Gabriel Schillings Flucht: Drama - 2

Total number of words is 4020
Total number of unique words is 1514
38.2 of words are in the 2000 most common words
50.4 of words are in the 5000 most common words
55.5 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
gelangt. Also schreiten wir nur mal wieder eine gute Strecke stramm
bewußt miteinander.
Schilling
(forciert):
Topp Kinder, hier wollen wir lustig sein! Deibel nochmal, tüchtig
deutschen Sekt saufen und so tun, als wären wir siebzehn Jahr mit den
allergrößten Rosinen im Sack und hätten die Nase nicht voll gekriegt.
(Beide Freunde geraten in eine nervöse Heiterkeit; alsdann stutzt
Schilling, die Gallionfigur gewahrend.) Eiapopeia, was raschelt im
Stroh! Was ist denn das für 'ne seltsame Heilige?
Mäurer:
Das ist von einem gestrandeten Schiff die Gallionfigur.
Schilling:
Äh, überall diese wahnwitzigen Weibsbilder!
Mäurer:
Etwas übergeschnappt sieht sie wirklich aus.
Schilling:
Sag mal, findest du da keine Ähnlichkeit?
Mäurer:
Lucie behauptet mit ihrer Mutter.
Schilling:
Nein, Luciens Mutter meine ich nicht. -- Im Ausdruck das Haar, auch in der
Bewegung.
Mäurer:
Mir dämmert es schon! Aber ich billige dieses Ähnlichkeitsaufstöbern
nicht. -- Trau einem alten, gezausten Fuchs wie mir, mein Sohn: verwickle
dich nicht in Ähnlichkeiten. Das sind Schlingen, die man sich selber
legt. Und wenn wirklich die Holzpuppe Hanna Elias ähnlich sieht, so
mache dir klar, sie hat mit ihrer lüsternen Nase ihr ganzes Schiff in
einen nicht grade feucht-fröhlichen Abgrund verführt. -- Atme, Mensch,
trinke die starke Luft, und laß das Gespenst deines Lebens von gestern
dein wirkliches Leben von heut nicht mattsetzen.
Schilling:
Da ist keine Gefahr mehr, Gott sei Dank! -- Ich sage dir ja, diese Sache
mit Hanna ist versunken. Wir haben uns endlich mal so vollkommen
geklärt, so in alle Winkel unsrer Beziehung hinabgeleuchtet, daß da
absolut nichts mehr zu erörtern bleibt.
Mäurer:
Dann gratulier ich von Herzen, Schilling.
Schilling:
Verdorben, gestorben, eingesargt, zwölf Klafter tief unter die Erde
begraben. -- Und, Ottfried, den Gefallen mußt du mir tun: kein Wort,
keinen Laut mehr von dieser Geschichte. -- Du kennst mich ja; ein für
allemal, Ottfried: wenn mir mal ne Erinnerung über die Leber läuft,
bitte, laß mich, bemerke es nicht. Es sind manchmal läppische
Kleinigkeiten!
Mäurer:
Ähnlichkeiten!
Schilling:
Ein dunkles Auge ... irgendein Zug um den Mund, das kann Tote wieder
lebendig machen! Aber dann laß mich, störe mich nicht! Denn das lähmt
mich in meiner Brutalität. Man muß brutal sein, man braucht alle Kraft,
um so eines bleichen gestrigen Wesens Meister zu sein! (Er springt auf,
wirft Hut, Stock und Rucksack weg und beginnt sich auszukleiden.) Und nu
Junge, Reinheit, Freiheit! Luft! Gott sei Dank, ja, man kann hier wieder
mal atmen! Hoffentlich kommt bald 'n Sturm! So was Wildes, Frisches,
Tolles, Brausendes, Salzhaltiges brauche ich! -- ein Bad! -- Kein
Weibergeplärr! Kein Zungengedresch in Nachtcafés! In Freiheit zugrunde
gehn, meinethalb -- nur nicht vergurgeln in einem Abraumkanale! (Er rennt,
halb entkleidet, gegen die See hin.)
Mäurer:
Nicht zu weit hinein, Schilling!
Schillings Stimme:
Bade mit, Ottfried! Herrlich! Ahoi, ahoi!


