Gabriel Schillings Flucht: Drama - 1

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Gabriel Schillings
Flucht

Drama
von
Gerhart Hauptmann
[Illustration]
S. Fischer Verlag / Berlin

Dritte Auflage.
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Den Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript.
Copyright 1912 S. Fischer, Verlag, Berlin.
60 Exemplare sind auf handgeschöpftes Büttenpapier
abgezogen und numeriert, davon 50 zum Verkauf.

»Einige ... versichern, Eunostus sei ihnen begegnet, ans Meer
eilend, um sich zu baden, weil ein Weib sein Heiligtum betreten
habe.«
Plutarch, Moralische Schriften.


Dramatis Personae

Gabriel Schilling, Maler.
Eveline, seine Frau.
Professor Mäurer, Bildhauer und Radierer.
Lucie Heil, Violinistin.
Hanna Elias.
Fräulein Majakin.
Doktor Rasmussen.
Klas Olfers, Wirt im Krug auf Fischmeisters Oye.
Kühn, Tischlermeister.
Der Lehrjunge.
Schuckert.
Mathias, Fischer.
Magd bei Olfers.
Fischer, Frauen und Kinder der Fischer.
Das Drama spielt auf Fischmeisters Oye,
einer Insel der Ostsee.
Zeit: um 1900.
»Gabriel Schillings Flucht« wurde geschrieben im Jahre 1906.


Erster Akt

Strand. Im Hintergrund das Meer im Spätnachmittagslichte eines
klaren Tages Ende August. Rechts der Schuppen einer
Rettungsstation, an dessen Mauer die Gallionfigur eines
gestrandeten Schiffes angebracht ist. Sie ist aus bemaltem Holz und
stellt eine Frau mit bauschigen Röcken dar, deren Kopf
zurückgeworfen ist, so daß ihr bleiches Gesicht mit
nachtwandlerischem Ausdruck dem Himmel sich darzubieten scheint.
Ihr langes schwarzes Haar fließt offen über die Schulter. -- Am
Strande, im Trockenen, steht ein Fischerboot. Links vorn auf der
Düne, dem Schuppen gegenüber, ein Signalmast mit Strickleitern usw.
Ein junges Mädchen, weiß und sommerlich gekleidet, liegt mit einem
Buch zwischen Schuppen und Signalmast auf der niedrigen Düne: Lucie
Heil.
Von rechts vorn kommt der etwa 45jährige Tischlermeister Kühn,
gefolgt von einem Lehrling. Sie tragen blaue Schürzen, keiner von
beiden eine Mütze. Der Meister grüßt Lucie, der Lehrling grinst sie
an. An der Rückwand des Rettungsschuppens liegt ein Stapel
fichtener Bretter. Zwei davon lädt Kühn dem Lehrling auf, und
dieser trägt sie davon.
Kühn:
Na, sind Sie auch wieder da, Freilein?
Lucie:
Das gehört sich doch, Meister!
Kühn:
Sie kommen immer, wenn die Zugvögel abreisen! Wenn die vielen Zugvögel
bei uns Station machen, kommen Sie auch.
Lucie:
Das stimmt.
Kühn:
Wir warten immer drauf, daß der Herr Professor Ottfried Mäurer sich am
Ende doch noch anbaut auf der Insel.
Lucie:
Im vorigen Herbst war es nahe daran; aber der Windmüller ging mit seinem
Preis plötzlich zu hoch hinauf.
Kühn:
Die Leute sind dumm! Sie wissen nicht, was sie von der Hand weisen. Wenn
so'n Mann, wie Professor Mäurer, sich hier auf der Insel ein Tuskulum
hinsetzt, das würde doch für jeden hier von größtem Vorteil sein.
Lucie:
Es wäre gar nicht gut, wenn die Insel bekannt würde; denn käme erst mal
das ganze Großstadtgewimmel darüber hereingebrochen, dann wär's mit
ihrer Schönheit wohl aus.
Kühn:
Ist der Herr Professor Ihr Onkel, Freilein?
Lucie
(lacht):
Nein, ich bin seine Großmutter, Meister Kühn.
