich bin ungerecht, es reizt mich an dieser Persönlichkeit jede
Miene, jede Bewegung, jedes Wort. Wenn es Ihnen recht ist und Sie meine
Gesellschaft nicht lästig finden, so könnten wir ihnen vielleicht noch
für einige Zeit, um die Kirchhofmauer herum, aus dem Wege gehn.
Lucie
(mit Entschlossenheit):
Damit würdest du Schilling bitter beleidigen!
Schilling
(wie vorher, etwas näher):
Ahoi, Kuckuck!
Der Kuckucksruf, den Schilling laut und ziemlich getreu nachmacht,
wird vom Echo, aus der Gegend des Kirchhofs, jedesmal stark und
deutlich wiederholt.
Mäurer
(zuckt mit den Achseln, wird vor Ärger rot und sagt scheinbar
gleichgültig):
Wo werden Sie denn im kommenden Winter sein, Fräulein Majakin?
Fräulein Majakin:
In Berlin. Mein Vater gedenkt bis zu Ende März in die dortige Bibliothek
zu arbeiten.
Schilling
(noch näher):
Kuckuck! -- (Echo: Kuckuck!) -- Ahoi! -- (Echo: Ahoi!) Hört ihr
den Kuckuck, Kinder?
Mäurer
(ruft dagegen):
Im Herbst einen Kuckuck? Botanik schwach!
Schilling
(äußerlich übertrieben forsch, in heimlich bettelnder
Verlegenheit):
Ehrenwort, Ottfried! Kannst du nicht hören?
Lucie
(zu Ottfried):
Du kannst dich auch überzeugen, daß unter den toten Vögeln, die nachts
an den Scheiben des Leuchtfeuers zugrunde gehn, und die um den
Leuchtturm unten herum liegen, auch der Kuckuck ist.
Schilling
(wie vorher):
Kuckuck! -- (Echo: Kuckuck) -- Kuckuck! -- (Echo: Kuckuck).
Mäurer:
Du bist ja recht spaßhaft aufgelegt.
Schilling:
Ihr lacht, weil ihr nicht wißt, wer da eigentlich antwortet.
Mäurer:
Na, ich denke ein Kuckuck!
Schilling:
Ja Kuchen, Ottfried! Das ist der spaßhafte Anton mit der Sense, der
hinter der Leichenhalle sitzt! -- Hört ihr ihn denn nicht dengeln, Kinder?
(Man hört das Geräusch eines Dengelnden.) Kuckuck! -- (Echo: Kuckuck!
lauter, als vorher.) (Die Gesellschaft bricht in krampfhaftes Lachen
aus.) Wer hat gute Augen von den Herrschaften? Der lese mal, was hinten
auf dem Spritzenhaus, oder wollte sagen auf der Totenkapelle,
geschrieben steht!
Lucie
(liest langsam und laut):
»Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle,
wo ist dein Sieg? Erster Corinther fünfundfünfzig.«
Schilling
(mit theatralischer Geste und Wildheit):
Kuckuck! -- (Echo: Kuckuck!) -- Kuckuck -- (Echo) -- Kuckuck -- (Echo).
Mäurer:
Nanu hör aber mal auf mit dem gruseligen Unsinn.
(Schilling ist mit Hanna Elias, die sehr bleich ist,
herangekommen.)
Schilling
(krampfhaft unbefangen):
Ich gestatte mir, vorzustellen: Ottfried Mäurer, Frau Hanna Elias,
langjährige, brave Freundin meinerseits. Ein Königreich für ein Glas
Pilsener Bier, meine Herrschaften.
Mäurer:
Wieder verschwitzt -- Donnerwetter noch mal! Gleich, wenn wir zu Hause
kommen, wird nach Stralsund telegraphiert, und morgen hast du ein ganzes
Faß davon.
Hanna
(laut zu Fräulein Majakin):
Er war schrecklich niedergedrückt, wie er sagt, und nun ist ihm die
heitere Laune wiedergekommen.
Schilling
(mit ironischer Begeisterung):
Das ist die unendliche Freude, Freude, Freude, mein liebes Kind!