Zweiter Akt

Das enge, niedrige Wohnzimmer der Familie Klas Olfers in Klas
Olfers' Gasthaus auf Fischmeisters Oye. Durch eine Tür in der
Hinterwand erblickt man den Flur und eine leiterartige Stiege ins
Dachgeschoß. Jenseits des Flurs durch eine andere offne Tür das
geräumige Gastzimmer. Die Wand rechts im Wohnzimmer ist ebenfalls
mit einer Türe versehen, die zu einem dunklen und überfüllten
Ladenraume führt, worin Klas Olfers Waren für die Bedürfnisse der
armen Fischer hält. An der gleichen Wand steht ein altes Ledersofa,
davor ein Tisch, über diesem ist eine billige Hängelampe
angebracht, um ihn herum stehen gelbpolierte Stühle aus
Fichtenholz; etwas seitlich davon eine kleine Wanduhr. Die Wand
links enthält ein kleines Fensterchen mit Mullgardinen. Am Fenster
ein kleiner Nußbaumnähtisch; in der Ecke links ein Schreibsekretär
aus gleichem Holz, in der Ecke rechts ein weißer Kachelofen, über
dem Sofa ein Öldruck der kaiserlichen Familie, auf dem Fußboden ein
Teppich aus zusammengestückelten Läppchen, eine rot und weiß
karierte Decke auf dem Tisch. Auf einer Kommode an der Fensterwand
eine Porzellanuhr mit Glocke und einige Steingutväschen mit
Papierblumen. Auf dem gehäkelten Deckchen des Nähtisches
Familienphotographien in stehenden Papprähmchen. Oben auf dem
Nußbaumsekretär befindet sich eine ausgestopfte Seemöve, die mit
ihrem Kopf die weißgetünchte Zimmerdecke berührt. Das Ganze macht
einen ungemütlichen, höchst bescheidenen Eindruck.
Es ist Morgen, gegen acht Uhr. Klas Olfers, über fünfzig Jahre alt,
graubärtig, von pergamentener Haut und beängstigend bläulicher
Gesichtsfarbe, sieht zu, wie die Magd den Tisch für das erste
Frühstück zurecht macht. Die Ereignisse des ersten Aktes liegen
drei Tage zurück.
Vor der Tür wird lebhaft mit einer Peitsche geknallt.
Klas Olfers
(wird aufmerksam):
Nanu? Wat wie det?
Die Magd:
Det is de olle Mathias von de Fährinsel mit sinen loahmen Grauschimmel.
He bringt twee fremde Doamens up sin Brettwoagen.
Klas Olfers
(am Fenster):
He, Mathies! Wat hest du woll bei die Herrgottsfrühe schon for'n Butt ut
de Rois'n holt!
Stimme des Mathias:
Tschä! Det is nu nich anders, Klas Olfers.
Klas Olfers:
Ick komm gliek rut! -- Spring man fix tau, Dearn. Help de Doamen ut de
Karreet!
Die Magd:
Et is man bloß noch eene im Wagen drin.
Hanna Elias steht in der Flurtür. Auf dem rabendunklen Haar trägt
sie einen dunklen, breiten Strohhut mit Mohnblumen garniert. Die
Haut ihres Gesichtes ist von wächserner Blässe und
Durchsichtigkeit. Ihre Züge sind äußerst fein und dabei
intelligent. Ihre Augen sind groß, dunkel, unruhig. Über all ihren
Bewegungen liegt etwas Unstätes. Sie kann die Finger nicht still
halten. Ein Zug des Nachdenkens, gleichsam über ein Problem, dessen
Lösung ebenso aussichtslos als unbedingt notwendig ist, befällt sie
immer, sofern nicht äußere Eindrücke sie ablenken. Ihre Kleidung im
ganzen zeugt von exotischem Geschmack, wie denn überhaupt der
Eindruck, den sie hervorruft, fremdartig ist. Sie ist zart, eher
klein als groß und gehört jenen Frauen an, bei denen nicht ohne
weiteres zu entscheiden ist, ob sie die Zwanzig kaum überschritten
haben, oder ob sie über die Dreißig sind.
Hanna
(gut deutsch, nur leicht fremdartig im Ausdruck):
Bekommt man hier auf ein bis zwei Nächte Unterkunft?
Klas Olfers:
Tschä! gewiß! Dat schell uns woll keene Kopfschmerzen maken, min
Freilein! Es is zwar alles knüppeldickvoll bei Klas Olfers, aber von die
zwölf Gastzimmer ... Stücker dreizehn sind deswegen immer noch frei.
