Gabriel Schillings Flucht: Drama - 3

Total number of words is 4109
Total number of unique words is 1380
43.3 of words are in the 2000 most common words
55.7 of words are in the 5000 most common words
60.6 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
einem Hände und Füße delilahaft, sie gießen einem Blei ins Hirn, sie
knebeln einem das Maul mit Gemeinplätzen und pauken einem mit einem
täglichen Hagel von faustdicken Dummheiten das letzte bißchen Ehrgefühl
aus dem Tempel raus. Sucht mich im Peloponnes, meine Herrschaften!
(Während seines halb ernsten, halb drolligen Ausbruchs hat Schilling
sich erhoben und läuft umher. Gemeinsames Gelächter beider Freunde
beschließt die Rede.)
Mäurer:
Bravo! Man muß sich die Leber mal freipulvern!
Schilling entdeckt plötzlich das Schirmchen der Hanna Elias. Er
nimmt es auf und besieht es von allen Seiten.
Schilling
(immer noch in Betrachtung des Schirmchens vertieft):
Sage mal, wem gehört denn das?
Mäurer
(das Schirmchen prüfend):
Das wird 'n Schirmchen von Lucie sein! -- Aber nein: die trägt ja nie
solche Dinger.
Schilling
(betrachtet das Schirmchen, blickt dann mit einem fragenden
Ausdruck in Mäurers Augen, dann wieder auf den Schirm, den er
aufspannt. Er untersucht den Griff, liest von einem
Silberplättchen):
-- »Zum 13. Juni 99« -- (sieht wiederum Mäurer an, tut wie abwesend einige
Schritte langsam und dumm lächelnd auf die Flurtür zu, bleibt stehen,
schließt das Schirmchen, sagt halb abwesend, mit dem Ausdruck der
Verlegenheit): -- Ganz unbegreiflich! -- (scheint dann aufzuwachen und geht
mit den Worten): Entschuldige mich mal einen Augenblick! -- (durch den
Flur in das Gastzimmer, um Klas Olfers zu suchen.)
Mäurer
(ergreift einen Spazierstock und stößt dreimal gegen die
Zimmerdecke. Sogleich verstummt das Geigenspiel und Lucie kommt die
Treppe heruntergepoltert und ins Zimmer.)
Lucie:
Ist Schilling hier?
Mäurer:
Nein. Was ist denn los?
Lucie:
Ich habe in diesem Augenblick oben auf dem engen Gange zwischen den
Zimmern eine Dame getroffen, die sah wie Hanna Elias aus!
Mäurer:
Hanna Elias? Das ist ja unmöglich. Hast du sie angeredet?
Lucie:
Nein. Ich war so verdutzt, ich hätte kein Wort hervorgebracht. Und
außerdem war ich auch nicht ganz sicher. Es ist in dem Gange nicht hell
genug.
Mäurer:
Deshalb wirst du dich auch wahrscheinlich getäuscht haben; -- das heißt
--: Schilling hat eben jetzt hier ein kleines grünes Schirmchen entdeckt!
-- Sollte das Unheil doch in der Luft liegen? -- Na, jedenfalls red ich
mit ihr kein Wort.
Lucie
(hält noch immer die Klinke der Tür, die sie hinter sich zugezogen
hat, fest):
Fragen wir doch mal Olfers, Ottfried!
Mäurer:
Oder hole doch mal das Fremdenbuch! Ich sah vorhin schon den Olfers, der
ja doch neugierig wie ein Rotschwanz ist, mit der fettigen Kladde um die
Zimmertüren der Fremden herumschleichen.
Lucie eilt resolut in das Gastzimmer hinüber und ist sogleich mit
dem Fremdenbuch wieder bei ihm.
Lucie
(hat das Fremdenbuch auf den Tisch gelegt, blättert hastig):
Also -- -- : Frau Hanna Elias! -- Hier stehts.
Mäurer
(er tritt heran, überzeugt sich, daß der Name wirklich dasteht, und
Lucie und er blicken einander längere Zeit sprachlos an, dann sagt
er):
Das ist doch tatsächlich ein -- Aas, dieses Frauenzimmer!
Lucie:
Pst. Ottfried! Ich glaube, sie kommen schon.