Ottfried Mäurer erscheint vom Strande her über die Dünen. Er ist
ein mittelgroßer, etwa 36jähriger blonder Mann mit rötlich blondem
Spitzbart. Sein Kopfhaar ist kugelrund geschoren; die Stirne breit.
Ein Ausdruck schmunzelnder Schalkhaftigkeit belebt zuweilen den
scharfblickenden Ernst seines Gesichts hinter der goldnen Brille
und dem Kneifer. Er ist unauffällig gekleidet, hat einen Mantel um,
einen weichen Filzhut auf dem Kopf, einen gewöhnlichen Stock an den
Arm gehakt, und ein Buch, Quart, mit weißem Schweinslederdeckel in
der Hand.
Mäurer:
Guten Tag, Meister Kühn.
Kühn:
Schön'n Dank, Herr Professor! -- Glücklich wieder auf Fischmeisters Oye
angelangt?
Mäurer:
Gott sei Dank, Meister. -- Aber ich hatte es diesmal verdammt nötig.
Kühn:
Na, ja, wir haben's ja in der Zeitung gelesen.
Mäurer
(schmunzelnd):
Was haben Sie denn in der Zeitung gelesen?
Kühn:
Von die schöne Bildsäule, die in Bremen errichtet worden ist.
Mäurer:
Die hat mir verflucht Arbeit gemacht, können Sie mir glauben, die schöne
Bildsäule. Ich bin froh, daß sie mir aus dem Gehege ist.
Kühn:
Nu gehn Sie aber doch gleich schon wieder nach Griechenland?
Mäurer:
Hat das etwa auch schon wieder in der Zeitung gestanden?
Kühn:
Jawohl! Es gibt ja wohl Marmorbrüche dort, und da wollen Sie ja wohl
Steine für neue Standbilder aussuchen.
Mäurer:
Na, Gott sei Dank bin ich mal erst vorläufig hier! -- Ich habe schon
manchmal ganz gemütlich in Berlin in einer Weinkneipe gesessen und in
der Zeitung gelesen, ich befände mich augenblicklich in Konstantinopel
und modellierte die Tochter des Sultans. -- Übrigens, wem gehört denn die
Gallionfigur?
Kühn:
Die hat der große Nordweststurm vor zwei Jahren an Land gebracht.
Mäurer:
Sie gefällt mir; ich würde sie gerne kaufen.
Kühn:
»Ilsebilse, niemand will se, kam der Koch und nahm se doch.« -- Schuckert,
glaub' ich, hat sie gefunden.
Mäurer:
Ist das der junge Schuckert?
Kühn:
Jawohl. Bei Schuckerten finden Se immer so was. Der Alte hat mal einen
dicken goldnen Armring aus'm Wasser rausgebracht. Soll ich vielleicht
mal mit ihm reden?
Mäurer:
Ja, bitte, Meister; tun Sie das!
Kühn:
Übrigens hat's mit dem Dinge, wie mir einfällt, ne kuriose Bewandtnis.
Die dänische Brigg, von der's wahrscheinlich stammt und die hier draußen
gesunken ist, hat der junge Schuckert zwei oder drei Tage vorher, jenau
mit die Figur, bei schönstem Wetter wafeln gesehn.
Mäurer:
Weißt du, was wafeln ist, Lucie?
Lucie:
Nein.
Mäurer:
In Schottland nennt man es %second-sight%.
Lucie:
Ach so, etwas mit dem zweiten Gesicht sehen.
Mäurer:
Ja, zum Beispiel sein eignes Begräbnis.
Kühn:
Gott sei Dank, ich leide nicht dran, trotzdem ich alle Augenblick mal
mit Sargbretter zu tun habe.
Mäurer:
Ist jemand gestorben?
Kühn:
Nee, vorläufig nich; aber Vorrat muß sein.
(Er legt sich zwei Bretter auf die Schulter und geht.)
Adje, Herr Professor!
Mäurer:
Wiedersehn, Meister Kühn. -- -- --
(Lucie und Mäurer allein.)
Mäurer:
Na, Schusterchen, ich bin ja im höchsten Grade überrascht, dich hier zu
sehen.