Wünschen Sie en Zimmer oder zwei?
Hanna
(in den Hausflur sprechend):
Wir nehmen doch zwei Zimmer, Fräulein Majakin?
Fräulein Majakin
(im Hereintreten):
Wenn ich bitten darf, nehm ich für mich ein Zimmer.
Fräulein Majakin ist eine siebzehnjährige Russin aus Petersburg.
Obgleich sie nicht groß ist, muß man sie, da ihr alles
Backfischartige, Halbreife abgeht, für älter halten. Ihre Kleidung
ist durchaus schlicht und unauffällig.
Klas Olfers
(der sein gesticktes Käppi in der Hand dreht):
Se kennen twee Zimmer nebeneinander hoaben, meine Doamens, nach See rut.
Wollen Sie glik auf't Zimmer gehn?
Fräulein Majakin:
Wenn Sie hierbleiben wollen etwa, Frau Hanna, ich gehe doch vorher
einmal hinauf.
Hanna
(die unschlüssig schien):
Ich auch, natürlich.
Klas Olfers:
Fix, Dearn, spring vorut! (Die Magd drückt sich eilig an den Damen
vorbei in den Flur und man hört sie laut polternd die Holzstiege
hinaufstürmen. Klas Olfers fährt fort.) Denn dürft ich woll freundlichst
gebeten haben!?
Er postiert sich, das Käppi in der Hand, an der Flurtür, die Damen
folgen, nachdem Hanna das Zimmer mit den Augen durchforscht und ihr
Sonnenschirmchen an einen der Stühle gelehnt hat, dem
Dienstmädchen, Klas Olfers den Damen, so daß der Raum leer bleibt.

Ein Fischer in blauer Jacke steckt seinen hellblonden, bärtigen
Kopf aus dem Laden herein. Es ist Schuckert.
Schuckert:
He! -- Klas Olfers! -- Ick wull gern een Stücker twelf Meter Tau
hebben! -- He, Klas!
Respekt vor der guten Stube, dem gedeckten Frühstückstisch
bewirken, daß Schuckert seine Stimme dämpft.
Durch den Hausflur trägt der alte, mächtige, schwarzhaarige Fischer
Mathias das Gepäck der Damen vorüber. Klas Olfers kommt ihm die
Treppe herab entgegen.
Klas Olfers
(im Hausflur):
Lat et man lieber unnen stehn, Mathies! 'n Kierl wie du mit diene
Transtebel bricht mie sünst noch miene Stiegen dörch! -- Komm in de
Gaststub, trink 'n Glas Beer!
Mathias
(läßt den Gepäckhaufen liegen, richtet sich auf, nimmt die blaue
Schildmütze ab, so daß die Luft an den Scheitel kann, hält sie aber
in einiger Entfernung über dem Kopfe fest und streift mit dem
Handrücken der Rechten den Schweiß von der Stirn. Dabei pustet er
erleichtert):
't makt warm, Klas Olfers! 't makt wedder warm hüt!
Klas Olfers
(zu dem Mädchen, das eilig die Treppe herunterkommt):
Bring das Gepäck na baben, Dearn!
Schuckert
(hat über den Vorgängen im Flur den Zweck seines Kommens vergessen.
Erinnert sich nun wieder und ruft):
He! -- Klas Olfers! Ick wull giern een Enn Tau hebben! -- Klas! -- Unn twee
Meter ... twee Meter Sägellinwand .... (Als niemand auf ihn hört) ...
Sägellinwand wull ick girn hebben.
Klas Olfers
(indem er mit Mathias die Gaststube gegenüber betritt):
Na, Mathias, wie is? Wenn kenn wi mal wedder scheunen, fetten Oal
hebben?
Sie verschwinden im Gastzimmer. Man hört zuweilen von dort den
schweren Schritt des Fischers, Klappern von Bierseideln und das
undeutliche Geräusch plattdeutscher Unterhaltung. Nun kommt die
Treppe herunter und in das Zimmer herein Mäurer, ein Buch und
einige Drucksachen in der Hand. Er nimmt am Tisch Platz. Schuckert
hat seinen Kopf zurückgezogen. Mäurer entfaltet eine Karte und
blickt kopfschüttelnd auf, als das geschäftige, laute Gepolter von
Tritten auf der Treppe nicht abreißt. Plötzlich steckt Lucie ihren
Kopf zum Fenster herein.