Hanna
(finster):
Oh, ich nehme nicht an, daß etwa nur ich die einzige Ursache deiner
Freude bin. Dennoch fühl ich sehr wohl, wie wichtig es war, hierher zu
kommen.
Schilling
(mit ironischem Pathos):
Ich danke, du opferfreudiges Weib.
Mäurer:
Vielleicht interessiert es Sie, Fräulein Majakin, einen Blick auf die
ärmlichen, namenlosen Gräber zu tun.
Schilling:
Willst du dich wieder drücken, Ottfried?
Mäurer:
Mich drücken? Wieso? Ich verstehe dich nicht.
Schilling:
Weil dir vielleicht die Gesellschaft eines Künstlers, der nicht so viel
solides Sitzfleisch hat wie du, störend ist.
Mäurer
(schneidend):
Ich stehe bei meiner Arbeit meistens. -- Wir kommen gleich wieder; ich
zeige der Dame nur mal einige der eigentümlichen Inschriften, die auf
dem Kirchhof sind.
Schilling:
Ein toter Heuschreck hopst nicht mehr.
Mäurer:
Wie meinst du?
Schilling:
Das wäre auch so 'ne nette Inschrift. Dort oben liegen nämlich Leute,
die ohne zu wissen wie auf diese Insel gekommen sind.
Mäurer:
Jawohl, es sind gestrandete Seeleute.
Schilling:
Sie sind sonst ziemlich mit heiler Haut, die Füße voran, hier angelangt.
Nur mit etwas durchnäßten Unterhosen. Aber die trocknen schon wieder mit
der Zeit. Manche ohne Hut, einige sogar ohne Strümpfe. Einem wackren
Seemanne macht das nichts! Man kann ja pumpen, pumpen, pumpen sein Leben
lang.
Mäurer:
Wenn das deine neuerworbene gute Laune sein soll, lieber Schilling, dann
wünsch ich mir wirklich deine sogenannte schlechte Stimmung von heute
morgen zurück! -- Entschuldige uns einen Augenblick.
Mäurer entfernt sich mit Fräulein Majakin, und man sieht ihn durch
eine kleine Gitterpforte den Kirchhof betreten. Schilling blickt
ihnen nach, zuckt die Achseln, lacht kurz in sich hinein, nimmt auf
der Bank Platz und zieht Hanna neben sich, mit dem Blick immer noch
das Paar auf dem Kirchhof verfolgend. Alsdann fährt er schnell
herum und sieht mit einem verlorenen Lächeln Lucie an, die noch
ruhig im Sande liegt.
Schilling:
Ja ja, so geht's in der Welt, Fräulein Lucie.
Lucie
(antwortet, in dem sie Thymian in der Handfläche reibt, mit
Bedeutung):
Der Mensch denkt, und der Kutscher lenkt.
Hanna:
Gott sei Dank, ich habe es schon auf der Züricher Universität verlernt,
mir von Männern, die unhöflich sind, imponieren zu lassen.
Schilling:
Und auch Leute, die auf ihren Erfolgen, wie auf Stelzen gehn, imponieren
mir nicht.
Lucie:
Das kommt Ihnen nicht aus dem Herzen, Schilling. -- (Sie erhebt
sich): -- Übrigens, Schilling, wenn Ottfried wiederkommt, und er etwa
mich, was ich nicht glaube, vermissen sollte, sagen Sie, bitte, ich wäre
zuhaus.
Schilling
(mit Beziehung auf Fräulein Majakin, Luciens Worte wiederholend):
Der Mensch denkt, und der Kutscher lenkt! Es ist kein Verlaß in solchen
Sachen. Die Überraschungen hören nicht auf. -- (Mit Augenzwinkern): --
Wollen wir mal schlau nach dem Rechten sehn?
Schilling hat sich erhoben und schleicht mit komischer Vorsicht,
als ob er Mäurer und Majakin belauschen wollte, gegen die
Kirchhofmauer, die er erklettert.
Lucie
(unwillkürlich lachend):
Fallen Sie bloß nicht da runter, Schilling!
Schilling:
Und besonders nicht nach innen hinein!