Lucie:
Ich erst recht. Ich dachte, du bist auf die Südspitze zugegangen:
deshalb habe ich mich hier in den Norden geschlängelt; es war wirklich
nicht meine Absicht, dir aufzulauern.
Mäurer
(schmunzelnd, klug, stoßweise):
So! So! Wirklich? Na na! Ein Musterkind! -- Übrigens hast du gewafelt bei
mir; denn ich wollte eben mal über unser grünes Kuhländchen nach dir
Auslug halten. -- Was liest du denn da?
Lucie:
Rate! --
Mäurer:
Dann ist es nicht schwer zu raten: die Droste. -- Wie lange liegst du
schon hier, mein Kindchen?
Lucie:
Schon lange Zeit. -- Mit wem hat diese Figur dort eine gewisse
Ähnlichkeit?
Mäurer
(faßt die Gallionfigur ins Auge):
Ich weiß es nicht! Etwa mit deiner Mutter?
Lucie:
Mit Mutter, gewiß.
Mäurer:
Das finde ich nicht.
Lucie:
Ich würde vielleicht auch nicht darauf gekommen sein; aber ich habe von
Mutter geträumt. Ich ging mit ihr unten am Strand spazieren, nachts, und
da hatte sie ihre Hand mit dem bloßen Unterarm auch so an der Halskette
und auch einen Kranz auf, wie diese Figur ihn hat. Ich hatte wohl also
Mutters Bild und dies hier unwillkürlich verschmolzen. -- Ich träume hier
überhaupt furchtbar lebhaft und schleppe, merkwürdigerweise sogar mitten
im hellen Sonnenschein, einen heißen Kopf und den Spuk der Nacht mit mir
herum.
Mäurer
(lächelnd, gehoben):
Aber sonst ist es wieder göttlich hier. Ich habe jetzt wieder Stunden
erlebt, die unvergleichlich sind. Diese Klarheit! Dieses stumme und
mächtige Strömen des Lichtes! Dazu die Freiheit im Wandern über die
pfadlose Grastafel. Dazu der Salzgeschmack auf den Lippen. Das geradezu
bis zu Tränen erschütternde Brausen der See, -- siehst du, hier hinter der
Brille ist noch ein Tropfen! -- Dieses satte, strahlende Maestoso, womit
sie ihre Brandungen ausrollen läßt. Köstlich!
Lucie:
Da hast du gewiß wieder interessante Ideen gehabt. (Sie nimmt sein
Skizzenbuch.)
Mäurer:
Nichts. Auf Ehrenwort, keine Linie. Schreibtafel her, ich muß mir's
niederschreiben: Ich werde zwar diese unmoderne Gewohnheit nicht
los, -- aber vor so etwas heißt es einpacken. -- Sag' mal, den Brief von
Schilling hattest du doch?
Lucie:
Ich hatte ihn dir heut morgen wiedergegeben.
Mäurer
(sucht in den Taschen und findet den Brief):
Richtig, freilich, da ist ja das Schriftstück. -- Es hat sich mit meiner
Depesche gekreuzt. -- Ich würde mich mächtig freuen, wenn Schilling sich
endlich mal aus seiner Misere mit einiger Energie herauslöste. -- Hältst
du's für möglich, nach diesem Brief? Du bist doch in solchen Sachen sehr
schlau, Schusterchen.
Lucie
(zuckt mit den Achseln):
Nach diesem Brief, Ottfried, allerdings. Freilich, sicher kann man es,
wie die Sachen mit Schilling liegen, nicht voraussagen. Er scheint ja in
einer Krisis zu sein, aber sag' mal selbst, sein Verhältnis zu Hanna
Elias ist schon manchmal in einer Krisis gewesen; und doch renkte sich
alles immer wieder zu unsrem beiderseitigen Mißfallen ein. -- Du weißt
ja, was sie für Mittel hat! Wenn sie es absolut will, daß er bei ihr
bleibt, na, so geht sie zu Bett und kriegt vier Wochen lang
Nasenbluten. --
Mäurer:
Äh, ich mag sie nicht! Ich bin in keiner Beziehung, nicht wahr, ein
Weiberfeind; sie brauchen auch, weiß Gott, um mir zu gefallen, nicht
alle deutsche Gänse zu sein. Aber diese Hanna macht mich ganz wild.