Lucie:
Guten Morgen, Herr Mäurer!
Mäurer:
Na, endlich jemand. Wo steckt ihr denn? Glaubt ihr, ich kann von der
Luft leben?
Lucie:
Bist du allein?
Mäurer:
Mutter-Hund, so zu sagen, eine geschlagene Stunde lang.
Lucie verschwindet vom Fenster, kommt schnellfüßig durch den
Hausflur ins Zimmer, schließt die Türe hinter sich, die Tür nach
dem Laden ebenfalls, geht wortlos auf Mäurer zu, umhalst ihn, zieht
ihn nach rückwärts, so daß der Stuhl kippt, und küßt ihn zu vielen
Malen mit frischer, gesunder Leidenschaftlichkeit. Sie ist im
fußfreien Leinwandkleidchen vom Baden gekommen, trägt die Wäsche
noch unterm Arm und das Haar zum Trocknen offen. Mäurer wehrt sich
zunächst nicht, dann zieht er das Mädchen auf seinen Schoß und küßt
sie, merklich erwärmt, auf den Mund, wobei er den Duft ihres
erfrischten Körpers einzusaugen scheint.
Mäurer:
Frische Seejungfer!
Lucie:
Gott sei Dank, daß ich dich endlich mal allein habe. Das kommt jetzt gar
nicht mehr bei uns vor.
Mäurer:
Außer, wenn die Hunde den Mond anbellen!
(Stillschweigen und erneute Küsse.)
Lucie:
Ich schlafe hier furchtbar wenig, Ottfried. Es war wieder taghell diese
Nacht. Ich habe nach zwölf Uhr noch ohne Kerze gelesen. -- (Sie küßt ihn
wieder.)
Mäurer
(von ihr umhalst):
Halt, Lucie, sei nicht so unvorsichtig!
Lucie
(stutzt und verstummt einen Augenblick, dann lacht sie mit
verdoppelter Lustigkeit aus gesunder, übermütiger Kinderseele
heraus, toll und hinreißend):
Man merkt, daß du heuer noch kein Seewasser geschluckt hast, Ottfried!
Sonst würden dir sämtliche Spießbürger der Welt, so wie mir,
piepschnuppe sein; -- (sie gerät wieder in einen neuen gesunden Lachkrampf
von innen heraus, dann Olfers nachahmend): »Heute mittag woll wi zur
Abwechslung wieder mal Kabeljau essen!« Bis zur Übelkeit Kabeljau! Jau,
jau, Kabeljau!
Mäurer:
Kriege bloß keinen Lachkrampf, liebe Lucie!
Lucie:
Und dann lassen wir uns von Klas Olfers seinem gestickten Käppi eine
Bouillon kochen.
Mäurer:
In solchen Fällen pflegte meine Schwester früher immer zu mir zu sagen:
du ahnst etwas!
Lucie:
Die See! Die See! Die See! Die See! Wenn ihr wollt, daß ich wieder
lebendig und fuchsfidel munter werde, wenn ich mal sollte gestorben
sein, so braucht ihr mich bloß in Seewasser zu tunken!
Sie nimmt vor einem kleinen Spiegelchen ihr Haar zusammen.
Mäurer:
Sag mal, hast du Schilling gesehen?
Lucie:
Schilling treibt's mit dem Baden viel toller als ich. Er schwimmt, bis
man ihn aus den Augen verliert; der kann aus dem Wasser erst recht nicht
herausfinden.
Mäurer:
Ich finde, daß seine Laune zusehends besser wird.
Lucie:
Na, ganz gewiß.
Mäurer:
Auch sein Betragen ist wieder viel offner und freier, mehr, wie es in
alten Zeiten war.
Lucie:
Ich finde ihn geradezu ausgelassen. Ich habe ihn so überhaupt nicht
gekannt.
Mäurer:
Da hast du wohl recht. Das kannst du wohl sagen. In der Zeit, als du ihn
zum erstenmal sahst, hatte er schon seinen Klaps weggekriegt.
(Schilling erscheint am Fenster.)
Schilling
(mit blauen Lippen und vor Frost klappernd):
Jetzt aber ein Königreich für einen heißen Kaffee, Kinder!
Mäurer:
Schilling, ich sage dir, wenn du so wahnsinnig übertreibst, wirst du
nochmal so oder so dran glauben müssen: entweder ersaufst du, oder du
kriegst einen Schnupfen weg, an dem du dein Lebelang zu niesen hast!