Mäurer:
Dann kriech ich durchs Fenster, liebes Kind. Ich kann diese blutleere
Fratze nicht sehen. Diesen lemurischen Wechselbalg. Ich kriege das
Grausen vor dieser Larve. Ich fürchte mich, wenn ich nachts unter einem
Dache mit diesem Gespenste bin. Ich bin überzeugt, es springt ihr nachts
eine weiße Maus oder was ähnliches aus dem offenen Mund und saugt sich
einem im Schlaf an die Pulsader. Adieu: komm nur nach, ich kneife
aus! -- (Er steigt, während man die Stimmen von Hanna Elias und Schilling
laut auf der Treppe hört, eilig zum Fenster hinaus.)
Lucie:
Ottfried, Ottfried! Sei doch nicht unsinnig. --
(Sie ist allein und wird von lautlosem Lachen geschüttelt. Nachdem
sie ein wenig die Fassung gewonnen hat, horcht sie an der Tür und
wischt dann, diese aufstoßend, ebenfalls schnell hinaus.)
Hanna Elias und Schilling kommen jetzt die Treppe herunter, dieser voran
ins Zimmer, sie folgt.
Schilling
(dessen Antlitz jäh von einer beängstigenden Blässe befallen ist):
Sie sind nicht mehr da. -- Sie sind schon fort. -- Wahrscheinlich schon an
den Strand gegangen. -- Wart, ich häng deine Jacke auf, oder ... willst
du den Hut aufbehalten? -- (Seine Bewegungen sind unsicher, seine Hände
zittern vor Erregung. Er steckt den Kopf durchs Fenster hinaus und
ruft): Ottfried! Ottfried! Fräulein Lucie! -- Nein! -- Nun setz
dich, Hanna. Das ist unsere separate Klause hier. Olfers hat sie
uns eingeräumt, damit wir nicht immerfort von den Gemeinplätzen
der anderen Gäste belästigt werden. So! -- (Die Tür ist
geschlossen, er schließt auch noch das Fenster.) Jetzt aber bitte
ich dich, kläre mich auf.
Hanna
(nur auf dem Rande eines Stuhles sitzend, die Arme ausgestreckt auf
dem Tisch ruhen lassend, zerpflückt ein Papier):
Du bist nicht sehr froh, daß ich bei dir bin?!
Schilling:
Ich bin zunächst mal überrascht, liebe Hanna. Das kann schlechterdings
auch nicht anders sein, wie du zugeben wirst. Alles andere ist dabei
Nebensache.
Hanna
(wie vorher):
Ja, das sagst du -- : für mich leider noch immer nicht.
Schilling:
Hanna, du sollst mich nicht falsch verstehen. Natürlich freu ich mich,
daß du da bist, aber sag mal selbst -- erwarten konnt ich dich doch nach
dem, was geschehen ist, nicht; und nun gar auf dieser entlegenen
Insel. -- (Er reißt plötzlich wieder das Fenster auf und ruft):
Ottfried! -- Es war mir, als ob ich seinen Schritt hörte.
Hanna
(wie vorher):
Das klang ja beinah wie ein Hilferuf!
Schilling:
Mich beunruhigt nur, wenn sie nicht Bescheid wissen. Wir pflegen nämlich
fast jeden Morgen in die Gegend des Leuchtturms hinaufzugehn, oder
treffen uns an der Kirchhofmauer im Kloster, wo man einen umfassenden
Ausblick hat. Ich will nur, daß sie nicht auf mich warten.
Hanna:
Laß dich nicht stören, Gabriel, wenn du vielleicht eine Verabredung
hast.
Schilling
(gutmütig aufbrausend):
Wie? Was? Du spaßest wahrscheinlich, Hanna.
Hanna
(nach längerem Stillschweigen):
Ja -- um dir nun doch die Aufklärung einigermaßen zu geben, die ich dir
vielleicht schuldig bin: wir wohnen zur Kur in Breege auf Insel Rügen
drüben. Und zwar war ich letzten Freitag beim Arzt und er also hat uns
dorthin geschickt -- und da hörten wir auf dem Schiff ganz zufällig von
Ottfried Mäurer, daß er auf Fischmeisters Oye ist. Und da ich schon in
Berlin erfuhr, du bist mit Ottfried Mäurer zusammen, so wußt ich auch
deinen Aufenthalt.
Schilling
(mißtrauisch):
Der Arzt hat dich nach Breege geschickt?
Hanna:
Ich hatte wieder drei Tage lang Bluthusten.