Wenn ich sie ansehe, fast leichenhaft wächsern, wie sie ist, dann
begreife ich nicht, wie sie leben kann, und hoffe, sie muß jeden
Augenblick abschieben. Keine Ahnung! Sie lebt; sie denkt nicht daran und
wird uns alle womöglich noch einbuddeln.
Lucie:
Ja, Ottfried, das kann ganz gut möglich sein.
Mäurer:
Verzeih mir's Gott, wenn keine Aussicht vorhanden ist, daß sie in Bälde
das Zeitliche segnet, dann muß mit Schilling erst recht was geschehn;
dann muß man erst recht mit ihm einen letzten, rücksichtslosen Versuch
machen. Dazu ist er zu gut, um an dieser Schürze zugrunde zu gehn.
Lucie:
Wer weiß, vielleicht ist deine telegraphische Einladung gerade zur
rechten Stunde gekommen.
Mäurer:
Merkwürdig, dieser ruhige, schlichte Mensch, der mehr als wir alle in
seinem gelassenen Wesen gefestigt schien, ist durch diese Person ganz
aus der Bahn gerissen. Als sie auftauchte, dacht' ich das Gegenteil.
Seine Heirat mit Eveline war Unsinn. Sie hat ihn sich, weil er immer
gegen die Äußerlichkeiten des Lebens gleichgültig war, wenn man ihn nur
ungestört malen ließ, einfach angetraut. Und da war er mit einemmal ihr
Ernährer. Hanna hat mehr Reiz, mehr Selbständigkeit, und so glaubt ich
am Anfang, sie würde für seine Kunst _das Rinascimento des vierten
Jahrzehntes_ sein. Statt dessen stellt sie seine Existenz als Künstler
und Mann überhaupt in Frage.
Lucie:
Woraus erhellt, da sie ebenfalls von orientalischer Faulheit ist, daß
Weiber, die nichts zu tun haben, bloß Unfug stiften; und ich habe mir
deshalb fest vorgesetzt, ich will diesen Winter sehr viel Kolophonium
für meinen Geigenbogen verbrauchen.
Mäurer:
Hast du die tausend und abertausend Stare und Schwalben auf den
Strohmützen der Fischerkaten drüben in Vitte gesehn? Diese Aufregung,
dieser Eifer, diese entzückende Reiselust! Packt es dich da nicht auch
wieder mächtig?
Lucie:
Wenn ich am Meer sein kann, mit dir allein, und an einem versteckten
Platz, wo uns niemand beunruhigt, so weißt du ja, daß ich sträflich
bedürfnislos und zufrieden bin. -- Weißt du übrigens, was mich der Fischer
gefragt hat?
Mäurer:
Nun?
Lucie:
Ach Unsinn, nichts! -- Bloß, ob du ein Onkel von mir bist. -- Ich habe
gesagt, ich bin deine Großmutter.
Mäurer:
Was die Menschen doch wie die Teufel neugierig sind! Aber laß das,
Schusterchen, ärgere dich nicht! Klatsch macht man durch absolute
Verachtung unschädlich! Hör' lieber zu, was ich beschlossen habe.
Nämlich, dem guten Schilling gegenüber ist mein Gewissen nicht ganz
rein. Moralische Urteile sind eigentlich nur Bequemlichkeit; und doch
hab' ich mich dieser Bequemlichkeit dem Freund gegenüber, als ich seine
Handlungsweise nicht recht mehr verstand, leider schuldig gemacht. Wenn
es ginge, möchte ich das gern jetzt wieder ausgleichen. Aber das ist
vielleicht Selbstbetrug. Ich bin vielleicht nur gut aufgelegt und möchte
mein Wohlbefinden noch steigern.
Lucie:
Nun, ein ganz, ganz schlechter Kerl bist du ja gerade nicht.