Lucie:
Nein; lieber, wenn's geht, noch mal nach außen.
Schilling tut einen absichtlich komischen Fall von der Mauer nach
außen. Lucie läuft lachend davon und verschwindet. Schilling steht
da und putzt sich die Kleider ab.
Hanna:
Gabriel, hast du dir weh getan?
Schilling:
Keine Spur! Ich glaube, ich rutschte freiwillig runter. -- (Sie an sich
ziehend, heiß, ihr ins Ohr): -- Woll'n wir nochmal in die Dünen
gehn? -- Bernstein suchen, mein ich natürlich.
Hanna
(bleich und erregt):
Tu alles nach deinem Belieben mit mir.
Schilling:
Komisch, die wilden Schwäne, die über uns hinleierten! Bist du
erschrocken?
Hanna:
Ein wenig!
Schilling:
Ich nicht. Meinethalben könnten es Viecher mit Klauen gewesen sein, ich
hätte dich doch nicht losgelassen! Du Schwarze, du Schneekühle, du Braut
von Korinth! -- (Er stutzt): Siehst du Mäurer?
Hanna:
Gott sei Dank, nein, ich sehe ihn nicht.
Schilling
(schadenfroh, geheimnisvoll):
Er hat auf die Majakin angebissen.
Hanna:
Nun, weder als Künstler, noch auch als Mensch, ich bewundere ihn nicht.
Er kann nur wehrlose Frauen beleidigen.
Schilling
(mit spaßhafter Entrüstung):
Ja, es ist wahr, Hanna; soll ich ihn fordern?
Hanna:
Du scherzest; ich weiß. Du sollst es nicht tun und tust es auch nicht.
Schilling:
Durst. (Er läßt sich auf die Erde nieder, mit dem Munde über eine Lache,
und trinkt.) -- Oh, schmeckst du prächtig! -- (Er gewahrt sein Spiegelbild
in der Lache und erschrickt): -- Kruzitürken, bin denn das ich?!
Hanna:
Du trinkst doch aus dieser grünlichen Lache nicht?!
Eine Krähe schreit.
Schilling:
Verfluchte Krähe! Willst du dein Maul halten! -- Komm mal her. Hanna,
sieh mich mal an -- -- ? Wie seh ich aus?
Hanna:
Ganz wie immer, Liebster!
Schilling:
Na, alsdann! Wozu soll ich nach Griechenland? -- (Er ist aufgestanden
und starrt bewegungslos gegen das Meer hin.)
Hanna
(vermag ihre heimliche Beängstigung durch seinen eigentümlichen
Zustand nicht mehr zu verbergen):
... Und wenn du mir diesen Augenblick die Weisung geben willst, Gabriel:
reise ab, in derselben Stunde will ich noch abreisen. Befiehl mir! Ich
weiß, daß du von diesem kalten, herzlosen Menschen abhängig bist. Ich
will deine Hand küssen und will abreisen. Ich sehe wohl ein ... ich will
nicht, daß du gepeinigt bist.
Schilling:
Horch mal, die See rauscht bis hier herauf. -- (Er horcht, erhebt
plötzlich aus starrer Versonnenheit ekstatisch die Arme, als ob er eine
überirdische Vision sähe): Oh! Oh!! Oh!!! Oh!!!! Das Element! Das
Element! (Wie geblendet von einem überirdischen Glanz, in den er sich
auflösen möchte, beginnt er zu wanken.)
Hanna:
Um Himmels willen, was ist dir denn, Gabriel?
Schilling:
Nichts! Gar nichts! Ruhn! Müde! Nur ausruhn, Liebchen!
Er hängt schwer in Hannas Armen, die ihn zur Erde niedergleiten
läßt.
Hanna:
Gabriel! Gabriel! Gabriel!