Schilling
(nervös, als habe er selbst diesen Husten):
Menschenkind! Daß du nicht einmal gründlich Wandel schaffst! Es ist ja
horrend, was du armes, schwaches Geschöpf mußt durchmachen. (Er hat
impulsiv ihre Hand ergriffen. Leise macht sie sich los und nestelt ihren
Hut vom Kopfe.)
Hanna:
Und dabei kam ich eigentlich für den Arzt nicht einmal in Betracht. Ich
hatte ihm gar nicht von mir gesprochen.
Schilling
(streicht über das nun freigelegte Haar):
Und also von wem?
Hanna:
Ach, es betraf nur, du weißt, meinen Kleinsten. Es betraf nur ...
Schilling:
Den kleinen Gabriel?
Hanna:
Er kann sich noch immer nicht recht grade aufrichten.
Schilling
(verfinstert sich plötzlich und geht mit düsterem und verbittertem
Gesichtsausdruck auf und ab, nachdem er seine Hand von dem Scheitel
Hannas genommen hat):
Liebe Hanna, ich habe die Welt nicht gemacht. Es tut mir leid: ich bin
für die grausige Spaßhaftigkeit des Daseins nicht verantwortlich. Wenn
ich könnte, so würd' ich den kleinen, erbärmlichen armen Schlucker von
Jungen sofort gesund machen. Es ist mir unmöglich. Ich kann es
nicht! -- Ich habe Tage und Nächte gehabt ... es geht nicht! -- Hanna, ich
kann nicht mehr! -- Ich kann nur dem Fatum seinen Lauf lassen.
Hanna:
Es ist gut, daß das Fatum ist!
Schilling:
Wieso?
Hanna:
Man kann auf das Fatum vieles abwälzen.
Schilling
(schweigt, hält mit beiden Händen seine Schläfen und blickt, von
Hanna, abgehetzt, verzweifelt, gegen die Zimmerdecke; so stehend,
sagt er nach einer Weile):
Weshalb bist du gekommen, liebe Hanna?
Hanna
(wie vorher, ruhig, aber mit bebender Stimme):
Weil ich nicht ohne dich sein kann, Lieb.
Schilling
(aus gepeinigter Seele, wie unter einem neuen Peitschenschlag):
Das ist eine Lüge! Das glaub ich dir nicht!
Hanna
(sehr ruhig, sehr bleich):
Wieso ist das eine Lüge, Liebling?
Schilling
(nach einigem Stillschweigen, mit scheinbarer Festigkeit):
Hanna, dies alles liegt hinter mir. Ich bin soweit ... ich habe es
hinter mich gebracht ... mit Gottes Hilfe nun überwunden. Ich habe es
mit unendlicher Mühe, sag ich dir, endlich in den gehörigen Abstand von
mir gebracht. Es ist nicht anders. Es ist zu Ende!
Hanna:
Gut! (Sie erhebt sich.) Du bist gegen mich eingenommen durch irgendwen.
Irgendjemand, den ich nicht fassen kann, hat mich in deine Ohren
verleumdet. Gut! Ich werde dir aus dem Wege gehen. Obgleich ich nicht
weiß, womit ich gefehlt habe. Aber, Liebling, ich bitte dich, sofern es
dir irgend genehm sein sollte: nimm mir den marternden Schmerz der
nagenden Grübelei aus der Brust; gewähre mir, wenn es sein kann, die
eine letzte Gelegenheit, den Schandfleck von meinem Leibe zu waschen,
der ihn in deiner Erinnerung sonst für ewig entstellen wird: Wie habe
ich dich belogen, Liebling?
Schilling:
Frage, wo du mich nicht belogen hast! Ich gebe ja zu, daß es für eine
Frau, wie dich, für eine so geniale Frau nicht immer so absolut leicht
ist, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden. Aber laß das! Erpresse mir
diese bittren Bekenntnisse nicht! -- Es ist nicht schön, wenn die Leute
abrücken; glaube mir, es war kein erhabener Moment, als mir der erste
den Rücken kehrte -- dann der zweite, der dritte, der vierte Schlaukopf
im Künstlerklub. Das ist keine spaßhafte Überraschung, die einem da
widerfahren ist! Aber Teufel, was wäre mir schließlich das!? Auch daß
ihr beide, dein Herr Gemahl und du, mich in eure östliche
Schmutzfinkenwirtschaft eingewickelt habt, in eure kaltblütig vorher
abgekartete Trennungskomödie, ist es nicht! Eure Vorurteilslosigkeit
ließ das erwarten. Was aber hernach deine wunderbare Liberalität gegen
deine Landsleute dir tatsächlich noch möglich machte, das zu berühren
fehlt mir der Handschuh auf der Hand.