Mäurer:
Keinesfalls sehr viel schlimmer, als andere! -- Das Stück Geld unterm
Großmast, was nicht nur nach dem Aberglauben der Fischer darunter
gehört, hat Schilling leider immer gefehlt; er wäre sonst zweifellos
besser gesegelt. Und man ist in Geldsachen ja leider, wo Not an Mann
ist, auch nicht immer durchweg zum Anstand geneigt. Aber jetzt, wo die
Bremer nicht knausrig gewesen sind, will ich mal alles wieder gut
machen. Ihr müßt beide mit mir nach Griechenland.
Lucie
(lustig):
Herrlich. Deine Brille funkelt ja förmlich, wie du das sagst. Und dein
Haar sieht dabei schon wie eine Flamme auf einem Opfertiegel in Delphi
aus.
Mäurer:
Also will ich dir auch gleich mal was weissagen: jetzt schwöre ich dir,
daß Schilling kommt.
Lucie:
Und ich glaube es auch, ich kann es bestätigen, daß er drüben auf dem
Fußsteige durch das Moor schon mehrmals gewafelt hat.
Mäurer
(beobachtet in die Ferne):
Wirklich, ein Mensch kommt über das Moor gelaufen.
Lucie:
Vor kaum zehn Minuten hat der kleine Dampfer von Stralsund drüben in
Grobe angelegt. -- Das ist er.
Mäurer:
Er rennt wie ein Bürstenbinder. Teufel noch mal, das könnte wahrhaftig
der Maler Schilling mit seinem Rucksack und seinem Pastellkasten sein!
(Er ruft.) Ku ui!
Lucie:
Da will ich euch erst mal allein lassen!
Mäurer
(blickt aus, zieht sein Taschentuch, schwenkt es und ruft):
Ku u i! Ku u i!
Lucie
(ruft schon von weitem):
Was ist denn das für ein Ruf?
Mäurer:
Ku u i! So rufen die afrikanischen Buschleute.
Lucie:
Er bleibt stehen. (Sie will fort.) Adieu!
Mäurer:
Adieu, mein Kind, adieu! Ich will mal kurzen Prozeß machen. Wenn er es
nicht ist, komm ich dir nachgerannt.
Mäurer
(läuft nach rechts hin ab).
Lucie
(blickt noch immer über die Dünen ihm nach, kommt plötzlich
hervorgeeilt, klettert einige Stufen sehr gewandt die Strickleiter
am Signalmast hinauf, dort schwenkt sie das Taschentuch und ruft):
Ku u i! Ku u i! Ihr findet mich bei Klas Olfers im Krug!
(Um den Schuppen herum kommt abermals Tischlermeister Kühn.)
Kühn:
Kommt neuer Besuch?
Lucie:
Ein ganzer Gesangverein, Meister, der Professor Mäurer ein Ständchen
bringt.
Sie springt herunter und läuft davon, ab. Von links kommen eine
Anzahl Fischer mit aufgekrempelten Hosen und blauen Jacken über die
Dünen. Der junge Schuckert ist darunter. Es sind meist große,
breitschultrige blonde Gestalten mit gedrungenen Bärten. Einige
tragen ihre Transtiefel in der Hand. Etwas Lautloses, Visionartiges
ist in ihren Bewegungen.
Kühn:
Schuckert!
Schuckert:
Wat is?
Kühn
(hat sein Brett auf seine Schulter geladen):
Help mi man noch een Brett up de Schuller.
Schuckert
(kommt zu ihm herüber):
Na denn fix tau!
Kühn:
Wirst du dat Ding doa baben verkoopen?
Schuckert:
Wat denn for'n Ding?
Kühn:
Dat Weib ohne Fiet.
Schuckert:
Hähähä! Wat hast du woll in din Breegenkasten, det du dat Unglück
erhanneln wilt!
Kühn:
Wer seggt dir, dat ick dat erhanneln will. De fremde Professor will et
erhanneln!
Schuckert:
De Fremde, de bi Klas Olfers is? Hähähä! Tschä, worum nich. Dat wier
woll am Enn all mieglich to maken. -- Adjüs Kühn! (Er setzt seinen Weg
über die Dünen fort, nachdem er dem Tischler noch zwei Bretter
aufgeladen.)
Kühn:
Hierst, bring dat Ding dal in'n Krug. Wist nich?
Schuckert:
Jau, jau.