Vierter Akt

Ein Zimmer im ersten Stock des Saalbaues von Klas Olfers Gasthaus;
weiß getüncht mit zwei Fenstern in der Hinterwand. Der Blick durch
diese Fenster geht frei auf die See, die wiederum wie eine blaue
Wand die Rahmen so weit ausfüllt, daß nur ein kleines Stück Himmel
oben sichtbar ist. Wiederum ist ein strahlend heller Herbsttag. Je
eine Tür links und rechts verbindet den Raum mit anderen
Gastzimmern. Er hat links an der Wand die einfache helle
Holzbettstelle mit Strohsack usw. und bunter Decke. Rechts ein
kleines Sofa mit Tisch davor. Eine primitive Wascheinrichtung mit
Spiegel, einen Kleiderschrank, darin Mäurer, der das Zimmer inne
hat, seine Garderobe unterbringt. An einigen Kleiderhaken hängen
Mäurers Hut, Wettermantel, Stock usw. Auf dem Tisch, der mit einer
grünlichen Decke bedeckt ist, steht eine Wasserflasche und Gläser.
In einer Zimmerecke befindet sich Mäurers geschlossener
Reisekoffer. Lucie sitzt am Tisch und schreibt Briefe. Hanna Elias
kommt leise aus der Tür links.
Lucie:
Schläft Schilling wieder?
Hanna:
Jawohl, er schläft. Er ist eine Minute aufgewacht und hat gefragt noch
Doktor Rasmussen. Wann kann Herr Rasmussen frühestens hier sein?
Lucie:
Mäurer hat gleich, noch bevor Schilling gestern den Wunsch äußerte ...
gleich nach dem Anfall telegraphiert.
Hanna:
Und meinen Sie, daß er die weite Reise wird machen?
Lucie:
Aber ohne Zögern, ganz unbedingt.
Hanna
(nimmt am Tisch Platz):
Er verlangt sehr dringend nach Doktor Rasmussen. -- (Nach kurzem
Stillschweigen fortfahrend): Ich werde nicht vergessen den gestrigen Tag
und die heutige Nacht, die ich auf dieser Insel verlebt habe.
Lucie
(abwechselnd zuhörend, schreibend oder über den Brief nachdenkend):
Das glaube ich wohl.
Hanna:
Sie sehen, wie gut es war, Fräulein Lucie, daß ich gekommen bin.
Lucie
(verdutzt):
Das kann ich nicht recht verstehen, Frau Hanna.
Hanna:
Ich habe gefühlt in der letzten Zeit, daß mit Schilling vorgegangen ist
eine tiefe Veränderung. Das hab ich gewußt und das hat mich beunruhigt.
Lucie:
Dann hätten Sie sich aber doch sagen sollen, daß es gut für ihn wäre,
mal für einige Zeit von seinen Sorgen befreit zu sein.
Hanna:
Er ist so zerrüttet von die schreckliche Quälereien von seine echt
deutsche Ehefrau, daß er hundertmal zu mir gesagt hat: »Hanna, nur wenn
du bei mir bist, habe ich ein Gefühl von Geborgenheit.« Es ist ein
Verbrechen, was eine solche Frau an dem Manne begeht, mit ihren
Vorwürfe, ihre ewige Tränen und Anklagen, mit ihre täglichen Forderungen
um Geld, wo er doch nicht, trotz aller Arbeit, verdienen kann, und sie
könnte mit ihrem Klavierunterricht viel besser als er das Leben
verdienen.
Lucie:
Mag sein, daß Frau Eveline nicht sehr besonders tatkräftig ist; sie soll
es ja früher, als sie von England zurück als Gouvernante kam, reichlich
gewesen sein.
Hanna:
Ich habe diesen Mann im Elend gefunden, im Elend geliebt! Weil er elend
war, hab ich ihn geliebt. Ich wollte ihm helfen in seine Verzweiflung.
Ich nahm nie einen Pfennig Geld von ihm. Eher sucht ich es, wo ich es
finden konnte! Ich wollte ihn aus der Sorge reißen. Ich wollte nicht,
wie Eveline, durch ihn versorgt und erhalten sein. Sie wirft auf den
armen Schilling jede Verantwortung. Ich trage selbst die Verantwortung.
Ich weiß, seine Kunst ist viel zu gut! Und er kann unmöglich damit viel
Geld machen. Er braucht mich, ich bin ihm unentbehrlich, ich teile mein
letztes Stück Brot mit ihm.