Hanna:
Verleumdung!
Schilling:
Richtig! (Er zündet die ausgegangene Zigarre wieder an und sagt kalt,
mit verändertem Ton): Sag mal, Hanna, wann wirst du abreisen!
Ihn überkommt nun plötzlich eine auffallende Gleichgültigkeit. Er
läßt sich auf das Sofa fallen, pafft, und scheint sich
ausschließlich seiner Zigarre zu widmen. Hanna dagegen schreitet
nun erregt im Zimmer umher.
Hanna:
Dies ist, wie mir scheint, hier ein Gasthaus für jedermann, der die
Zeche nicht schuldig bleibt! -- Ich werde reisen, wann mir's
beliebt. -- Ich werde keinesfalls vor dem morgenden Tage abreisen! --
Schon deshalb nicht; ich habe eine Freundin aus Rußland mit und kann
mich unmöglich lächerlich machen.
Schilling:
Warum hast du die Freundin mitgebracht?
Hanna:
Warum lebst du denn hier mit deinen Freunden? -- Mir liegt nichts an ihr,
ich brauche sie nicht. Nun also: Sie hat sich an mich gehangen, sie ist
ohne Bekannte in Berlin; -- sie ist eine harmlose kleine Person; und ich
bin ein Weib, von allen verlassen. (Sie steht am Fenster und weint
leise.)
Schilling
(nach längerem Stillschweigen, leise):
Ich rate dir, wieder zu deinem Mann zu gehn.
Hanna
(fährt auf, mit leidenschaftlicher Heftigkeit):
Nie! Niemals! Warum sagst du das, Gabriel? Wo du doch weißt, wie bis ins
Herz hinein mich das kränkt. Ich habe nichts mehr mit ihm zu tun. Ich
werde mit meinem Kind trockenes Brot essen, aber niemals werd ich auch
nur einen Pfennig bei ihm erbitten gehn. Viel lieber selbst nach Odessa
zurück und von dort mit dem Kinde im Arm nach Sibirien.
Schilling
(erhebt sich, seufzt tief und geht umher.)
Hanna:
Ihr quält eine Frau, das vermag nur der Deutsche!
Schilling:
Gut, Hanna, nehmen wir das mal an! -- Jetzt sei so gut, Hanna, beruhige
dich! Ja? Laß deinen bewährten Verstand mal aufleuchten! -- Laß mich!
Verfolge mich einige Wochen, einige Monate lang nicht! Die Sache ist
die: ich bin nicht mehr ich! Mein ganzes Wesen, meine ganze
ursprüngliche Art zu sein, ist durch das Leben mit dir umgebildet;
glaube mir, daß ich mir selber entfremdet bin. Ich bin alledem entrückt
und entfremdet worden, womit und wozu ich geboren bin, und wodurch ich
allein existiere und wachse. Das hab ich verloren, das suche ich nun.
Und dazu muß ich allein sein, Hanna. Ich muß mich besinnen, ich muß
blindlings fast wieder zum Kinde werden! Erst wieder neu gehen lernen,
genau wie ein Kind!
Hanna:
O, ich weiß wohl; ich kenne die ganze Intrige. Ich kenne den Mann, der
ihr Urheber ist. -- Er hat mich gemieden von Anfang an; schon als du uns
das erstemal vorstelltest, wußte ich gleich, er ist mein Feind. -- Nun,
ich verlange von ihm nicht Gerechtigkeit -- aber wenn er behauptet, und
wenn er sagt, er wolle dein Bestes mehr als ich ... wenn Ottfried Mäurer
das sagen will, Gabriel, so achte ich diese niedrige Lügen auch nur im
allergeringsten nicht!
Schilling
(preßt ihr Handgelenk, wird von einer anderen Empfindung mehr und
mehr überwältigt):
Verstehe! Begreife, geliebte Hanna! Ich möchte schreien ... ich möchte
dir klar machen ...
Hanna:
Und ich wünschte, ich wäre weit fort von hier!