Kühn:
De fremde Professor zahlt proper, segg ick!
Schuckert:
Hei soll ja wull hier baben een bisken sin! (Tippt sich mit dem Finger
an die Stirn.)
Schuckert folgt den anderen Fischern und stößt mit ihnen unten vom
Strand ein Segelboot durch das flache Wasser ins tiefe Meer.
Meister Kühn rückt die Bretter auf die Schulter zurecht, dabei
fällt ihm eins wieder herunter. Gleich darauf taucht Mäurer und
sein Freund Schilling auf. Dieser ist ein hoher, blonder, bartloser
Mensch, mehr der Typus eines feingeistigen Schweden, als eines
Deutschen. Die Kleider hängen sehr lose um seinen mageren und
eleganten Körper. Das Gesicht wirkt durch tiefliegende große Augen
und Magerkeit etwas verfallen. Strohhut, Sommerüberzieher,
Pastellkasten.
Schilling:
Halten Sie mal, bleiben Sie mal stehen, Mann! (Er stolpert herzu, läßt
den Malkasten fallen und faßt das heruntergefallene Brett an einem Ende
mit zwei Händen an.) Komm, faß mal die andre Seite an, Ottfried!
Kühn:
Sie sind ja zu gütig! Recht scheenen Dank, meine Herren!
Mäurer
(springt herzu, faßt die andere Seite des Brettes und er und
Schilling fangen an, damit zu wippen):
Na also, da sind wir ja wieder mal drei vergnügte Berliner
zufälligerweise auf einer unentdeckten, einsamen Insel zusammengeschneit.
Schilling
(wippend):
»Berlin, Berlin, du dauerst mir!«
(Sie legen dem Tischler das Brett auf die Schulter)
Mäurer:
Das ist nämlich 'n richtiger Berliner, mein Sohn.
Kühn:
Ich habe nämlich, wie dat so is, und dat mein Metier so mit sich bringt,
een jroßes Pläsier an d' Särge machen. Särge hab ick sehr jern, bloß
meinen eignen nich. Und wie nu mal, draußen am schlesischen Bahnhof hab
ick jetischlert, der Fremde kam, der wo so klapprige Beene hat, und uzte
mir, dat ick ma nu sollte meinen eignen hölzernen Schlafrock machen, da
dachte ick mir, vorwärts, nu aber raus aus Berlin. Jawoll, de Ärzte
hatten mir uffgegeben, und hier bin ick wieder fuchsmunter jeworn. (Er
nickt und geht mit seinen Brettern auf der Schulter ab.)
Schilling
(stutzt, betrachtet abwechselnd seine offenen Hände, die er sich
harzig gemacht hat, und sieht dem Tischler nach):
Komisch, wie so ne Stimme hier anders klingt, und wie so'n
gleichgültiger Kerl hier anders aussieht, als wie in Berlin -- und wie
so'n Brett sich anders anfaßt. (Er ruckt sich zusammen und nimmt seinen
Malkasten wieder auf.)
Mäurer:
Mensch, es war der allerschlauste Gedanke, den du seit Jahren gehabt
hast, daß du gekommen bist.
Schilling
(kurz, befremdlich):
Es hat sich gemacht.
Mäurer:
Na also, es mußte sich auch mal machen. Das war doch zum Beinausreißen
mit uns; man konnte deiner ja gar nicht mehr habhaft werden. Wie geht's,
wie steht's?
Schilling:
Wie du siehst, famos!
Mäurer:
Wirklich, du siehst ausgezeichnet aus. Etwas spack natürlich, das macht
die Stadt; aber wie du daherkamst, mit Jünglingsschritten, da sahst du
wie 'n mittlerer Zwanziger aus.
Schilling:
Ja, das macht das geregelte Leben, mein Sohn. Hübsch ausschlafen,
nachts! Keine gegipsten Weine trinken! Nimm dir ein Beispiel, wenn du
kannst, denn deine Nase hat etwas Verdächtiges.
Mäurer
(faßt sich an die Nase):
Stimmt! Aber sage, Junge, was soll man tun? Unsereiner, der wie ein
Maurer arbeitet, kann ohne was Geistiges eben nicht sein. Du hast dir
das Trinken abgewöhnt?