Schilling:
Den brauch ich nicht kriegen, den hab ich schon.
Lucie:
Haben Sie jemals in Ihrem Leben eine solche wasserscheue Unke gesehen?
Schilling:
Landratze! Unverbesserliche, feige Landratze! --
(er singt):
Am Woasser, am Woasser
Am Woasser bin i z'haus!
Singend und mit den Fingern schnipsend, wie ein
Schuhplattlertänzer, entfernt er sich vom Fenster. Lucie und Mäurer
lachen ununterbrochen, während Schilling singend durch den Flur und
ins Zimmer kommt.
Mäurer:
Nanu aber Frühstück! Kaffee! Wirtschaft!
Schilling:
Klas Olfers! Wirtschaft! Wir demolieren das ganze Haus!
Alle drei trommeln in ausgelassener Lustigkeit auf dem Tisch herum.
Klas Olfers kommt mit komischem Entsetzen aus der Gaststube über
den Flur herein.
Klas Olfers:
Um Gottes willen! Wo fehlt et denn, meine Herrschaften?
Mäurer:
Im Magen, Herr Olfers.
Klas Olfers:
Dat is immer better als im Kopp.
Schilling:
Oder in der Westentasche.
Das Dienstmädchen kommt feuerrot mit einem schwerbeladenen
Kaffeebrett.
Klas Olfers:
Dearn, bring Kaffee!
Die Magd:
Gehn Se man aus'n Weg, Herr Olfers! (Olfers drückt sich schnell
beiseite.)
Lucie:
Sehn Sie, Herr Olfers, Ihre Bemühungen um die Wirtschaft werden noch
nicht mal anerkannt.
Klas Olfers:
Mit de Fruenslüt möt een klogen Mann dat gewehnt sin, Freilein!
Mäurer:
Sie haben wohl neue Gäste gekriegt?
Klas Olfers:
Twee Fruenslüt von Breege dröben per Sägelboot. Se sünd all in Breege up
Rügen dröben to Boadekur.
Schilling:
Jung oder alt?
Klas Olfers:
Scheune Matjeshäringe! Ick segg awer, det et unbedingt müssen
ausländ'sche Doamen sin!
Mäurer:
Fischmeisters Oye wird Weltbad, Olfers!
Die Magd hat den Tisch geordnet und sich entfernt. Mäurer,
Schilling und Lucie fangen sogleich an, lebhaft einzuhauen. Milch
und Kaffee werden eingegossen, Eier zerklopft, Brote mit Butter
gestrichen, Aufschnitt geschnitten. Formen werden dabei nicht
pedantisch gewahrt.
Klas Olfers
(steht, sieht zu und dreht befriedigt einen Daumen um den andern.
Nach einer Weile sagt er):
Die See macht Apptit! -- Na, wenn't man schmeckt!
Mäurer:
Vorzüglich! -- Sagen Se mal, Herr Olfers, kriegen wir heut mittag
Schweinebraten?
Klas Olfers:
Joa! Det kann am End wohl lickt angängig sin.
Mäurer:
Ich dachte mir's.
Klas Olfers:
Worum dachten sich det?
Mäurer:
Na, ich denke, das Schwein is heut nacht an Rotlauf draufgegangen!
Klas Olfers:
Tschä! Got, dat ich versichert woar.
Lucie und Schilling platzen heraus.
Klas Olfers
(dem der Spaß jetzt einleuchtet):
I wat? Von düß Swin Swinebroten? Nee, Herrschaften, dat gift et bie Klas
Olfers nu und nimmermehr!
Schilling:
Wo beziehen Sie denn Ihren Kaffee her?
Klas Olfers:
Allet ut Stroalsund.
Schilling:
Gibt's denn in Stralsund so große Kornfelder?
Klas Olfers:
Ooi, oi, oi! Mine Herrschaften, Si foppt mi!
(Er läuft mit Zeichen gemütlichen Entsetzens hinaus.)
Lucie:
Kinder, ärgert den alten Trottel nicht immer so schrecklich!
Schilling:
So! Und jetzt kann man sich endlich in aller Ruhe eine Importe für zehn
Pfennig ins Gesicht stecken. (Er lehnt sich zurück und zieht sein
Zigarrenetui.)