Schilling
(in heißer Umarmung):
Bleib! Bleib! Verzeih mir, geliebte Hanna!


Dritter Akt

Zwischen zwei Sandhügeln zieht sich ein breiter Feldweg nach dem
Hintergrunde zu, zwischen anderen Hügeln, gegen das Meer hin
verschwindend. In dem Winkel, den die ferneren Hügel bilden, steht
die See als tiefblaue Wand. Darüber das hellere Blau des
wolkenlosen Himmels. Rechts vom Wege, im Vordergrund, liegt ein
wenig höher hinauf ein Kirchhof; ein Teil seiner niedrigen
Umfassungsmauer ist sichtbar, über die Mauer ragt ein altes
Kruzifix. Ziemlich weit vorn steht, in die Mauer eingebaut, die
kleine alte, mit Schindeln bedeckte Leichenhalle. Außer einem
zerzausten Hollunderstrauch an der oberen Ecke, außerhalb der
Mauer, zeigt sich keine Vegetation. Nahe bei diesem
Hollunderstrauch ist aus vier Pfählen und einem Brett vor Jahren
eine Bank errichtet worden, die stark verwittert, noch steht. Links
vom Wege liegt ein imposantes, aber stark verfallenes Mauerwerk,
Reste eines alten Klosters. Das besterhaltene Stück ist ein
Torbogen aus braun-rötlichen Ziegelsteinen. Einige sehr alte
Pappeln und Eschen erheben sich dahinter. Etwas romantisch Düsteres
liegt über diesem Gebiet.
Nicht mehr als zwei Stunden sind vergangen seit den Geschehnissen
im zweiten Akt.
Lucie liegt unweit der kleinen Bank lesend im Thymian. Mäurer kommt
vom Meer her den Weg hervor und zu ihr.
Mäurer:
Bravo! Du bist noch allein, Schusterchen. Puh! Ich fürchtete, es würde
womöglich um dich her schon russisch gesprochen. Eine verfluchte
Geschichte ist das!
Lucie:
Ich glaube, der arme Schilling mit seinen Damen kommt nicht, er fürchtet
sich.
Mäurer:
Wie kann man um Gottes willen ein Weib so wenig im Kusch halten, daß sie
einem wie eine Bracke überall auf der Fährte liegt! Die ganze Insel ist
mir verleidet. Sie hat längst, kannst du mir glauben, die Witterung, daß
wir mit Schilling etwas vorhaben. Das muß sie durchkreuzen. Davon hält
sie kein Anstandsgefühl und nichts in der Welt überhaupt zurück. -- Aber
sie kann ganz sicher sein, ich habe mir das jetzt auf meinem Gange alles
durchüberlegt -- sie hat in mir einen zum letzten entschlossenen Gegner
gefunden. Diese Beute jag ich ihr ab.
Lucie:
Vielleicht steht es gar nicht so schlimm, wie du denkst, Ottfried, und
Schilling hat Energie genug für sich allein.
Mäurer:
Sobald sich's um Energie handelt, trau ich ihm nicht. Nein! Besonders
jetzt nicht. Da dürfte doch ein sehr entschiedenes Nachhelfen unbedingt
nötig sein; daran soll es nicht fehlen, ich werde schon nachhelfen.
Aber, ob es gegenüber ihrer überlegenen weiblichen Strategie und ihrem
Arsenal gegenüber was nützen kann, weiß ich nicht.
Lucie
(lacht):
Du wirst sie mir schließlich noch ganz interessant machen.
Mäurer:
Daß sie interessant ist, leugne ich nicht. Ich muß sogar manchmal an
Goya denken. Ich kann mir ohne Schwierigkeit vorstellen, daß sie dort
oben (er weist auf den Kirchhof) hinter der Mauer zu Hause ist, in
Gräbern haust und in Ewigkeiten verurteilt sein könnte, sich durch
heißgesogenes Männerblut für ein grausiges Scheindasein aufzuwärmen.
Lucie
(lachend):
Wenn das wahr wäre, müßte man ihr verzeihn.
Mäurer:
Durchaus nicht. Ich hätschele keine Gespenster.
Lucie:
Wenn ich dir nun aber sage, Ottfried: ich weiß nicht, wieso mir hier
alles gespenstisch ist; das Meer am Tage, das ununterbrochene Wuchten
und Brausen der Brandung die ganze Nacht! Die Sterne, die Milchstraße
ist mir gespenstig! Und ich freue mich, daß alles hier so gespenstig
ist! Deshalb lieg ich auch hier an der Mauer so gerne.