Schilling:
Das will ich nicht grade behaupten, Ottfried.
Mäurer:
Nanu, Augen grad aus! Ist das nu was oder nicht? Ist so'n Anblick die
acht Stunden Bummelzug etwa nicht wert, mein Sohn?
Sie vertiefen sich beide in den Anblick der See, die man laut und
gleichmäßig rauschen hört, und in das Leuchten des blutroten
Abendhimmels.
Schilling
(dem die Augen vor Erschütterung überlaufen):
Es ist verflucht, wie unsereiner nervös auf dem Hunde ist. Man merkt das
vor so einem plötzlichen Eindruck.
Mäurer:
Das ging Lucie und mir nicht anders, Schilling. Als plötzlich die langen
Schaumlinien auftauchten -- wir kamen zu Fuß vom Fährhaus herüber zum
westlichen Strand! -- das hat uns beide höllisch überrumpelt; und ich
glaube, wir haben beide, ich weiß nicht wieso, wie Kinder geflennt.
Übrigens weißt du ja wohl, ist im Frühjahr Luciens Mutter gestorben.
Schilling
(sonderbar ängstlich):
So? Ist sie gestorben? Ach! Woran?
Mäurer:
Hat dir Rasmussen nicht davon gesprochen?
Schilling:
Rasmussen hab ich jetzt nicht gesehen ... wie lange? -- Gut anderthalb
Jahre nicht.
Mäurer:
Er hat Frau Heil zuletzt noch behandelt.
Schilling
(nach längerem Stillschweigen):
Ja, wie das mit einem so eigensinnigen, in seinem Fach bornierten
Menschen, wie Rasmussen, eben ist. Wessen unsereiner bedarf, das
begreift er nicht. Ich hasse auch alle Moralphilister! Und er hat einen
förmlichen Haß auf die Kunst. Wissenschaft! Nur immer Wissenschaft!
Wissenschaft hier und Wissenschaft dort! Und im Namen der Wissenschaft
jeglichen Unsinn. Und nun erst in Geschmacksdingen -- : hottentottenhaft!
Ich mußte mal mit ihm reinen Tisch machen.
Mäurer:
Du, du, vermiese mir unsern Rasmussen nicht. Ein Kerl ... na, mit einem
Wort: nicht zu spaßen. Solid! Wo man ihn anfaßt, ist auch was.
Schilling:
Sag mal, an was ist Frau Heil gestorben?
Mäurer:
Ein Herzleiden scheint es gewesen zu sein.
Schilling
(tief atmend):
Kein Wunder, wenn man bedenkt, in welch stickige Atmosphäre die Menschen
der Großstadt lebenslang eingekerkert sind. Leben heißt ihnen, sich
aufregen, und an diesem ununterbrochenen Überreizungen sterben sie dann
natürlich frühzeitig scharenweise elend hin! -- Du kannst dir nicht
denken, Ottfried, wie sehr ich diesmal nach dem Anblick gelechzt habe.
Mäurer:
Warum nicht? Es ging mir genau so wie dir.
Schilling:
Unmöglich! Ich habe mitten im Lärm und Asphaltgestank der
Friedrichstraße schon immer das Meer vor Augen gesehen, tatsächlich,
als richtige Luftspiegelung. Ich habe immer danach gegriffen! -- Ich bin
wie ein Seehund! Ich möchte gleich Hals über Kopf mitten hinein.
Mäurer:
Das finde ich schließlich auch weiter nicht merkwürdig. Du solltest mal
Lucie reden hören in ihrer fanatischen und direkt waghalsigen Badewut.
Schilling:
Das ist auch was andres, das meine ich nicht. Ich glotze diesmal die See
mit Augen an ... wovon ihr keine Ahnung habt, Kinder. Als wenn einem der
Star gestochen worden ist. Dort stammen wir her, dort gehören wir hin.
Mäurer
(lachend):
Du bist Wasser und sollst zu Wasser werden! -- Wie geht's deiner Frau?
Willst du was rauchen, Schilling?