Mäurer:
Du hast aber gar nicht soviel Hunger gehabt!
Schilling:
Meistens Durst. -- Leichtes Getränk! -- Sogar das einfache
Lagerbier ist mir zu schwer. -- Es muß was sein, wovon man viel
trinken kann! -- Das grasgrüne, sogenannte Trinkwasser hier auf
der Insel ist ganz scheußlich! Geradezu eine Kalamität!
Mäurer
(sich zurücklehnend):
Na, wie denkst du heut über Griechenland?
Schilling:
Wie immer! Ein formidabler Gedanke!
Mäurer:
Möchtest du nicht mal endlich dorische Säulen sehen, dort, wo sie
gewachsen sind?
Schilling:
Na ob und wie!
Mäurer:
Nu aber mal ernsthaft! Wir müssen darüber mal ernsthaft nachdenken.
Schilling:
Darüber denke ich seit meinem sechzehnten Jahre ernsthaft nach.
Mäurer:
Aber nicht über meine präzisen Vorschläge.
Lucie:
Diese Nacht im Traum bin ich ununterbrochen mit ziemlichen
Schwierigkeiten von einer griechischen Insel zur andern voltigiert.
Schilling:
Redet mir bloß nicht von Träumen, Kinder! Meine Seele war diese Nacht in
dem Aal, den ich gestern abend gegessen habe. Wahrhaftigen Gott! Und ich
schrie, als der Aal, weil ich schreckliche Angst vor einem ekligen
Aalnetze hatte!
Mäurer
(lachend):
Bleiben wir mal bei der Stange, mein Sohn. Es ist jetzt die Rede von
Griechenland. Du weißt, daß ich mir bei einigem guten Willen einreden
kann, daß ich hin muß. Und es ist auch mein fester Vorsatz. Nun weiß
ich nicht, was du dagegen haben kannst, mit uns mal zum Zwecke einer
allgemeinen Aufpolsterung dort unten herumzusteigen?
Schilling
(mit verändertem Ton):
Mein Junge, ich ziehe mir morgens die Kleider an und finde das manchmal
schon zu umständlich. Ich ziehe sie abends wieder aus und habe etwas
mehr Spaß daran; damit habe ich mehr als genug zu tun. Was darüber
hinausgeht, ist mir zu weitläufig.
Mäurer:
Ist das die Wirkung von euren Seebädern?
Schilling:
Weiß Gott, wovon das die Wirkung ist! Sieh mal, es gab mal bei mir eine
Zeit, da braucht ich an einem grauen Tag nur in der Ferne, zum Beispiel
an einem Berg oder an einem der märkischen Seeufer irgendeinen von der
Sonne beschienenen Fleck zu erblicken, sofort verlegte ich auch ein
Stück Eden dahin. Was sollte ich heute in Griechenland? Ich kann in die
Dinge nichts mehr hineinlegen. Äh, stellen wir erst die Uhr mal ab. (Er
steht auf und stellt den Pendel der Wanduhr still.)
Mäurer:
»Es gab eine Zeit«! was tu ich damit? Du solltest eine so schwächliche,
sentimentale Altweibersommermeditation wahrhaftig anderen überlassen.
Und die Uhr wird auch nicht mehr abgestellt! (Er springt auf und stößt
den Pendel der Uhr wieder an, so daß sie geht. Lucie bricht in Gelächter
aus.) Taten, mein Junge! Malen! Arbeiten! Was meinst du wohl, wie gesund
das ist!
Schilling:
Nanu will ich dir mal was anderes sagen: ich reise seit meinem
sechzehnten Jahre jedes Frühjahr und jeden Herbst mittels einer sehr
lebhaften Phantasie nach Griechenland. In Wirklichkeit bin ich nie
hingekommen; da glaubt man nu mal so recht nicht mehr dran.
Lucie nimmt eine Gitarre vom Sofa und zupft darauf leise die
»Ruinen von Athen« von Beethoven.
Mäurer:
Das ist Sache der Berlin-Wien-Triester Eisenbahn und des
Österreichischen Lloyd, keine Glaubenssache. Man kauft ein Billett, und
dann ist man dort. Und wenn man erst dort ist -- in lumpigen vier, fünf
Tagen kann man es sein, Schilling! -- so sieht man das bißchen Kehricht
im Winkel eines Berliner Ateliers ganz anders an. Man sieht's überhaupt
nicht mehr, kann ich dir sagen. -- Man muß doch mal deutlich mit dir sein.