Mäurer:
Ich kann dir eine andre Empfindung zugeben, die den meisten Menschen
abhanden gekommen ist: das klare Gefühl, das sich hier ununterbrochen
meldet, daß hinter dieser sichtbaren Welt eine andre verborgen ist. Nahe
mitunter, bis zum Anklopfen. Dieses Gefühl soll dir, wenn du das meinst,
erlaubt sein, Schusterchen. Im übrigen aber bin ich für dich
verantwortlich, und ich habe eigentlich, als ich dich mit hierher nahm,
nicht den Gedanken gehabt, dich in trübe Vorstellungskreise
zurückzuverwickeln.
Lucie:
Du meinst, daß mir das Träumen von Mutter was Trübes ist?
Mäurer:
Mit offenen Augen soll man nicht träumen; am hellichten Tage träumt man
nicht. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, daß alle diese Gespenster
Blut trinken. Und das auf die Dauer auszuhalten, haben wir alle nicht
Blut genug.
Lucie:
Du irrst dich, wenn du meinst, daß mir der eigentümliche Zustand, dem
ich so gern hier nachhänge, schädlich ist. Er wirkt angenehm; er ist mir
wohltätig. Es ist ungefähr so, als wenn jemand durch eine Tür in
unbekannte Räumlichkeiten gegangen ist, und während die Tür sich öffnet
und schließt, folgt man ihm mit dem Blick und der Seele ein Stück ins
Unbekannte hinein.
Mäurer:
Ich weiß, wie sehr dieser Zustand verlockend ist ... dieser
Zwischenzustand, könnte man sagen, wo das Schemenhafte sich überall ins
reale Leben mischt; wo man mit einem Fuß auf der Erde steht und mit dem
andern im Übersinnlichen. Und doch schaudert der Mensch vor dem Eindruck
von Todesfällen und den damit verknüpften aufwühlenden Folgezuständen
ganz vernünftigerweise zurück.
Lucie:
Es ist mir heiter, es ist mir nicht aufwühlend. Ich wiege mich einfach
in dem bestimmten Bewußtsein, daß ich mit Mutter verbunden bin. -- Es hat
außerdem alles um mich etwas eigentümlich Interimistisches. Ich weiß
nicht, ich glaube nicht, daß das alles: das Rauschen, das Licht, das
Lerchengetriller endgültig ist.
Mäurer
(legt den Arm um Lucie):
Aber hoffentlich sind wir beide endgültig.
Lucie:
Meinst du, Liebster? Ich weiß es nicht! (Er küßt sie inbrünstig.)
Mäurer:
Dich nehm ich in alle Ewigkeit über alle Fixsterne und Planeten des
Weltalls mit.
Lucie:
Wirklich?
Mäurer:
Was hast du denn eigentlich, Lucie?
Lucie:
Nichts. (Sie sieht ihn mit großen, feuchten Augen grade an): Ich denke
nur manchmal -- man sieht es zum Beispiel auch in der Sache mit
Schilling -- daß wenn bei dir Liebe und Kunst in Konflikt kommen, daß dir
dann die Kunst das vor allem Wichtige ist.
Mäurer:
Ja, aber bei uns gehen sie Hand in Hand, kleines Liebchen.
Lucie:
Hat diese Hanna nicht vor zwei Jahren noch einen Sohn gehabt?
Mäurer:
Sie behauptet sogar von Schilling.
Lucie:
Nun, und?
Mäurer:
Jawohl, es kann ganz gut möglich sein. Es ist ein entzückender blonder
Strunk; nur leider, wie's scheint, nicht recht lebensfähig.
Lucie:
Na, und Schilling?
Mäurer
(zuckt mit den Achseln):
Er hat mir die Photographie gezeigt. -- Das Schicksal eines Kindes, Lucie,
ist während der ersten Jahre die Mutter. Sie vernachlässigt es, weil sie
lieber Tee trinkt und in Wiener Cafés mit verlumpten Studenten
kannegießert. Wenn sie es braucht gegen Schilling, denkt sie daran. Ich
wundre mich überhaupt, daß sie diesmal auf den Effekt, mit dem Kindchen
im Arm als verlassene Mutter aufzutreten, verzichtet hat.