Lucie:
-- Ich würde mir jedenfalls niemals einreden können, daß irgendein Mensch
nicht ohne mich existieren kann.
Hanna:
Das ist bei Ihnen und Mäurer ein anderer Fall. (Lucie lacht kurz und
leicht auf.) Aber ich habe zu ihm gesagt: ich will deine Arbeit, ich
will dein Glück. Ich werde gehen und nicht wieder auftauchen, wenn du
mit deine Frau glücklicher bist. Ich dachte, er schläft auf einer
elenden Feldbettstelle in eine feuchten und eisigen Atelier. Soll er
lieber bei seine Frau schlafen, hab ich gesagt, wenn es gut für ihn
ist. Nun, er antwortet mir: nur das nicht! Er hat gestanden vor meine
Haustür, wo ich habe russische Herren gehabt zu Besuch in meine Wohnung,
bei achtzehn Grad Kälte stundenlang. Um elf Uhr ist er fortgegangen
darnach, weil ich nicht habe bemerkt, daß er da ist, und ist nachts halb
ein Uhr, wo alles still war, wiedergekehrt und hat mich geweckt mit
Steinchen am Fenster. So habe ich ihn glücklicherweise entdeckt.
Lucie
(trocken):
Da wird der gute Schilling wohl etwas verfroren gewesen sein.
Hanna:
Er war halbtot, als er zu mir kam, und hat sich erst gegen Morgen
erwärmt.
Lucie:
Hat er denn solche Anfälle, wie den gestrigen, schon früher gehabt?
Hanna:
Ich weiß, seine Frau hat ihm aufgeregt. Sie hat ihm gedroht, sie wird
sich töten, wenn er nicht aufgibt seine Liebe zu mir. Wie kann er denn
diese Liebe aufgeben? Wo sie ihm doch der einzige Sinn seines Lebens
ist, die Rettung von ihre Banalität. Soll er denn seine Kunst aufgeben,
wo er sagt, daß seine Liebe zu mir von seine Kunst die innerste Seele
ist?
Lucie:
Leider hat er in den letzten Jahren nichts mehr gearbeitet.
Hanna:
Oh, er hat ein süßes Kinderporträt gemacht von meine kleinen Sohn
Gabriel.
Lucie:
Wenn man aber bedenkt, daß in mehreren Jahren nur dieses Bildnis
entstanden ist, so kann man doch wohl nicht anders sagen, als daß seine
Kraft darniederliegt.
Hanna:
Sie liegt durchaus nicht darnieder gänzlich. Er bewundert wie nichts in
der Welt meine Akt. Nun, ich bin selber viele Monate krank gewesen und
habe nicht können in seinem ungesunden und kalten Atelier und ohne
Bekleidung stehn, und in eine sehr verbogene Stellung für seine Geburt
der Venus, als Modell. Ich habe es aber mit Anstrengung meiner letzten
Kräfte getan, bis ich bin von der Kiste, auf die ich stand, mit eine
Ohnmacht zusammengebrochen.
Lucie:
Ich setze voraus, daß es an Ihrem guten Willen nicht liegt; das Resultat
ist doch aber klar. Und Sie sollten doch verständigerweise die Absichten
Mäurers unterstützen.
Hanna
(steht auf):
Er sagt, daß Mäurer ihn deprimiert; er sagt mir, daß Mäurer ihn
entmutigt.
Lucie
(lacht herzlich, mit einem Anflug von Bitterkeit):
Nun, was die Menschen alles Widersprechende durcheinander schwatzen,
unter einen Hut zu bringen, verstehe ich nicht.
Schillings Stimme:
Hanna!
Hanna:
Sie sehen, er ruft mich, Fräulein Lucie. --
(Sie geht zu Schilling hinein, ab.)
Kaum, daß Hanna Elias verschwunden ist, als ziemlich geräuschvoll
Rasmussen eintritt. Er ist als Typus den Fischern der Insel
verwandt. Sein Scheitelhaar ist ergraut, der rötlich blonde Bart
noch ohne weiße Fäden. Seine Kleidung ist schlecht und recht. Sein
Schuhwerk massiv. Er hat eine Ledertasche umgehängt, einen
Sommerpaletot überm Arm, einen weichen schwarzen Hut in der Hand,
in der Rechten einen kräftigen Stock.