Schilling
(mit lauter, scheinbarer Zustimmung):
Na los, Kinder, woll'n wir heut mittag abreisen! -- Ich rauche noch
meinen Glimmstengel aus, und dann fang ich an, meine Sachen zu packen,
und nu red aber einer noch 'n Wort.
Lebhafter Heiterkeitsausbruch von Lucie und Mäurer ob des drolligen
Auftrumpfens. Schilling ist aufgestanden und geht heftig paffend im
Zimmer umher. Mäurer erhebt sich ebenfalls, hält eine Zigarre in
der Hand und versucht mehrmals vergeblich ein Streichholz
anzuzünden.
Mäurer:
Weiß der Teufel, ich kann vor Erregung kein Streichholz mehr ankriegen,
so oft die Idee, das Land des goldelfenbeinernen Zeus -- das Land, in dem
beinahe mehr Götter aus Erz und Marmor als Menschen gewesen sind -- mal
wiederzusehen, mich packt. Die Welt der Barbarenhorden, in der wir
leben, ist ja doch nur von grimassenschneidenden Affen erfüllt!
Schilling:
Anwesende hoffentlich ausgeschlossen.
Mäurer:
Allerdings; denn nach Rasmussen ist es klar, daß die alten Griechen,
genau wie wir, langschädlige, blonde Kerle gewesen sind.
Schilling:
Ich bitte dich, rede mir bloß nicht von Rasmussen.
Mäurer:
Er mag manchmal so lächerlich und so verbohrt wie möglich sein: wenn du
ihn mal brauchst, so wirst du ihn finden!
Schilling:
Gott sei gedankt, getrommelt und gepfiffen, ich brauche ihn nicht.
Lucie
(legt die Gitarre weg und springt auf):
Kinder, ich werde mich jetzt ein bißchen umziehen und anziehn gehn; dann
werde ich einige Kreutzeretüden herunterhaspeln, denn wenn ihr wirklich
nach Griechenland reist, so laß ich mich unten in Athen doch natürlich
vor der Königin hören.
Sie eilt durch den Flur die Treppe hinauf ab, gleich darauf hört
man von oben Geigenspiel.
Schilling:
Nee, Hellas und Rasmussen vertragen sich nicht.
Mäurer:
Laß ihn, es handelt sich jetzt nicht um Rasmussen. Es handelt sich jetzt
um dich und mich. Meine Idee wäre, daß wir vielleicht erst ein bißchen
nach Kleinasien gehn, von da nach Athen, dann bleiben wir in Korfu zwei,
drei Wochen lang; und im März sind wir unten in Florenz, wo ich ja Gott
sei Dank meine Ateliermiete vor kurzem, und zwar noch im letzten
Augenblick, für drei Jahre erneuert habe. Dort kannst du auch, von den
Uffizien gar nicht zu reden, mal wieder nackte Modelle sehn.
Schilling:
Ich möchte dran glauben, wahrhaftig, Ottfried! Beinahe kann ich's, es
geht aber nicht! -- Sieh mal, mir dreht sich die Galle im Leibe um, wenn
ich denke, wieviel ich in den letzten fünf Jahren endgültig und
unwiederbringlich verlumpt habe. Es ist zu spät, man holt's nicht mehr
ein!
Mäurer:
Bis zum siebenunddreißigsten Jahr kommt niemand ohne Blessur durch die
Welt. Wir haben alle ein verknotetes Schicksal als Aufgabe, und die
Lösung kann immer wieder nichts anderes sein als die Tat.
Schilling:
Du stehst breit und fest und kraust dir den Bart. Dir gereicht eben
alles zum Guten schließlich, und mir schlägt es zum Miserablen aus.
Mäurer:
Nein, ich habe nur immer den Grundsatz gehabt, den ich auch dich zu
befolgen bitte und der: »Nimm Kraft aus deiner Schwäche« heißt.
Schilling:
Ich hab keinen Pfennig Geld in der Tasche.
Mäurer:
Daß du das immer wieder betonst, ist bei einer alten Freundschaft wie
unserer lächerlich.
Schilling:
Das hab ich auch schon ... das klingt sehr verlockend!... das hab ich
auch schon von Frauenzimmern gehört. Und dann ist es mir ziemlich übel
bekommen.