Lucie:
Eigentlich bist du sehr hart -- doch ich hab dich lieb, Ottfried.
Mäurer
(lacht):
Dafür bin ich dann auch ein Dauerspielzeug. -- Oder ist es nicht wahr,
daß ihr, wie Kinder, was ihr liebt, am liebsten zunichte macht?
Lucie:
Pst, Ottfried! Sie kommen. Wir wollen ihnen um Schillings willen
entgegengehn.
Mäurer:
Ungern, äußerst ungern, Schusterchen.
Auf dem Wege im Hintergrunde tauchen Köpfe auf. Schilling, Hanna
Elias und Fräulein Majakin. Lucie ist elastisch aufgesprungen,
Mäurer erhebt sich langsam und widerwillig, geht aber, nachdem er
sich abgeklopft hat, mit Lucie den Ankommenden entgegen.
Schillings Stimme:
Kuui!
Mäurer antwortet nicht im Weiterschreiten. Im Hintergrund findet
dann die Begegnung statt. Von der Begrüßung sieht man die
Verbeugungen und hört undeutliche Stimmen. Wiederum fliegt eine
Möve von links hinten nach rechts vorn durch das Dünental über den
Kirchhof. Nach einiger Zeit lösen sich Mäurer und Fräulein Majakin
aus der Gruppe und kommen nach vorn. Die übrigen bewegen sich in
der Ferne die Hügel links hinauf, stehen einige Zeit in den
Anblick des Meeres versunken und verschwinden dann aus dem
Gesichtskreis.
Mäurer:
Sie kennen Frau Hanna Elias schon lange?
Fräulein Majakin
(langsam und überlegt redend, in der Aussprache die Russin
verratend):
Oh nein! Ich kenne sie erst seit kurze Zeit. Wir trafen zusammen auf
eine Sitzung in Berlin dieses Frühjahr von die letztverwichene große,
internationale Frauenkongreß. Mein Vater ist Arzt, meine Mutter ist tot.
Ich reise schon seit vier Jahren mit meinem Papa in Europa umher. Er hat
seine ... wie man sagt? Praxis? -- er hat seine Praxis aufgegeben.
Mäurer:
Ich war der Meinung, Ihre Bekanntschaft mit Frau Hanna datiere sich
schon von Rußland her.
Fräulein Majakin:
Oh nein! Wie gesagt, erst seit kurze Zeit. Aber ich bewundre sehr Frau
Hanna, ich verehre ihr sehr, ich liebe ihr sehr. Ich finde, sie ist eine
Frau von Bedeutung, sehr überraschend, sehr wunderbar interessant und
klug.
Mäurer:
Worin sehen Sie ihre Bedeutung, mein Fräulein?
Fräulein Majakin:
Ich liebe nicht Frauen, die Sklavinnen sind, und die sich ihr Recht am
Dasein verkümmern lassen. Ich verehre ihr sehr, ich verdanke sie viel.
Ich kann beinah sagen, sie hat mir zu eine neue Religion ... zu die
Religion von Schönheit verholfen.
Mäurer:
Haben Sie denn in Rußland nicht solche Frauen massenhaft?
Fräulein Majakin:
Nein. Wir haben Frauen, sie sprechen den ganzen Tag von die Politik und
gar nicht von Kunst. Sie sind oberflächlich. Man sieht selten sie
fasziniert von Kunst. Und es ist sehr schön zu bemerken, wie sehr
fasziniert von die große Kunst von Professor Schilling Frau Hanna ist.
Mäurer
(mit einem sardonischen Lächeln, das liebenswürdig sein soll):
Tja! Das ist sehr hübsch, was soll man da sagen? -- Und Sie haben nun
also die Religion von Frau Hanna auch in sich aufgenommen? Was?
Fräulein Majakin:
Nun, ich bin leider noch jung und sehr ungelehrt. Ich kann mir natürlich
nur wenig von ihre Verständnis anmaßen. Sie müssen mit mir, wenn ich
bitten darf, nachsichtig sein. Aber ich habe sogleich in die
Nationalgalerie begriffen, daß Professor Schilling ein großer Künstler
ist.
Mäurer:
Wo haben Sie das begriffen, mein Fräulein?
Fräulein Majakin:
In das Museum zu Berlin, wo mir Frau Hanna so freundlich war und hat mir
vor die berühmte Werke von Professor Schilling geführt.