Schilling
(fahrig, zerstreut):
Wie Pauken und Zymbeln klingt das im Kopf! -- Rauchen? -- Eveline ist
munter, Gott sei Dank! Soweit das bei ihr überhaupt möglich ist,
nämlich. Eigentlich hab ich sie, ehrlich gestanden, nie wirklich bei
guter Laune gesehn. (Er läßt sich auf der Düne nieder.) Sprechen wir
lieber von was andrem. -- Es kommt nämlich immer darauf an, wenn es sich
um Miseren handelt, ob man imstande ist, sie zu beheben. Hat man das
aber bis zur Verblödung auf jede erdenkliche Weise vergeblich versucht,
so erscheint der gloriose Moment, wo man hunde-schnauzen-gleich-gültig
wird: und dieser Moment ist bei mir erschienen!
Mäurer
(klopft ihm auf die Schulter):
Fortschritt, mein Junge, wenn es so is!
Schilling:
Na natürlich, Fortschritt! Etwa nicht? Glaubst du, ich wäre sonst
hergekommen? -- Sonst hätt ich mich nicht aus dem Staube gemacht!
Längeres Stillschweigen.
Mäurer:
Wie wär's, wenn wir nun als zwei alte Freunde, Schilling, auf alle
Umschweife ganz verzichteten, und auf sogenanntes Zartgefühl. Nehmen wir
mal an, unsre Gefühle füreinander sind ehrlich und anständig; warum
sollen sie denn da nicht offne und starke sein! Wenn du's also nicht
krumm nimmst, so frage ich dich ...
Schilling:
Mit Hanna Elias ist es zu Ende.
Längeres Stillschweigen.
Ich kann dir sagen, du glaubst es nicht, wie ich die Zeit ... die mir
immerhin früher mal kostbare Zeit! -- diesen Sommer wieder mit Scheffeln
und Mollen wahnsinnig verschleudert habe. Ich kann keine Wanduhr mehr
ticken hören, ich erschrecke bei jedem Pendelschlag.
Mäurer:
Wer hat nicht mit Weibern Zeit verloren! Ja, welcher Mann, der wirklich
einer ist, hat sich nicht selbst mehr als einmal an Weiber verloren. Das
schadet nichts! Man läßt sich fallen, man hebt sich auf, man verliert
sich und man findet sich wieder. Hauptsache bleibt, daß man Richtung
behält. Wenn man Richtung behält und entschlossen fortlebt, so wette ich
tausend gegen eins, was schlecht geheißen hat in der Zeit, muß dann in
der Zeit auch wieder mal gut heißen.
Schilling:
Ach, Junge, ich habe in meinem verpfuschten Leben zu schrecklich viel
niederträchtigen Unsinn verdaut. Mit meiner unanständig anständigen
Anlage habe ich, weiß der Teufel, so oft Fiasko gemacht, daß ich allen
Ernstes darüber gegrübelt habe, wie man es anfängt, recht grundgemein,
schweinemäßig praktisch zu sein. Ich bin talentlos, ich kann es nicht.
Dabei hab ich die Welt auf die allerverschiedenste Weise beguckt: durch
die hohle Hand, durch die Beine, von oben, von unten, von hinten, von
vorn. Und ich kann mir nicht helfen, ich habe immer nur eins gesehen:
von weitem macht sie sich ziemlich entfernt, aber aus der Nähe dafür
über alle Begriffe stupide, gemein und unanständig.
Mäurer:
Schilling, ich lasse die Welt, wie sie ist; wir wollen uns damit weiter
nicht aufhalten. Ich habe dir selber, glaub ich, auch nicht immer bloß
die schöne Fassade gezeigt. Laß das, vergiß es, denk nicht daran! Und
jetzt, Junge, sag ich mal etwas Mystisches: wir sind aus der gleichen
Generation. Ich behaupte, da wir beide im gleichen Jahre an der
Außenfläche unsres Planeten erschienen sind, so sind wir auch schon
vorher miteinander gewandert, in ähnlichem Rhythmus, in ähnlichem
Schritt. Und wenn wir auch äußerlich nicht vereint gewesen sind, so
sind wir jetzt, wo wir uns wiedertreffen, im tieferen Sinne gleich weit
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  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 6
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