Mäurer:
Frauenzimmer und Freund ist ein ander Ding. Muß ich dich dran erinnern,
Schilling, daß ich in alten Zeiten als Hungerleider mal vor deiner Tür
um fünfzig Pfennig bitten gewesen bin, um nur mal wieder zu mittag zu
essen?
Schilling:
Es hält mich nichts, es hindert mich nichts. Ich bin bereit, und im
Augenblick meinethalben, mit dir nach dem Monde zu reisen. Und doch
glaub ich an die Geschichte nicht! -- Sieh mal, von meiner »Gattin«
Eveline bekam ich noch gestern abend hier diesen Brief. Du weißt
vielleicht nicht, daß sie über die neue Wendung der Dinge mit ... mit
Hanna im siebenten Himmel ist. -- Ja, ich hatte ihr scherzweise etwas von
deinen Absichten angedeutet. Ich hatte das Maul etwas vollgenommen, so
etwa wie: meine ganze bisherige Tätigkeit wäre eigentlich lauter
Vorarbeit und so weiter, und hoffte jetzt wirklich mit dem wirklichen
Werk mal anzufangen; was man so, um Seiten zu füllen, schreibt. Und da
lies mal gefälligst den Dithyrambus! (Er wirft Mäurer den Brief hin):
Also! Was sollte mich also festhalten? -- vorausgesetzt, daß von dem
Reisegeld etwas für die Mäuler zu Hause übrig bleibt.
Mäurer:
Was willst du mit siebenunddreißig Jahren, mein Junge, denn anders
gemacht haben als die Vorarbeit? Der Japaner Hokusai sagt: alles, was er
im Alter vor siebzig Jahren gemalt habe, sei nicht der Rede wert. Und du
willst im Alter des Schülers verzweifeln.
Schilling:
Na, Teufel, da will ich mir noch eine anstecken! -- (Merkbar erregt,
zündet er seine zweite Zigarre an): Weshalb auch nicht? -- Na, alsdann!
Versuchen wirs eben noch mal. -- Schneid hätt ich eigentlich immer, bloß
eigentlich keine Traute nicht. Es ist wahr, ich fühle mich hier etwas
anders. Ich fühle mich hier -- ich finde wirklich, daß feste Entschlüsse
ganz günstig wirken! -- ich fühle mich hier sogar aufgefrischt! Ich könnte
beinahe glauben -- beinahe wieder glauben, es gibt außer dem
jammerwürdigen Sackhupfen nach der Krume Brot und ähnlichen kläglichen
Amüsements noch einen anderen Zustand in der Welt. Die Erinnerung an ...
an ... an den Gestank fängt an zu verblassen in ... in der salzigen
Inselluft. Man bildet sich ein ... ganz ohne Spaß, man bildet sich ein
... man fragt sich, ob man sich denn tatsächlich in diesen verdammten,
rückwärtigen Trichter muß hineinziehen lassen? -- Warum denn? Nein! Ich
glaube das nicht! Ich werde mal ganz entschieden nein sagen! Warum laß
ich nicht alles mal sitzen und liegen und hocken und quetschen und
stinken nach Herzenslust? Warum nicht? Denkst du vielleicht, ich kann
das nicht? Was denn? Sie saugen sich an wie die Blutegel, sie binden
You have read 1 text from German literature.
Next - Gabriel Schillings Flucht: Drama - 3
  • Parts
  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 1
    Total number of words is 3976
    Total number of unique words is 1409
    40.2 of words are in the 2000 most common words
    51.8 of words are in the 5000 most common words
    57.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 2
    Total number of words is 4020
    Total number of unique words is 1514
    38.2 of words are in the 2000 most common words
    50.4 of words are in the 5000 most common words
    55.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 3
    Total number of words is 4109
    Total number of unique words is 1380
    43.3 of words are in the 2000 most common words
    55.7 of words are in the 5000 most common words
    60.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 4
    Total number of words is 3944
    Total number of unique words is 1375
    42.8 of words are in the 2000 most common words
    54.9 of words are in the 5000 most common words
    61.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 5
    Total number of words is 3979
    Total number of unique words is 1296
    43.0 of words are in the 2000 most common words
    55.1 of words are in the 5000 most common words
    60.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 6
    Total number of words is 2644
    Total number of unique words is 1057
    40.1 of words are in the 2000 most common words
    50.6 of words are in the 5000 most common words
    56.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.