Rasmussen
(mit einem großen Schritt über die Schwelle, laut):
Na, da bist du ja, Lucie; na, was gibt's? Was habt ihr denn wieder
ausgefressen? Guten Tag! Wo ist denn Ottfried? Wie gehts euch denn?
Lucie
(beschwichtigend):
Pst! Stille! Schilling liegt nebenan.
Rasmussen:
Pst! Ach so. Entschuldige, Lucie.
Lucie
(in halbem Humor):
Für einen Arzt, der nicht praktiziert, hast du eine ziemlich lebhafte
Praxis, Rasmussen.
Rasmussen:
Nächstens erheb ich Honorar. Ihr macht mir wirklich ein bißchen viel
Umstände. Übrigens muß irgendein böser Stern in diesen Jahren über uns
Freunden wirksam sein; vor noch nicht dreizehn Monaten habe ich meinen
Vater verloren, letzten Dezember den Bruder, gleich darauf rieft ihr
mich, und ich habe das nahe Ende deiner Mutter prognostiziert; dann
liegt noch der Tod einer alten Wohltäterin dazwischen, und nun ist
womöglich hier wieder was los. Übrigens kannst du mir glauben, daß die
Reise mit Eveline keine angenehme Zugabe gewesen ist.
Lucie:
Die Reise mit wem?
Rasmussen:
Mit Eveline. Sie kann übrigens noch nicht unten sein. Ich habe mich
gleich auf der Färinsel, wo wir gelandet sind, losgemacht und bin zu Fuß
durch die Dünen gelaufen. Eh der Wagen sich durch die Sandwege mahlt,
vergeht sicher noch gut eine halbe Stunde. -- Denk mal, ich habe jetzt
über drei Jahre die See nicht gesehn, obwohl ich geborner Wolliner bin.
Lucie:
Erlaube mal, Rasmussen, das ist nicht gut möglich, was du da sagst; denn
Hanna Elias ist drin bei Schilling.
Rasmussen:
Ja, um Gottes willen, ich denke, die Sache ist abgetan?!
Lucie:
Das ist leicht gesagt, und schwer durchgeführt bei einer Natur wie Hanna
Elias.
Rasmussen:
Du kannst mir glauben, daß Eveline ebenfalls dieser Überzeugung ist, die
Sache sei aus. -- Das ist ja aber ein Unglück, Herrschaften! -- Warum habt
ihr mir eigentlich nicht ein Sterbenswort in eurer Depesche angedeutet?
Lucie:
Ich wundre mich auch, daß Ottfried, der mir sonst immer wegen meiner
Gedankenlosigkeit Vorwürfe macht, in diesem Falle nicht überlegter
handelt.
Rasmussen:
Was soll ich denn tun? Ich lese: Herkommen, Schilling
erkrankt! -- Natürlich lauf ich zu seiner Frau Eveline. Ich nahm doch an
und mußte doch annehmen, daß sie besser als ich unterrichtet ist. Und
wenn man als Arzt auf eine weltabgeschiedene Hallig berufen wird, so muß
man doch irgend 'n Anhalt haben! Apotheke und sonstige Hilfsmittel
gibt's doch hier nicht. -- Du siehst übrigens auch nicht besonders aus!
Lucie
(ausweichend):
Wir haben alle wenig geschlafen.
Rasmussen:
Donnerwetter nochmal, was machen wir nu!? Ich kann mir an dieser fatalen
Geschichte eine Schuld unter keiner Bedingung beimessen. Sogar ... ich
habe sogar noch versucht, als ich merkte, daß Eveline nicht unterrichtet
war, sie von der Reise zurückzuhalten. Schließlich und endlich: ich
wußte nicht, was geschehen war, und also, da sie partout doch mitwollte,
was konnte ich ernstlich dagegen tun? Ich hatte im Grunde kein Recht
dazu.
Lucie:
Dem armen Schilling soll gar nichts erspart bleiben! --
Schillings Stimme
(singend):
Am Woasser, am Woasser,
Am Woasser bin i z' Haus.