Mäurer:
Ich glaube, wenn Sie das mal dem guten Schilling sagen, daß er Professor
ist und Werke in der Nationalgalerie hat, würden Sie ihm einen
diebischen Spaß machen.
Fräulein Majakin:
Wie sagen Sie?
Mäurer:
Nichts. Es war weiter nichts.
Fräulein Majakin:
Es ist schade um diesen bedeutenden Menschen.
Mäurer
(nachdem er sie verdutzt eine Weile von der Seite angesehen hat):
Das stimmt vielleicht. Ich hoffe indes, daß es noch nicht zu spät mit
ihm ist. Woher kommt Ihnen aber die Einsicht, mein Fräulein?
Fräulein Majakin:
Oh, es ist nicht so schwer, in seine fieberhaft peinvolle Augen zu lesen
und in die Linie von sein schweres Leiden in seine schönen, verfallenen
Gesicht.
Mäurer
(beinah erschrocken):
Meinen Sie, daß er körperlich leidend ist?
Fräulein Majakin:
Von seine psychische Leiden spreche ich begreiflicherweise nicht.
Mäurer:
Nun, es macht mir eigentlich jedesmal Spaß, wenn Leute über Schilling
erschrecken. Es geschieht nämlich meistens, wenn sie ihn sehen, beim
erstenmal. Schon vor achtzehn Jahren sah Schilling so aus. Er selbst
pflegt immer den Witz zu machen, man könne durch dunkle Ringe um beide
Augen die Welt viel genauer und gründlicher sehn.
Fräulein Majakin
(ohne darauf einzugehen):
Denken Sie, ich habe mir nach die Radierungen, die ich sehr liebe, in
die Kupferstichkabinette zu Petersburg von Ihre Person, Herr Professor,
auch eine solche Idee gemacht.
Mäurer:
Wieso? Sie kennen meine Radierungen?
Fräulein Majakin:
Oh, ich habe sie schon im zwölften, dreizehnten Jahr durch meinen Papa
in die russischen Sammlungen kennen gelernt.
Mäurer:
Wenn Sie einen solchen Papa haben, brauchen Sie doch eine Hanna Elias
nicht!
Fräulein Majakin:
Ich habe gedacht an eine lange, bleiche Gestalt mit kohlschwarze Augen
und dünne Lippen, an einen Mensch, der vor die viele große und
furchtbare Visionen wie von eine Fieber ausgehöhlt und gefoltert ist.
Und nun sehe ich eine gesunde Gelehrten.
Mäurer
(zuckt mit den Achseln, lacht):
Ja, so geht's einem, Fräulein, wie das so ist. Man muß nie den
unverzeihlichen Fehler begehn, seinen Idealen zu nah auf den Leib zu
rücken.
Sie sind während der Unterhaltung, zuweilen stehend bleibend,
zuweilen schreitend, zu der kleinen Bank an der Mauer gelangt.
Mäurer:
Aber, bitte, wenden Sie nun Ihren Blick von dem unschuldigen Gegenstand
Ihrer Enttäuschung einmal ab und betrachten Sie unsre wundervolle
Umgebung.
Fräulein Majakin:
You have read 1 text from German literature.
Next - Gabriel Schillings Flucht: Drama - 4
  • Parts
  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 1
    Total number of words is 3976
    Total number of unique words is 1409
    40.2 of words are in the 2000 most common words
    51.8 of words are in the 5000 most common words
    57.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 2
    Total number of words is 4020
    Total number of unique words is 1514
    38.2 of words are in the 2000 most common words
    50.4 of words are in the 5000 most common words
    55.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 3
    Total number of words is 4109
    Total number of unique words is 1380
    43.3 of words are in the 2000 most common words
    55.7 of words are in the 5000 most common words
    60.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 4
    Total number of words is 3944
    Total number of unique words is 1375
    42.8 of words are in the 2000 most common words
    54.9 of words are in the 5000 most common words
    61.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 5
    Total number of words is 3979
    Total number of unique words is 1296
    43.0 of words are in the 2000 most common words
    55.1 of words are in the 5000 most common words
    60.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gabriel Schillings Flucht: Drama - 6
    Total number of words is 2644
    Total number of unique words is 1057
    40.1 of words are in the 2000 most common words
    50.6 of words are in the 5000 most common words
    56.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.