Rasmussen
(horcht und lacht):
Na, da wird's ja so schlimm noch nicht sein, Kinder. -- Was ist denn also
mit Schilling passiert?
Lucie:
Ach, wir waren eigentlich sehr froh und vergnügt, bevor diese
Fledermäuse hier auftauchten. Wir hatten Reisepläne und große Ideen.
Jetzt hab ich dafür nur einen Plan, irgendwie unabhängig tätig zu sein.
Rasmussen:
Wo ist denn Ottfried?
Lucie:
Er wandelt auf Pfaden höheren Lebens mit einer Verehrerin, Fräulein
Majakin.
Rasmussen:
Kinder, seid ihr denn alle verdreht geworden? Ich hätte nun wirklich
drauf geschworen, daß ein strammer, kurznackiger Kerl wie Mäurer, in
seinem Alter, nach dem, was er alles erfahren hat und mit -- ich bin kein
Schmeichler, Lucie! -- dem unverdienten Glück in der Hand, von
Experimenten kuriert sein würde. Aber obgleich er das ganze Gegenteil
von dem armen Schilling ist, so kriegt er zuweilen doch einen Raptus,
der ihn auf einmal eigensinnig und unzuverlässig macht -- kurz nachdem man
vielleicht zehn Eide auf seine Verläßlichkeit geschworen hätte.
Schillings Stimme:
Ist das nicht Rasmussen?
Rasmussen
(laut):
Jawohl!
Schillings Stimme:
Immer rein!
Rasmussen
(öffnet die Tür zu Schillings Zimmer ein bißchen und ruft hinein):
Na, mein Junge, werd ich nu wieder zu Gnaden angenommen?
Schillings Stimme:
Rede bloß keinen Unsinn, Rasmussen!
Rasmussen:
Nee, das muß ich erst wissen, sonst schmeißt du den Kunstbarbaren
womöglich zur Türe hinaus. -- Nu sag mal, was heißt denn das, Gabriel?
Er geht zu Schilling hinein und schließt die Tür hinter sich. Lucie
legt ihre Schreibutensilien zusammen, nachdem sie ihren Brief
adressiert und mit einer Marke beklebt hat. Darnach tritt Ottfried
Mäurer ein, sogleich ohne weiteres Hut und Stock an den
Kleiderhaken hängend.
Mäurer:
Herrliches Wetter! Man hört auch wieder den ganzen Morgen deine
Glockenboje oder was es ist; als ob die Fische im Wasser Sonntag
feierten. Das Inselchen gefällt sogar jetzt Fräulein Majakin. Wir haben
den Leuchtturmwärter besucht. Ich habe dir sogar einen wirklichen toten
Kuckuck mitgebracht, den wir am Fuße des Turms unter einem wahren
Massenmordfeld aller unserer Vogelarten gefunden haben.
Lucie:
Einen toten Vogel bringst du mir mit, Ottfried?
Mäurer:
Bewundere meinen Edelmut, Schusterchen. Da du neulich behauptet hattest,
der Kuckuck beehre auch Fischmeisters Oye auf seiner Wanderschaft -- du
weißt ja, als Schilling so gruselig das Echo herausforderte -- so wollte
ich dir das noch extra bestätigen.
Lucie
(beziehungsreich):
Da bringst du mir also einen Vogel, der die Dummheit beging, im
Stockfinstern gegen ein »großes Licht« zu fliegen, und der sich bei
dieser Gelegenheit den Schädel zerschmettert hat.
Mäurer:
Jawohl: der betrogene Idealist liegt unten auf dem Tisch in der
Gaststube. Ich gebe dir zu, daß dieser eigentümliche Mißbrauch gläubiger
Sehnsucht der Kreatur ohne einen zehnfach eingeteufelten Teufel, einen
gesteinigten, höllischen Satan, schwer zu erklären ist.
Lucie:
Hat Fräulein Majakin sich an die schreckliche Sprache der Fischer
einigermaßen gewöhnt?
Mäurer:
Sie sagt, wenn die Fischerweiber und -männer sich unterhielten, das
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